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  Bildungspolitik

Die moralisch-philosophischen Grundlagen der Nationalökonomie

Von Helga Zepp-LaRouche


Das oligarchische Modell
Von Solon zur Renaissance
Allgemeinbildung
Die Bedeutung des Nationalstaates
Das Humboldtsche Bildungssystem
Schillers "schöne Seele"


Angestoßen durch die globale Wirtschaftsdepression und die fortgeschrittene Auflösung des Weltfinanzsystems findet seit einiger Zeit in gewissen Kreisen des Establishments eine -- allerdings nur gelegentlich an die Öffentlichkeit dringende -- Debatte darüber statt, wie die Weltordnung nach dem Zusammenbruch des Systems aussehen soll.

In einer Reihe von Presseartikeln ist behauptet worden, der Sozialstaat, wie er sich im 20. Jahrhundert entwickelt hat, könne künftig nicht mehr finanziert werden. Statt dessen müßten faschistische Diktaturen im Hitlerschen Stil her oder andere gesellschaftliche Veränderungen entsprechend dem "asiatischen Modell". So schrieb Lord Rees-Mogg in der Londoner Times, in der künftigen "Informationsgesellschaft" könne alles notwendige Wissen von 5 Prozent der Bevölkerung produziert werden, und deshalb lohne sich eine Allgemeinbildung für 95 Prozent der Bevölkerung nicht mehr.

Außerdem haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung der Nachkriegsordnung von Jalta mit ihrer Einteilung der Welt in Blöcke Bemühungen eingesetzt -- angefangen bei Margaret Thatcher mit der Einfädelung von "Operation Wüstensturm" --, den Apparat der UNO praktisch zu einer Weltregierung umzubilden. Heute ist der Tag nicht mehr weit, an dem die UNO ein neues Imperium darstellt, in dem Weltbank und Internationaler Währungsfonds als "Prokonsuln" fungieren, die unter völliger Mißachtung der nationalen Souveränität der betreffenden Länder versuchen, das bankrotte Finanzsystem aufrechtzuerhalten.

Die gegenwärtige Zusammenbruchsphase, in der die Auflösung der Sowjetunion lediglich ein Teilabschnitt war, ist mit dem Ende früherer "Dynastien" vergleichbar, jedoch wirkt sich dieser Prozeß erstmals in der Geschichte der Menschheit weltweit aus und betrifft infolge der engen Vernetzung des Planeten durch Kommunikation, Verkehrsmittel und Wirtschaftsbeziehungen alle Gegenden der Welt.

 

Das oligarchische Modell

Der Konflikt, der nun deutlich wird, ist der unversöhnliche Antagonismus zwischen den souveränen Nationalstaaten, wie er sich in der europäischen Zivilisation seit dem 15. Jahrhundert entwickelt hat, einerseits und den alten imperialen Formen, wie sie seit den Frühkulturen Mesopotamiens bekannt sind, andererseits. Dieses "babylonische" -- oder auch "oligarchische" -- Modell hat die Geschichte der europäischen Zivilisation bis auf den heutigen Tag beeinflußt. Das Persische Reich, das Römische Reich, Byzanz, das Heilige Römische Reich, das Habsburgerreich, Portugal, die Niederlande, das britische Imperium, Frankreich unter Napoleon Bonaparte und Napoleon III. oder das britische Commonwealth von heute folgen alle dem "oligarchischen Modell", das auf Babylon zurückgeht.

Dieses imperiale Modell hatte zwei Varianten: entweder gab es einen dominierenden Landadel oder, wie etwa im alten Tyros, im Stadtstaat Venedig oder in Britannien, eine städtische Finanzoligarchie übte die Kontrolle aus. In allen diesen Systemen herrschte eine kleine oligarchische Machtelite über die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die absichtlich rückständig gehalten wurde. Immer spielte eine Reihe von Familien die Führungsrolle und sicherte ihre Privilegien durch Wucherzinsen oder andere Mittel parasitärer Ausbeutung.

In seinem Aufsatz "Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon" beschreibt Friedrich Schiller Sparta, eine Stadt nach dem oligarchischen Modell, deren effiziente Staatsorganisation auf den ersten Blick sehr attraktiv erscheint. Bei näherer Untersuchung stellt sich aber heraus, daß alles dem Staat geopfert wird, während das Individuum keinen Wert hat. Die herrschende Elite darf sogar die Heloten umbringen, wann immer sie es will.

 

Von Solon zur Renaissance

Schiller stellt diesem oligarchischen Sparta-Modell die Staatsordnung Athens gegenüber, wo der weise Solon die Gesetzgebung so gestaltete, daß alles, was im Staat geschieht, dem wahren Zweck der Menschheit dient -- ein Zweck, den er als "Fortschreitung" definiert. In anderen Schriften beschreibt Schiller das Ideal der Menschheit so: Der Mensch schöpft sein Potential nur dann aus, wenn er alle in ihm liegenden Gaben und Fähigkeiten weitestmöglich entwickelt, und wer das auf vollkommene Weise tut, ist ein Genie.

In der europäischen Geschichte hat das Christentum zwar die Gleichheit aller Menschen vor Gott begründet, wie es das Naturrecht vorsieht, und es wurde auch verstanden, daß die Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen durch seine schöpferische Vernunft entsteht, doch es dauerte noch sehr lange, bis diese Ideen politisch wirksam wurden.

Mit Ausnahme bedeutender Entwicklungsstadien während der karolingischen Renaissance und bei der Gründung der städtischen Universitäten im 12. Jahrhundert wurden meistenteils 95 Prozent der Bevölkerung praktisch in Sklaverei, Knechtschaft oder Leibeigenschaft gehalten und hatten bis zur italienischen Renaissance des 15. Jahrhunderts keinerlei Bildungschancen.

Mit dem Menschenbild der Renaissance und den Reformen Ludwigs XI. in Frankreich entstand der souveräne Nationalstaat. Erstmals wurde das Individuum durch das republikanische repräsentative System in die Lage versetzt, an der Regierung teilzuhaben. Möglich wurde dies, weil mehrere Lehrorden, vor allem die Brüder vom Gemeinsamen Leben, das Erziehungswesen revolutioniert hatten, indem sie einen wachsenden Teils der Bevölkerung, vor allem Waisen und Jungen aus armen Familien, in die gebildete Schicht integrierten.

Die klassisch-humanistische Erziehung war nicht mehr das bloße Lernen von oben vorgeschriebener Lehrsätze, sondern das platonische Prinzip individueller Entdeckungsfähigkeit rückte wieder in den Mittelpunkt. Mit Hilfe der Manuskripte verschiedener Denker gelang es, den individuellen qualitativen Fortschritt des Wissens weiterzuvermitteln. Dadurch, daß die Schüler die Entdeckung neuer Prinzipien geistig nachvollzogen, lernten sie, Wissen wirklich zu verstehen und den Prozeß des Fortschritts als primäres Faktum zu erkennen.

Diese Art der Allgemeinbildung, die den Schülern die platonische Methode der Hypothesenbildung vermittelte, brachte Genies wie Thomas von Kempen, Nikolaus von Kues, Ludwig XI., Hieronymus Bosch oder Erasmus von Rotterdam hervor. Nikolaus von Kues, der als geistiger Vater des Nationalstaates angesehen werden muß, stellte ein neues Bildungsideal auf: Jeder Mensch sollte das ganze bisherige Wissen wenigstens in seinen Grundzügen kennen, um die nächsten notwendigen Schritte in der Forschung definieren zu können. Nikolaus betonte, daß auf diese Weise die ganze Entwicklung des Universums im Geist eines jeden Menschen reproduziert werde.

Für Nikolaus bedeutete die Entsprechung der Gesetzmäßigkeiten des Makrokosmos (des physischen Universums) mit denen des Mikrokosmos (der kreativen Vernunft), daß die kognitiven Prozesse in der materiellen Welt wirksam werden. Wenn eine vom menschlichen Geist formulierte Hypothese angemessen ist, wird sie zur Entdeckung eines gültigen neuen physikalischen Prinzips führen. Der sich daraus ergebende wissenschaftliche und technologische Fortschritt erhöht die Macht des Menschen über die Natur und führt zu einer Steigerung der Produktivität pro Kopf und pro km2 Landfläche.

Die besseren Bildungsmöglichkeiten eines wachsenden Teils der Gesellschaft nach dem 15. Jahrhundert hatten eine sichtbare Veränderung der demographischen Merkmale zur Folge. Das Bevölkerungspotential hatte bis dahin nur 300 Mio. Menschen auf dem ganzen Planeten betragen. Seitdem entwickelte sich die demographische Kurve hyperbolisch bis zu der gegenwärtigen Erdbevölkerung von mehr als 5 Mrd. Menschen.

Während die Ideen des Cusanus und der italienischen Renaissance, die im Konzil von Florenz ihren Höhepunkt fanden, den begrifflichen Rahmen für diesen Durchbruch der Menschheit schufen, errichtete Ludwig XI. in Frankreich gleichzeitig den ersten modernen Nationalstaat, der sich dadurch auszeichnete, daß nicht mehr die Machtinteressen einer kleinen oligarchischen Elite die Grundlage der Politik bildeten, sondern das Gemeinwohl des Staates. Diese Orientierung auf das Gemeinwohl erforderte, daß der Staat auf wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt beruhen mußte, da dieser, auf Manufaktur und Ackerbau angewandt, zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität führte und damit den Wohlstand der Gesellschaft förderte.

 

Allgemeinbildung

 

Unter der Herrschaft Ludwigs XI. von 1461 bis 1483 verdoppelten sich das Volkseinkommen und der Lebensstandard Frankreichs. Auch wenn die Zahl der jungen Menschen, die eine klassisch-humanistische Bildung erhielten, nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachte, die im übrigen weiter unter Sklavenbedingungen lebte, so wurde doch die "Klassenschranke", die den Adel streng von den übrigen 95 Prozent der Bevölkerung trennte, durch den Erfolg der Methode Peter Abaelards an den Hochschulen von Paris und durch die vielfältigen Bemühungen der Brüder vom Gemeinsamen Leben durchbrochen. Ein wachsender Anteil armer Handwerker- und Bauernkinder wurde nach und nach in die gebildeten Schichten der Städte eingegliedert.

Diese Bemühung um die Allgemeinbildung der Bevölkerung stellt den wichtigsten Aspekt des modernen Nationalstaates dar. Mit ihm einher geht die Schaffung sozialer Institutionen, die die höchstmögliche Teilnahme der Bevölkerung am kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt im Arbeitsprozeß und auf anderen Gebieten des Lebens möglich macht. Zudem muß der Staat nicht nur das Gemeinwohl für die gegenwärtige Bevölkerung definieren, sondern auch für die kommenden Generationen der gesamten Menschheit, deren Interesse nie im Gegensatz zum Interesse des Nationalstaates stehen darf.

Diese Prinzipien, die erstmals die Leibeigenen zu Bürgern machten, indem sie durch Bildung am Fortschritt teilhaben konnten, und die den Staat auf die Gemeinschaft seiner Bevölkerung anstatt auf die Autorität der oligarchischen Elite gründeten, stellen die entscheidenden Merkmale dar, die das Frankreich Ludwigs XI. von allen früheren Gesellschaftsformen unterscheiden. Dieses Prinzip der Staatskunst, allen eine klassisch-humanistische Allgemeinbildung zu ermöglichen, markiert auch den fundamentalen Unterschied zwischen einer republikanischen und einer oligarchischen Gesellschaft.

Im Gegensatz zu den falschen Grundannahmen des freien Marktes, die besagen, der Besitz von Rohstoffen oder das Recht "billig zu kaufen, teuer zu verkaufen" sowie Wucher und Spekulation seien die Quellen des Reichtums, entsteht Wohlstand in Wirklichkeit durch die schöpferische Vernunft des Individuums und seine Fähigkeit zu schöpferischen Entdeckungen. Wenn neue wissenschaftliche Entdeckungen und neue Technologien in den Produktionsprozeß eingeführt werden, erhöht sich die Produktivität der Arbeit und schafft dadurch größeren Reichtum.

 

Die Bedeutung des Nationalstaates

Im Gegensatz zur imperialen Herrschaftsform, in der eine oligarchische Elite den größten Profit herauszuschlagen versucht, indem sie aus einer in Rückständigkeit und Armut gehaltenen Bevölkerung ein Maximum herauspreßt, hat der souveräne Nationalstaat ganz andere Interessen: Ein als Republik organisierter Staat wird alles tun, damit seine Einwohner Bürger werden, d.h. daß sie die Interessen des Staates repräsentieren und eine universale Erziehung erhalten, so daß jeder einzelne potentiell jede Aufgabe im Staat übernehmen kann.

Wie kann nun ein Zustand erreicht werden, wo jeder Bürger so motiviert ist, daß er Verantwortung für den ganzen Staat und letztlich für die Menschheit übernimmt? Die Antwort darauf führt zu der Schlüsselfrage, warum der souveräne Nationalstaat für die erfolgreiche, dauerhafte Existenz der Menschheit unabdingbar ist.

Wie Nikolaus von Kues zuerst darlegte, ist der republikanische Nationalstaat, der auf einem repräsentativen System, nicht auf reiner Demokratie basiert, die einzige Form, in der das Individuum an der Selbstregierung teilnehmen kann. Deshalb kann nur so die unveräußerliche, im Naturgesetz verankerte Freiheit des Individuums verwirklicht werden.

Zwischen Regierung und Regierten stehen die gewählten Repräsentanten, die zu beiden in einer rechtlichen Beziehung stehen. Sie müssen die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat vertreten, so daß diese ihre Fähigkeiten aufs höchste entwickeln können. Andererseits vermitteln sie für den Staat, so daß jeder Bürger zum Wohl des Staates nach besten Kräften beitragen kann. Da diese Repräsentanten gegenüber den Bürgern rechenschaftspflichtig sind und sich zur Wahl stellen müssen, ist dies die einzige Möglichkeit, wie das Individuum wirksam an der Regierung teilhaben kann. Friedrich Schiller beschrieb das als die "größtmögliche Entfaltung des Individuums bei des Staates höchster Blüte".

Die mangelnde Rechenschaftspflicht ist der Hauptgrund, warum jede supranationale Regierung oder Institution letztlich zu oligarchischer Herrschaft durch eine kleine Machtelite führen wird. Das Beispiel UNO und ihrer Unterorganisationen Internationaler Währungsfonds und Weltbank oder die Europäische Kommission in Brüssel zeigen, daß die Einflußmöglichkeit des Bürgers auf die Regierung praktisch schwindet, wenn die Politik von Einrichtungen beschlossen wird, die niemandem mehr verantwortlich sind. Es war stets ein Symptom oligarchischer Herrschaftssysteme -- ob im kommunistischen Osten oder im kapitalistischen Westen --, daß die Mehrheit der Bürger keine eigenständige Verantwortung mehr zu übernehmen in der Lage ist, sondern lediglich ihre Eigeninteressen verfolgt.

 

Das Humboldtsche Bildungssystem

Es war Wilhelm von Humboldt, der Urheber des besten Systems universaler Bildung, der zeigte, wie verantwortungsbewußte Staatsbürger herangebildet werden können. In seinen verschiedenen Bildungsplänen wandte er sich gegen die "praktische" Erziehung, die zu seiner Zeit üblich war, ebenso wie gegen die Heranbildung von "Experten". Humboldt lehnte die übertrieben hohe Bewertung der Spezialisierung ab, da sie für die Entwicklung des Staates und den Charakter des Individuums abträglich ist.

Er betonte, daß Kinder und Jugendliche sich nur zu wirklichen Staatsbürgern entwickeln können, wenn ihre Erziehung nicht auf Spezialbildung, sondern auf die universale Entwicklung ihres Charakters abzielt. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und forderte die "Schönheit des Charakters" als wichtigstes Erziehungsziel.

Humboldt goß das humanistische Ideal der schönen Seele, das sein Freund Friedrich Schiller entwickelte, in die Form eines Bildungsprogramms. Er war der Auffassung, daß bestimmte Wissensgebiete für die Ausbildung und Blüte des Charakters des Schülers absolut notwendig seien.

Die Grundlage einer solchen humanistischen Bildung muß die Vermittlung der universalen Menschheitsgeschichte sein, weil nur ein Individuum, das seine Identität in diesem historischen Prozeß ansiedelt, um die Verantwortung weiß, die ihm aus den zahllosen Beiträgen und Bemühungen aller Generationen bis zu dem jüngsten Entwicklungsstand erwächst. Nur ein Mensch, der dies versteht, kann wissen und entscheiden, wie er seine eigenen Fähigkeiten am besten einsetzen kann, um Dauerhaftes für künftige Generationen zu schaffen. Die Vermittlung der Universalgeschichte, wie Schiller sie verstand, ist in erster Linie die Geschichte der Entwicklung jener Ideen, die zum Fortschritt der Menschheit beigetragen haben.

Die nächstwichtige Grundlage universaler Bildung ist die Beherrschung der eigenen Hochsprache, was vor allem das Studium der großen klassischen Werke in Drama und Poesie bedeutet. In der klassischen Tragödie kann man nachvollziehen, ob es dem Helden gelingt, eine Lösung auf einer höheren Ebene zu finden, um einen tragischen Ausgang abzuwenden. Der Zuschauer "sieht" sozusagen die Methode der Hypothesenbildung auf der Bühne gespielt. In einem klassischen Gedicht liegt der Inhalt nie auf der wörtlichen, prosaischen Ebene, sondern die ganze Komposition enthält eine Metapher, eine Bedeutung, die über das hinausgeht, was direkt ausgedrückt wird. In beiden Fällen wendet sich die Dichtung an jene geistige Ebene, mit der der Mensch erfassen kann, daß der Weg des menschlichen Fortschritts über absolute Diskontinuitäten führt, d.h. über Stellen absoluter Trennung zwischen bestimmten definierten Grundannahmen, die ein gegebenes Erfahrungsgebiet ausdrücken, und einer anderen Reihe von Annahmen.

Deshalb steht das Verstehen von Metaphern in der klassischen Dichtung auf dem gleichen Vernunftniveau, das auch für revolutionäre Entdeckungen in der Wissenschaft verantwortlich ist. Für Humboldt war das Nacherleben der wichtigsten Momente naturwissenschaftlicher Entdeckungen nicht nur die Möglichkeit, wie der Mensch den jeweiligen Kenntnisstand der Gesetze des Universums erreicht -- und dabei ein natürliches Verhältnis zwischen Mensch und Natur verwirklicht --, sondern mit der gleichen Methode der Hypothesenbildung lernt der Schüler im eigenen Kopf die Methode der Hypothese selbst zu beherrschen.

Humboldts Erziehungsmethode sieht auch vor, daß der Schüler mindestens eine hochentwickelte klassische Sprache (Sanskrit oder Griechisch) beherrscht, weil sich der Schüler dadurch seiner eigenen Sprache bewußt wird und lernt, die Sprache als Geometrie des Denkens anzusehen. Eine oder mehrere Fremdsprachen zu erlernen, ist für einen Weltbürger ebenso notwendig wie Geographie. Zur humanistischen Bildung gehören auch Musik, bildende Kunst und Sport.

 

Schillers "schöne Seele"

Wenn der Schüler alle diese Fächer durchlaufen hat und durch eigene Forschungstätigkeit des Lehrers inspiriert wurde, sind die Vorbedingungen für seine charakterliche Entwicklung, die Schiller die "schöne Seele" nannte, erfüllt. Aber eine schöne Seele ist nicht einfach eine Person, für die Notwendigkeit und Bedürfnis zusammenfallen -- die, anders gesagt, ihre Emotionen soweit entwickelt hat, daß sie sicher sein kann, daß diese sich immer mit der kreativen Vernunft decken. Die "schöne Seele" ist in Wahrheit ein Genie, dessen schöpferische Vernunft laufend neue Freiheitsgrade entdeckt, da sie die Gesetze des Universums kennt und respektiert.

Will der souveräne Nationalstaat die kreativen Fähigkeiten seiner Bürger auf den höchstmöglichen Stand entwickeln, dann muß sich die Erziehung an diesen Idealen orientieren. Wenn der gegenwärtige Zusammenbruchsprozeß uns nicht in ein neues dunkles Zeitalter und ein globales Chaos stürzen soll, dann müssen wir uns anschauen, wie die Menschheit frühere Krisen erfolgreich überwunden hat. So wurde beispielsweise die Katastrophe des 14. Jahrhunderts durch die Verbreitung der universalen Bildung und die Wiederentdeckung der griechischen Klassiker gemeistert, was schließlich zur Goldenen Renaissance des 15. Jahrhunderts führte. Wenn wir heute unseren Planeten endgültig vom Übel oligarchischer Diktatur befreien wollen, dann müssen wir eine Gemeinschaft von Nationen, eine Gemeinschaft souveräner Republiken bilden, die zu ihrer bestmöglichen gegenseitigen Entwicklung zusammenarbeitet.

Dann werden wir jene Epochen unserer gemeinsamen Universalgeschichte herausstellen, in denen jede Kultur ihre größten Beiträge zum Fortschritt der Menschheit geleistet hat. Dazu gehörten beispielsweise die konfuzianische Tradition und die Sung-Dynastie in China ebenso wie die vedischen Hymnen und die Gupta-Zeit Indiens, die arabische und die andalusische Renaissance, die italienische Renaissance, die Tradition von Leibniz, Puschkin und Schiller sowie die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Wenn es einst der Menschheit gelingt, die Kinderkrankheit des Oligarchismus zu überwinden, werden die Bürger der souveränen Nationalstaaten auch Weltbürger werden.


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