"Wahrheit ist ewig nur eine, doch siehet sie jeder verschieden.
Daß es eines doch ist, macht das Verschiedene wahr."
Friedrich Schiller

  Juli 2006 Veranstaltungen

Experiment geglückt!

Dialog der Kulturen. Nichts eignet sich zur Verständigung unter den Menschen besser als Poesie - die "Muttersprache des Menschengeschlechts" (Friedrich Rückert). Am letzten Samstag ließen die Wiesbadener "Dichterpflänzchen" für ein türkisch-deutsches Publikum klassische türkische Gedichte aus sieben Jahrhunderten lebendig werden.


Das Wiener Paradox
Orient und Okzident

Projekt Renaissance

Schon seit einigen Jahren widmet der Poesiekreis im Schiller-Institut sich nicht nur der klassischen deutschen Dichtung, sondern auch dem poetischen Dialog mit anderen Kulturen. Es fing an mit Goethes West-Östlichem Divan und Friedrich Rückerts genialen Übertragungen aus der arabischen, persischen, chinesischen und altindischen Dichtung. Ein erster Höhepunkt war 2003 das Festival persischer und deutscher Dichtung in Düsseldorf und Wiesbaden; es folgte ein Ausflug in die indische klassische Poesie, und nun ließen die Dichterpflänzchen sich durch die einfühlsamen Übertragungen der verstorbenen Orientalistin Annemarie Schimmel in den Bann der klassischen türkischen Dichtung ziehen. Es war ein großes Glück, daß sie dabei Dr. Özgür Algin kennenlernten, den begabten Leiter des Vereins für Kultur, Bildung und Kunst in Wiesbaden, der durch seine wohltönenden Zwischenspiele türkischer Kunstmusik auf der Baglama das Projekt erst richtig zum lebendigen Dialog werden ließ. (Überdies stellte sich heraus, daß einer der rezitierten Dichter, Ibrahim Hakki Erzurumlu, ein Urahn von ihm ist.)

"Meine Liebe reicht über's Herz hinaus" - der Titel der Veranstaltung am 6. Mai 2006 in Wiesbaden, ist einer Gedichtzeile des ersten und berühmtesten Dichters der Türkei, Yunus Emre, entnommen. Lutz Schauerhammer, der das Skript verfaßte, führte auch selbst als "Meddah" oder Geschichtenerzähler durch sieben Jahrhunderte türkischer Dichtung und stellte jeweils den Bezug zur deutschen Literatur und Geschichte her. Yunus Emre war ein wandernder Derwisch im 13. Jh., der von seiner Liebe zu Gott und der Schöpfung, von seiner Sehnsucht und Hoffnung sang. Das haben vor ihm und nach ihm viele getan, aber keiner in so rührender Süße und ergreifender Einfachheit. Sein Türkisch ist heute leichter zu verstehen als die Sprache vieler türkischer Dichter, die nach ihm kamen. Und dank Annemarie Schimmel gehören viele seiner Lieder heute zum Schatz deutschsprachiger Weltpoesie.

Bist du denn fremd hierhergezogen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Und hast ermattet dich verflogen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall...

Die Nachtigall ("Gülgül" auf türkisch wie auf persisch) ist auf der ganzen Welt ein Bild für den Dichter: schon bei den alten Griechen, bei den orientalischen Dichtern, in Europa bis hin zu Lessing, Heine oder Andersens Chinesischer Nachtigall. Nach dem letzten Refrain "Ach, warum weinst du, Nachtigall?" spielte Özgür Algin auf seiner Baglama die Melodie der türkischen Vertonung von Yunus Emres Lied. Später, nach der Pause, erklang eine deutsche Vertonung des Gedichts von Werner Hartmann: ein Duett, komponiert für diese Veranstaltung, das er zusammen mit seiner Frau Lotta vortrug, am Klavier begleitet von Ortrun Cramer. Die Wirkung eines solchen poetisch-musikalischen Dialogs kann man nicht beschreiben, nur selbst erleben.

Wenn Yunus Emre von Gott singt und ihn überall ruft, mit Vögeln, Fischen und allen Propheten, dann überrascht den Nichtmuslim vielleicht diese Strophe:

...Mit Jesus, hoch im Himmelsland,
Mit Moses an des Berges Rand,
Mit diesem Stab in meiner Hand
Will ich die rufen Herr, o Herr!

Ein drittes Gedicht von Yunus Emre über das Paradies, wo Flüsse, Bäume, Rosen und mondlichtstrahlende Huris alles immer mit dem einen Wort "Allah" ausdrücken, sang Özgür Algin anschließend als türkisches Lied.

Das Wiener Paradox

Die vollständige Liste der rezitierten Gedichte können Sie im Internet abrufen (www.deutsche-liebeslyrik.de/osmanisch/osmanisch.htm), denn der Platz reicht nicht hin, um mehr als einige zu nennen: Hacci Bayrams Was hat denn mein Herz? etwa, oder Süleyman Celebis Eingangsgebet aus dem großen religiösen Epos Mevlüd. Diesem Lob Gottes als Schöpfer der Welt stellten die Dichterpflänzchen abendländischerseits den Sonnengesang Franz von Assisis an die Seite und natürlich Mahomets Gesang von Goethe. Der deutsche Dichter würdigt den Propheten im Bild des Stromes, der als kleine Quelle beginnt und dann als Strom alles mitnimmt zu dem "alten Vater, zu dem ew'gen Ozean" - eine alte Metapher aus dem 10. Jh.

Hier fragt der Meddah: "Wie konnte ein deutscher Dichter so ein Gedicht schreiben?" Er erhält die Antwort: "Weil die Türken seit Anfang des 16. Jh. vor Wien standen!"

Das will man nun erst einmal gar nicht glauben, es ist aber doch so. Denn die an das Osmanische Reich angrenzenden Länder verstärkten damals nicht nur ihre militärische Verteidigung, sondern vernünftigerweise auch ihre diplomatischen und kulturellen Anstrengungen. In Österreich lernte und lehrte man bald Arabisch, Persisch und Türkisch, man studierte die Geschichte und Kultur des Osmanischen Reiches. Ein besonderer Glücksfall war das Auftreten eines Diplomaten mit poetischer Ader: Josef Freiherr von Hammer-Purgstall erschloß dem deutschsprachigen Teil Europas die osmanische Poesie. Metternich verhinderte zwar, daß er Wiener Botschafter in der Osmanischen Hauptstadt wurde und sagte ihm ins Gesicht: "Solange ich Minister bin, kommen Sie nicht nach Konstantinopel. Ich kann bei den von mir auf Ministerposten verwendeten Subalternen weder vorzüglichen Geist noch ausgezeichnete Kenntnisse brauchen, ich brauche charakterlose Maschinen." Nicht verhindern konnte Metternich allerdings, daß Hammer-Purgstall die Werke von 2 200 türkischen Dichtern übersetzte und in sechs Bänden und zudem eine zehnbändige "Geschichte des Osmanischen Reiches" veröffentlichte. Goethe las seine Übersetzung von Hafis' Divan und ließ sich davon zum West-Östlichen Divan inspirieren, und vielleicht auch zu Mahomets Gesang. So haben die Türken zwar nicht Wien erobert, dafür aber einen Brückenkopf in der deutschen Dichtung!

Orient und Okzident

Noch weitere Überraschungen, wie vorher für die Vortragenden nun für das Publikum, sollten folgen: Oder wußten Sie, daß der schöne Yussuf aus der lyrischen Erzählung des persischen Dichters Dschami, Yussuf und Suleika, die auch dem türkischen Dichter Hamdi als Vorlage diente, unser biblischer Josef ist? Ja, der Josef, den seine Brüder erst in eine Grube werfen und dann als Sklaven nach Ägypten verkaufen, wo er es bis zum Berater des Pharaos bringt. Suleika aber ist die Frau von Yussufs erstem Dienstherrn Potiphar, die sich in verbotener Liebe zu dem schönen Jüngling verzehrt. Moses erzählt die Geschichte mehr von Josefs Warte aus, während Hamdi schildert, was Suleika durchmacht...

Überhaupt gibt es Ost-West-Parallelen noch und noch: Der unsterbliche Narr Nasreddin Hoca ist das türkische Gegenstück zum deutschen Till Eulenspiegel, und je eine Anekdote über die beiden durfte natürlich nicht fehlen. Auch der Umgang mit dem mal verbotenen, mal erlaubten "Türkentrank", dem Kaffee, war im Abend- und Morgenland ähnlich inkonsequent, und daher komisch. Hier paßte nicht nur Eugen Roths einsichtsvolles Gedicht Der starke Kaffee, sondern auch Mozarts Kanon C-A-F-F-E-E und ein Zitat aus J.S. Bachs Kaffeekantate. Viel Anklang fand auch ein Gedicht über die Eßlust von Kaygusus Abdal, der von "hundertfünfzigtausend Fladen", "sechzigtausend Zickelein", Blätterteig und Baklava schwärmt - so daß es einfach nicht anders ging, als in der Pause ein Blech köstlich-süßes Baklava auszuteilen!

Überraschendes erfuhr man übrigens auch über die neuere türkische Dichtung. Im 18. und 19. Jh. orientierte sich die türkische Dichtung immer stärker an westeuropäischen Vorbildern: erst am Hof Ludwig XIV., später an den Romantikern, Existentialisten usw. Lange Zeit waren die alten religiösen Metaphern Yunus Emres verpönt, man hatte mit der eigenen klassischen Kultur gebrochen. Aber in der Dichtung des 20. Jh. tauchen sie wieder auf. Yahya Kemal Beyatli etwa, der 1958 starb, stellt seine Kunst in die Tradition des Dichtervaters der persischen wie der türkischen Poesie, Mevlana Dschelaladdin Rumi:

Flöte, zu den Sphären tragend
Seiner Dichtung Sehnsuchtsruf:
Gleichen Hauches mit Mevlana
Bis zum Jüngsten Tag sind wir...

Voller Sehnen nach der Sonne
Von Tabriz - im Wirbeltanz
Werden wir Mevlanas Schwinge,
sind Mevlanas Feder wir.

Projekt Renaissance

Türken und Deutsche, sie hörten es gerne; das spürte man nicht nur an der atemlosen Aufmerksamkeit und dem herzlichen Applaus, den Özgür Algin mit einer virtuosen Zugabe auf seiner Baglama belohnte. Ein türkischer Arzt, der mit seiner Frau und zwei jungen Töchtern gekommen war, bedankte sich am Ende: "Das war Medizin für meine Seele." Und die deutschen Zuhörer, die all diese Edelsteine in der Fassung ihrer eigenen Muttersprache genießen konnten, drückten ebenfalls ihre Freude aus. Was ist das doch für eine wunderbare Sprache, die für alle diese Kostbarkeiten die passenden Worte, Klänge, Bilder und Reime hat! Dies ist nicht selbstverständlich, es gilt nicht für jede Sprache, denn dahinter stecken ja die Bemühungen unzähliger Sprachforscher, Übersetzer, Dichter, Lehrer über viele Jahrhunderte hinweg.

So können wir uns heute daran erfreuen, wenn der Dichter Nedschati im 15. Jh. den schöpferischen Menschengeist liebevoll als "wahres Gotteslicht", "süßen Quell" und "Moschusreh" bezeichnet. Nedschati schrieb ein Lobgedicht auf das geschriebene Wort, das in schwarzen Tuschezeichen die Ideen der Dichter festhält, damit andere begeisterte Menschen sie später wieder zum Leben erwecken können. Wenn viele Menschen das tun, entwickelt sich daraus eine Renaissance.

Diese Renaissance-Idee gab der "Meddah" dem Publikum am Ende mit auf den Weg: "Wenn Sie im Dialog stetig mehr vom anderen erfahren, dann werden Sie durch die Beschäftigung mit der fremden Kultur ihre eigene erst richtig kennen und schätzen lernen. So war das schon immer in der Geschichte, und so wird es auch bleiben. Mit dieser Methode entstanden ganz neue Gesellschaften, blühende Kulturen, so bauten Menschen die Renaissance - die islamische wie die italienische. Legen Sie durch Ihr Mitwirken am Dialog der Kulturen den Grundstein für eine neue Renaissance!"

mha

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