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August 1998 | Bildungspolitik |
Bildung zur schönen Menschlichkeit
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Die Idee der EinheitsschuleHumboldt duldete keine nebeneinander stehenden Schulformen, die Schule war Einheitsschule. Sie gliederte sich in Elementarschule, Gelehrtenschule, Universität. Die eine Schulart baute auf der anderen auf, es gab keine Querverbindungen zwischen ihnen. In einer Verfügung vom 14. Mai 1810 wurden Elementarschulen und Gelehrtenschulen als die beiden Grundtypen festgeschrieben. In Gemeinden, die für eine Gelehrtenschule zu klein waren, richtete er eine höhere Elementarschule ein, "in welcher die nur zu einer gewissen Stärke gediehenen sittlichen, intellektuellen und ästhetischen Kräfte an den einer jeden korrespondierenden bestimmten Gegenständen der Natur- und der Menschenwelt zu dem Grad entwickelt und fortgebildet werden, auf welchem jeder zur Mündigkeit gelangte Mensch stehen muß, um seiner selbst und seiner Beziehung zu der Gottheit und zu der Welt inne, seiner Anlagen und ihres Maßes sich bewußt und ihrer mächtig zu sein". Außerdem schuf er Gelehrtenschulen, die nur bis zur Tertia reichten, also nach dem fünften Gymnasialschuljahr abbrachen. Sie sollten dort eingerichtet werden, wo man keine fertigen Gelehrtenschulen einrichten konnte, aber doch mehr als Elementarschulen brauchte. Sie stellten einen verkürzten Gymnasialkurs dar. Wie die höheren Elementarschulen trugen auch sie keinen eigenen Charakter, sondern entsprachen im wesentlichen ganz den Unterklassen der Gelehrtenschulen und wurden "Höhere Stadtschulen", später Bürgerschulen genannt. "Diese sind so auszugestalten, daß er (der Unterricht) auch denen auf jeder Stufe wirkliche Geistesbildung bietet, die ihn in der Mitte abzubrechen genötigt sind." Mit der Einheitsschule beendete Wilhelm die alte soziale Gestaltung des Bildungswesens nach Ständen. Sie war ihm die Garantie, "daß die Spuren des ehemaligen Vorurteils, daß eine adlige Erziehung von einer andern verschieden sein müsse, ...vertilgt" werde. "Die Organisation der Schule bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte -- ein Fehler der vorigen Zeit", sie sah in jedem Schüler nur den heranwachsenden Menschen und nicht den künftigen Berufstätigen oder Staatsbürger. "Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll." Der Mann, der heute als Inbegriff der elitären Erziehung gilt, hat in Wirklichkeit das Erziehungswesen sozialisiert, hat die Schulen allen Ständen geöffnet. Es ist unfaßbar, wie eine solche Mißdeutung zustande kommen und sich hartnäckig halten konnte. Immer herrscht die reine Idee der Bildung vor, fern von jedem Nützlichkeitsgedanken und jeder willkürlichen sozialen Gliederung. Humboldt faßte den Geist seines Systems in den Worten zusammen: "Jeder, auch der Ärmste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, jeder überhaupt eine vollständige nur da, wo sie noch zu weiterer Entwicklung fortschreiten könnte, verschieden begrenzte Bildung, jede intellektuelle Individualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmählichen Entwicklung selbst zu suchen; die meisten endlich hätten, auch indem sie die Schule verließen, noch einen Übergang vom bloßen Unterricht zu der Ausführung in den Spezialanstalten." Der Elementarunterricht dauerte vier Jahre, der höhere Elementarunterricht, der nicht nur Zahl-, Maß- und Sprachverhältnisse, Lesen und Schreiben, sondern auch die Anfangsgründe von Naturgeschichte, Geographie, Geschichte und Anthropologie lehren sollte, zwei Jahre länger. Auf den Gelehrtenschulen umfaßten die drei unteren Klassen, die ggf. die Höheren Stadtschulen bildeten, fünf, die oberen drei Jahre. Insgesamt erstreckte sich der Schulbesuch auf 12 Jahre. Der Stundenplan des Schülers sollte maximal 36 Wochenstunden betragen, für den Lehrer nicht mehr als 24 und den Rektor höchstens 12. Der allgemeine Schulunterricht sollte bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres dauern. Jeder Lernschritt des Schülers wurde überprüft. Bei der Aufnahme in die Gelehrtenschule, bei der Versetzung in die nächsthöhere Klasse und der Entlassung von der Schule mußte der Schüler ein Examen ablegen. Die Schule hatte für jede Klasse einen Lektionsplan zu erstellen, der das Lernziel möglichst scharf bestimmen sollte.
Ein wissenschaftlich gebildeter LehrerstandVor Humboldt waren die Lehrerstellen hauptsächlich mit jungen Theologen, die auf eine Pfarre warteten, besetzt worden. Nun reichte das Theologieexamen nicht mehr für eine Anstellung im Schuldienst aus. Er suchte ein "Sicherungsmittel gegen das Einschleichen mittelmäßiger oder schlechter Lehrer", und er mußte den Widerstand der Magistrate, die bisher über die Lehramtskandidaten entschieden hatten, den Mißbrauch, den sie seiner Überzeugung nach mit ihren überlieferten Rechten trieben, brechen. Beides gelang ihm, indem er eine allgemeine Lehrerprüfung einführte. Am 12. Juli 1810 wurde das "Edikt wegen Prüfung der Kandidaten des höheren Schulamts" veröffentlicht, das den Anwärtern für den Schuldienst drei Prüfungen auferlegte: Die erste stellte den "Grad der Vollendung in der Wissenschaft" fest, der dem zu entsprechen hatte, was von einem Doktoranden an der Universität gefordert wurde. Die zweite berechtigte zum Unterricht in den unteren, und die dritte zum Unterricht in den oberen Klassen der Gelehrtenschule. Außerdem mußte der Lehramtsanwärter eine Probelektion ablegen. Gefordert wurden philologische, historische und mathematische Kenntnisse, doch der Kandidat konnte sich auch in anderen Fächern prüfen lassen, und er konnte Schwerpunkte unter den drei Hauptrichtungen setzen. Die drei wissenschaftlichen Deputationen, die Humboldt eingerichtet hatte, waren die Prüfungsverbände. Es gab zwei Prüfungen, eine "formale" (im Humboldtschen Sinne) und eine "materiale" Prüfung. Die erste Prüfung galt den "Geisteskräften und Anlagen überhaupt", dem "Formalen der Intellektualität", sie nahm die intellektuellen und menschlichen Anlagen des Prüflings in Augenschein. Die zweite galt den positiven Kenntnissen, dem konkreten Wissen, da man Kräfte nur prüfen konnte, wenn man ihnen einen Stoff gab. Die Prüfung war für alle Lehramtskandidaten für die Gelehrtenschulen Pflicht, nur diejenigen, die sich einzig und allein dem Elementarunterricht widmen wollten, waren davon freigestellt. Die Sektion (für Kultus und öffentlichen Unterricht, die Humboldt unterstand) sicherte sich den Einfluß auf die Lehrer, die bereits im Amt waren, indem sie auch das Aufrücken in eine höhere Stellung und den Wechsel an eine andere Schule von einer vorhergehenden Prüfung des Anwärters abhängig machte. Der gesamte Lehrkörper wurde so der Aufsicht der Regierung unterstellt, denn der Nachwuchs konnte ja erst nach einigen Jahren zur Verfügung stehen. Den Lehrern an den Privatschulen wurde die Prüfung empfohlen, und Humboldt hoffte, daß durch das allgemein angehobene Niveau an den öffentlichen Schulen sich die privaten den Forderungen bald anschließen müßten. Da die Sektion keine Möglichkeit sah, die Hauslehrer zu kontrollieren, war auch ihnen das Lehrerexamen freigestellt. Die Lehrer sollten gut bezahlt werden, und Humboldt hat trotz aller Not im Staate und leerer Kassen der Finanzverwaltung eindringlich gewarnt, beim Lehrergehalt zu sparen. Humboldt baute darauf, daß durch diese Anforderungen ein Geist entstehen würde, "der, ohne Zunftgeist zu sein, eine feste und sicher zum gemeinschaftlichen Ziel hinstrebende Richtung hat. Es entsteht eine pädagogische Schule, und eine pädagogische Genossenschaft, und wenn es wichtig ist, durch Zwang bewirkte Einheit der Ansichten zu verhüten, so ist es ebenso wichtig, durch eine gewisse Gemeinschaft (die nie ohne eine Absonderung des nicht zu ihr Gehörenden denkbar ist), eine Kraft und einen Enthusiasmus hervorzubringen, welche dem einzelnen und zerstreuten Wirken immer fehlen, welche den Schlechten von selbst entfernen, den Mittelmäßigen heben und leiten und die Fortschritte auch der Besten noch befestigen und beflügeln."
Neuhumanistische PädagogikWilhelm hatte auch Pläne für eine pädagogische Ausbildung der Lehramtskandidaten; er wollte im philologischen Seminar von Wolf, das an der neuen Universität Berlin eingerichtet werden sollte, eine pädagogische Abteilung ansiedeln. "Der Hauptzweck des neuen Seminars sollte sein, in Berlin in kurzer Zeit eine bedeutende Anzahl praktisch brauchbarer Schulmänner für das In- und Ausland zu bilden, mehr als es vormals in Halle geschehen konnte." Die Seminaristen sollten aus den oberen Semestern kommen und nicht nur philologische Vorlesungen hören, sondern auch als Praktikanten im Unterricht an den Berliner Gymnasien tätig sein. Der Direktor der Schule sollte ihren Lektionen beiwohnen und selbst gelegentlich Musterlektionen halten. In einen Kursus, der sich über zwei bis zweieinhalb Jahre erstreckte, sollten so wissenschaftlich und praktisch bewanderte Lehrer ausgebildet werden, von denen eine Verbesserung des ganzen Schulwesens ausgehen sollte. Doch Wolf widersetzte sich diesem Plan, so daß das Seminar erst einige Jahre später unter Leitung seines Schülers August Boeckh zustande kam. 1787 hatte Friedrich August Wolf an der Universität Halle ein philologisches Seminar gegründet, in dem neben den "eigentlichen philologischen und humanistischen Übungen" Unterrichtsversuche gemacht wurden. Zum ersten Mal wurde hier das Ziel formuliert, gelehrte Schulmänner zu bilden. Neben den Studien in den alten Sprachen und den Geisteswissenschaften wurden zwei bis drei Stunden Übungen in der Woche auf Gegenstände des Schulunterrichts und das "Disputieren über pädagogische Materien und dergleichen" verwandt. Die Seminaristen hielten regelmäßig "ordentliche Lehrstunden" in Hallenser Schulen unter den Augen des Meisters. Aus Wolfs Seminar gingen die tüchtigsten Schulmänner der Zeit hervor, die Humboldts Bildungsreform umsetzten und zu ihrem schnellen und dauernden Erfolg beitrugen. Bedeutende pädagogische Seminare gab es außerdem in Berlin unter Friedrich Gedike und in Königsberg, das 1810 von Johann Friedrich Herbart übernommen wurde. Die pädagogischen Seminare waren nicht selbständig, sondern alle Teil der philologischen Abteilungen, was ihren Stellenwert beschreibt. Auch hier galt der Wissenschaft das Hauptaugenmerk. Der erste Zweck der Pädagogik war nicht, Schulmänner zu bilden, sondern die Altertumswissenschaftler "durch möglichst vielfache Übungen, die in das Innere der Wissenschaft führen, und durch literarische Unterstützung jeder Art weiter und so auszubilden, daß durch sie künftig diese Studien erhalten, fortgepflanzt und erweitert werden", hieß es in den Statuten des philologischen Seminars an der Universität Berlin, das von dem berühmten Altphilologen August Boeckh im Jahre 1812 eingerichtet und geleitet wurde. Im Mittelpunkt stand die wissenschaftliche Arbeit, die praktische Vorbildung für den Beruf spielte eine untergeordnete Rolle gemäß dem Wahlspruch: docendo discitur docere -- lerne lehren, indem du lehrst. "Habe Geist und wisse Geist zu wecken", in diesem Satz faßte Wolf seine Pädagogik zusammen. Wer das Wissen habe, der könne auch lehren, doch dürfe man nicht der Wissenschaft Grenzen setzen, indem man sich ihr in der Absicht, "sie für den nächsten und notwendigsten Bedarf" zu nutzen, widme. Außerdem könne man den Umgang mit Menschen nicht aus einem psychologischen Lehrbuch erlernen, war die damalige Auffassung. Der große Umschwung in den Schulen vom mechanischen, gedächtnismäßigen Lernen zum selbständigen Arbeiten und geistigen Erfassen der Dinge vollzog sich im Rahmen der allgemeinen Begeisterung für Wissenschaft und ohne das Zutun von pädagogischen Lehrbüchern und Maßregeln. Humboldt hatte bis zu seiner Berufung als Leiter des preußischen Erziehungswesens nie ein pädagogisches Buch in den Händen gehalten, und was für ein Pädagoge war er! Seine Pädagogik wurde durch zwei Quellen gespeist: der Liebe zum Menschen und der Liebe zur Wissenschaft. Das Übrige taten ausgedehnte Besuche im Unterricht. Er liebte es, ganze Vormittage in den Schulklassen zuzubringen, wo er sich ganz normal am Unterricht beteiligte und sich selbst ein Bild machen konnte. Der Unterricht war nicht "problemorientiert", der Lehrer wurde nicht mit allen möglichen Verhaltensmaßregeln, die er im Umgang mit Schülern zu beachten hatte, gegängelt. Der Schulunterricht sollte "Sehnsucht nach der Wissenschaft" wecken, dazu brauchte man Lehrer, die in ihrem Fach selbständig wissenschaftlich arbeiteten, die sich ganz auf das Vermitteln von Ideen konzentrierten. Nicht umsonst hatte Humboldt gefordert, daß jeder Gegenstand im Unterricht "auf eine die Empfindung stark bewegende Weise" behandelt werden müsse. Begeisterung wecken, lautete die Losung, Herz und Verstand für große Ideen entflammen. Nur so lernt man, und nicht nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters. Dieses wesentliche Prinzip wird in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte vollkommen mißachtet. Auch der heutige Jugendliche ist mehr als ein etwas komplexerer Computer. Es reicht nicht, ihn durch einen "Lernberater" mit neuen, raffinierten "Lernarrangements" zu füttern, auch er will als ganzer Mensch erfaßt und gewürdigt werden. Das Interesse des Lehrers an der Sache, die er dem Schüler beibringen soll, und seine lebendige Teilnahme an allem, was den Schüler bewegt, ist der wesentliche Aspekt des Lernens.
Rücktritt und Abschluß der BildungsreformHumboldts Reform stieß überall dort auf Widerstand, wo er in überlieferte Gewohnheiten eingriff und wo die Nutznießer der Pfründe sich bedroht sahen. So sträubten sich z.B. die Sonderkuratorien der Schulen gegen die Unterstellung unter die Sektion, da sie ihre Weiterexistenz bedrohte. Ganz massiv war der Widerstand unter den Junkern. Die Großgrundbesitzer und die Eigner der Manufakturen fürchteten gleichermaßen um ihre billigen, duldsamen Arbeitskräfte und wollten den Wegfall des berufsorientierten Unterrichts nicht dulden. Auch in der Regierung wuchs die Front gegen Humboldts kompromißlosen Reformkurs. Obwohl seine Umgestaltung bereits überall sichtbare Wirkung zeigte, verfolgten der Hof und das Kabinett Humboldts Aktivitäten immer reservierter. Nachdem man vom Stein losgeworden war, hatte man es nun mit einem ähnlich kompromißlosen Geist zu tun. Doch, so schrieb er an seinen Freund Wolf, "man muß auch am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben. Ich arbeite mit ununterbrochenem Eifer fort, und wie schlimm auch die Sachen kommen könnten, sehe ich doch den Zeitpunkt nicht, wo uns nicht von irgend einer Seite her ein lebendiges und nützliches Wirken übrigbliebe. Sie sehen, daß es mir nicht an Mut fehlt." Steins Kabinettsreform war nur halb ausgeführt worden, und Humboldt spürte diesen Umstand empfindlich. Schon in der Nassauer Denkschrift hatte Stein die Einrichtung eines Staatsrates, eines obersten zentralen Regierungsorgans, bei dem die Staatsminister und die Chefs der wichtigsten Abteilungen direkt mit dem König beraten und entscheiden sollten, gefordert, verwirklicht war er noch immer nicht. Direkten Zugang zum König hatten nur der Staatskanzler und eingeschränkt die Minister, die Leiter der Ressorts mußten das Ohr des Monarchen über die Minister suchen. Dies ließ allen möglichen Winkelzügen und Eifersüchteleien Raum, die die Arbeit behinderten, ja, wie Humboldt schließlich in seinem Entlassungsgesuch feststellte, unmöglich machten. Schon am 18. April 1809 hatte er die Zustände am Hof seiner Frau mit den Worten geschildert: "Unter den Ministern, den geheimen Staatsräten und anderen Bureaus ist hier ein eigenes und für den Augenblick belustigendes, hernach aber verdrießliches Treiben. Die neue Verfassung ist halb ausgeführt, und die andere Hälfte scheuen sich die Minister auszuführen. Bei viel anscheinender Einigkeit arbeitet nur einer gegen den andern ..." Die absolutistische Regierungsform hatte ihre Spuren hinterlassen: "So wie man hier einen Menschen finden soll (für einen Posten, rtb), ist immer eine Not und eine Qual. Die göttliche Art, wie man bisher regierte, hat es wirklich dahin gebracht, daß fast niemand recht brauchbares da ist," schrieb er seiner Frau gleich nach seinem Amtsantritt. Der von vom Stein so gehaßte "Mietlingsgeist" unter den hohen Beamten, der "Formelkram und Dienstmechanismus" bei den Regierungsgeschäften war immer noch vorherrschend. Richtig fühlbar wurde dieser Umstand, als Wilhelm gegen die monarchische Allmacht aufstand und ihm keiner im Kabinett zur Seite sprang. Die Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht, die Humboldt leitete, war dem Innenministerium unterstellt. Sein Ressort gliederte sich in zwei Abteilungen: die Abteilung Kultus, die von Georg Heinrich Nicolovius geleitet wurde, und die Abteilung öffentlicher Unterricht, der ebenfalls Humboldt vorstand. In beiden Abteilungen waren dem jeweiligen Vorsitzenden je drei Staatsräte beigeordnet, zu denen sich noch der Direktor der Wissenschaftlichen Deputation und einige Mitglieder aus der höchsten Geistlichkeit gesellten. Viele Zuständigkeiten überschnitten sich, es gab Eifersüchteleien und Reibungspunkte, und gerade die hohe Geistlichkeit verfolgte Humboldts Aktivitäten mit großer Zurückhaltung, verlor sie doch durch ihn den dominierenden Einfluß auf die Erziehung der Jugend, den sie über Jahrhunderte hindurch wie selbstverständlich ausgeübt hatte. Wilhelm wollte dem allgemeinen Wirrwarr ein Ende machen, indem seine Sektion zum selbständigen Ministerium erhoben und dadurch direkten Zugang zu der Zentralverwaltung erhalten sollte. Er drängte darauf, daß vom Steins Kabinettsreform endlich verwirklicht werden müsse, doch die Minister waren dagegen; sie schlugen statt dessen dem König vor, einen interimistischen Staatsrat zu bilden -- der nur beratende Funktion haben sollte -- und im Interesse der monarchischen Zentralisation das Amt eines Premierministers zu schaffen. Der König nahm diesen Vorschlag an. Humboldt protestierte: "Der neue Staatsrat bringt keine Einheit in die Verwaltung, sondern ist ein bloßer Name und legt die ganze Tätigkeit der Sektionschefs lahm", schrieb er am 29. April 1810 an den König. Einen Monat später erneuerte er sein Entlassungsgesuch, denn unter der neuen Organisation "hört alle zweckmäßige Geschäftsverwaltung, aller Mut zu neuen, wichtigeren Operationen, alle Hoffnung auf Erfolg auf". Am 23. Juni 1810 legte Humboldt sein Amt als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht nieder. In der Öffentlichkeit wurde sein Scheiden ungemein bedauert, unter den Monarchisten dürfte Erleichterung geherrscht haben. Gegenüber seiner Frau faßte er sein Wirken zusammen: "Ich hatte einen allgemeinen Plan gemacht, der von der kleinsten Schule an bis zur Universität alles umfaßte, und in dem alles ineinandergriff, ich war in jedem Teil desselben zu Hause, ich nahm mich des kleinsten wie des größesten, ohne Vorliebe, mit gleicher Tätigkeit an, ich ließ mich durch keine Schwierigkeit abschrecken; wo ich für eine Sache augenblicklich schlechterdings nichts tun konnte, wandte ich mich sogleich auf eine andere; ich hatte, wie die wirkliche Niedergeschlagenheit bei meinem Abgang beweist, allgemeines Vertrauen." Er war nur 16 Monate im Amt, doch er hatte überall die entscheidenden Anfänge gemacht und die zentralen Impulse gegeben und sogar einiges zu Ende geführt. Seine Nachfolger Georg H. Nicolovius -- der mit Goethes Nichte verheiratet war -- und der Philologe Johann W. Süvern waren die ganze Zeit über seine engsten Mitarbeiter und Mitstreiter gewesen; sie führten Humboldts Idee gegen mannigfache Widerstände zu Ende. Und schließlich wurde im Jahre 1817 auch Humboldts politische Forderung nach einem selbständigen Kultusministerium verwirklicht. Humboldt hatte am 21. Mai die Wissenschaftliche Deputation angeordnet, einen allgemeinen Schulplan zu entwerfen. Im Juli 1812 wurde das Edikt "wegen Prüfung der zu den Universitäten übergehenden Schüler" veröffentlicht. Obligatorische Prüfungsfächer waren Latein, Griechisch, Französisch, Deutsch einerseits; Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik und Naturbeschreibung andererseits. Der Prüfling mußte einen deutschen, lateinischen, französischen und mathematischen Aufsatz abfassen, ferner eine Übersetzung aus dem Griechischen und ins Griechische. In allen Fächern außer Religion wurde er mündlich geprüft. Bei der Interpretation alter Schriftsteller wurde lateinisch gesprochen. Drei Jahre später wurde das Französische als allgemein verbindliches Lehrfach aus dem Unterricht genommen. Die Prüfungsordnung trug deutlich Humboldts Handschrift: "Im Griechischen muß der Examinandus die attische Prosa, wozu auch der leichte Dialog des Sophokles und Euripides zu rechnen, nebst dem Homer, auch ohne vorhergehende Präparation, verstehen; einen nicht kritisch-schwierigen tragischen Chor aber, im Lexikalischen unterstützt, erklären können. Auch muß er eine kurze Übersetzung aus dem Deutschen ins Griechische, ohne Verletzung der Grammatik und Akzente, abzufassen imstande sein." Schon Humboldt hatte eine "einheitliche Unterrichtsverfassung" angestrebt, wodurch die einzelnen Unterrichtsgegenstände in ihrem Verhältnis zu einander bestimmt und der Unterrichtsgang durch den ganzen Kursus geregelt werden sollte. Auch sie wurde 1812 durch Süvern fertiggestellt und gilt als "Konstitutionsakte des neuen Gymnasiums" (Paulsen). Das Gymnasium, wie die Gelehrtenschule von nun an genannt wurde, hatte einen zehnjährigen Kursus, der in sechs Klassen gegliedert war, die von unten auf VI bis I gezählt wurden. Die beiden Unterklassen dauerten jeweils ein Jahr, die Mittelklassen in IV ein, in III zwei Jahre, die beiden Oberklassen in II zwei, in I drei Jahre (Abb. 1). Die Unterrichtsgegenstände bildeten keine zufällige Ansammlung zusammengewürfelter, interessanter Themen, sondern eine "organische Einheit", die dem "Organismus der Wissenschaften selbst" entsprach. Die "harmonische Ausbildung des Geistes" war gesichert, wenn der Schüler gleichmäßig an allen Fächern teilnahm. Den Schulen wurde ausdrücklich aufgetragen, "sorgsam zu verhüten, daß sie nicht die unharmonische Bildung und die Einseitigkeit derselben begünstigen, welche durch zu rasches Voreilen des Schülers in einigen Lieblingsobjekten und sein unverhältnismäßiges Zurückbleiben in anderen entsteht". Die Unterrichtsziele in den vier Hauptfächern lauteten: "In den alten Sprachen muß er auf der oberen Bildungsstufe (II und I) so weit vorgerückt sein, daß er sich ihrer auch als Darstellungsmittel bedienen könne, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verletzen. Dabei muß er in sämtlichen Gebieten der Sprachen nicht fremd sein und sich mit den allgemeinen Hilfsmitteln überall durchzuhelfen wissen, wo nicht Schwierigkeiten sind, deren Auflösung nur durch höhere philologische Kunst zu bewirken ist. Im Lateinischen muß er daher im ganzen den Cicero, Livius, Horaz auch ohne Vorbereitung geläufig lesen, mit genauerer Überlegung auch den Tacitus. Das Lateinische muß er rein und fehlerlos ohne Germanismen schreiben und über angemessene Gegenstände einfach und grammatisch richtig sich auch mündlich ausdrücken lernen. Im Griechischen muß die attische Prosa und der Homer ohne Vorbereitung verstanden werden, mit Hilfe eines Wörterbuchs auch ein tragischer Chor. Ein leichtes deutsch diktiertes Thema muß in allen Teilen sprachrichtig und ohne Fehler gegen den Akzent niedergeschrieben werden können. Im Hebräischen muß der künftige Theologe fertig lesen, der Formen mächtig sein und leichte Stellen aus den historischen Büchern verstehen. Gelesen werden mag in II Livius, Cicero, Virgil, Xenophon, Homer, in I Cicero, Tacitus, Horaz, daneben auch Terenz, Plautus u.a., Homer, Sophokles, Herodot, Plato, Demosthenes. In beiden oberen Klassen muß bei der Erklärung der Alten und in allen Lektionen antiquarischen Inhalts lateinisch gesprochen und die Fertigkeit in lateinischer Rede fleißig geübt werden. Im Deutschen muß der Sinn für Schicklichkeit und Angemessenheit ausgebildet werden, ebenso für die verschiedenen Gattungen der Schreibart, für das Rhythmische und die Verständlichkeit des Einzelnen und Ganzen, welche Übung in der Interpretation den Schüler einerseits für das Verhältnis der Theorie der redenden Künste, andererseits für die Interpretation der alten Schriftsteller auf der Universität vorbereitet. Die klassischen Schriftsteller der Nation müssen dem Jüngling mehr als dem Namen nach bekannt werden." Auch hier waren Lektüre und Übungen im schriftlichen und mündlichen Vortrag die Unterrichtsmittel. Ab II lag der Schwerpunkt auf der "Lektüre in allen Gattungen klassischer Werke, aus dem 18. und aus früheren Jahrhunderten, in Prosa und Poesie." Der Unterricht in Mathematik war folgendermaßen aufgebaut: "In V beginnen Algebra und Geometrie, in IV Theorie der Gleichungen und Geometrie nach dem 6,. 11,. 12. Buch des Euklid, in III Logarithmen und analytische Geometrie; geometrische Konstruktion fällt als zu zeitraubend weg und kann unter Leitung des Lehrers Objekt häuslicher Beschäftigung werden; in II Lehre von den Reihen, ebene und sphärische Trigonometrie, Kegelschnitte; in I Gleichungen 3. und 4. Grades, Anfangsgründe der unbestimmten Analytik, Fortsetzung der Lehre von den Reihen, Wahrscheinlichkeitsrechnung; daneben in der Hälfte der Stunden angewandte Mathematik, besonders die mechanischen Wissenschaften." Mit diesem Lehrplan war das moderne Gymnasium in Preußen konstituiert. Eine harmonische Ausbildung aller Kräfte des Geistes durch Sprachen und Literatur, durch Mathematik und Realwissenschaften war das Ziel des Unterrichts. Der Abiturient wurde mit einer allseitigen, formalen Bildung des Verstandes, sicherem Können in den Sprachen, die zur Gelehrsamkeit nötig erachtet wurden, einem bedeutenden Maß von Fertigkeiten und Einsichten in den mathematischen Wissenschaften, endlich einem umfassenden Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse auf dem Gebiet der natürlichen wie der geschichtlichen Welt in das Leben entlassen.
Wirkung der IdeenDer Griechischunterricht war Humboldts ureigenstes Anliegen, und er hat ihn gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt. Wie recht er hatte, wie glänzend seine Erwartungen erfüllt wurden, zeigte sich an dem enormen Eifer und der Begeisterung, auf die dieses Studium auch in breiteren Schichten der Bevölkerung stieß. Die neuhumanistische Pädagogik, die den Nützlichkeitsgedanken durch das griechische Ideal des Gottmenschen ersetzte, wurde zu einer überwältigenden, mitreißenden Strömung, die Rationalismus und Aufklärung aus Schulen und Universitäten regelrecht hinwegschwemmte. Bereits 1812 stellte die Sektion fest: "Was ... die alten Sprachen betrifft, so sind sie zu allgemein unter uns Deutschen als das eigentliche Medium jeder höheren Bildung anerkannt, als daß auch nur zu besorgen wäre, sie könnten jemals aus unserer gelehrten Schule vertrieben werden." Wie wirksam Humboldts Reform war, zeigt eine Bemerkung der Deputation aus demselben Jahr, wonach das Studium des Griechischen solche Fortschritte gemacht habe, daß jeder Gebildete, auch der Angehörige des Mittelstandes, diese Sprache kennen müsse. Daher sei die Stundenzahl zu vermehren und Freistellung nicht mehr zu bewilligen, vielmehr der freiwillige Anfang in Quinta zu begünstigen. Auch das Deutsche erhielt nun einen ersten Platz in der Geistesbildung. Nicht nur verstanden im 19. Jahrhundert alle Studierenden Griechisch, etwas, das in zurückliegenden Epochen von einigen immer wieder gewünscht, aber als völlig utopisch zurückgewiesen worden war, sondern auch weit über diese Schicht hinaus gehörte das Griechische zur Vorbildung und zur Alltagskultur. Viele Baumeister, Postbeamte, Offiziere, Kaufleute, Chemiker, Zahnärzte und Angehörige anderer nicht wissenschaftlicher Berufe kannten "ihren" Homer in- und auswendig und konnten zumindest ganze Passagen daraus in Griechisch rezitieren. Der berühmte Heinrich Schliemann, der aus einfachen Verhältnissen stammte, ist ein Beispiel dafür. Der Adel, der als herrschender Stand bisher der Träger der Bildung und Kultur gewesen war, verlor diese Stellung an das Bürgertum. Die Bildung des Adels war französisch gewesen, seine Kultur ebenfalls. Von den Höfen aus hatten Rationalismus und Aufklärung die Universitäten erobert und waren in die allgemeine Bildung eingedrungen. Nun wendete sich das Blatt. An die Stelle der französischen Bildung trat die hellenistisch-deutsche. Das Griechische war wahrhafte Menschenbildung und galt bald als höher und vornehmer. Mit dem Griechischen gewann auch das Deutsche an Bedeutung. Die lateinische Imitation trat zurück, das Deutsche rückte als Sprache der Literatur und der Bildung, der Philosophie und der Wissenschaft in den Mittelpunkt. Schließlich mußte sich auch der Adel entschließen, den Prinzen und Grafen griechisch beibringen zu lassen, wollte er im öffentlichen Ansehen nicht zurückstehen. Humboldt hatte der Aristokratie des Adels die Aristokratie des Geistes gegenübergestellt, und seine Erwartungen wurden auf das schönste erfüllt. In dem Maße, wie sich das Griechische in der allgemeinen Bildung durchsetzte, wurde die höfische Kultur auf den zweiten Rang verdrängt. Zum ersten Mal wurde das Bürgertum dank seiner höheren, vom griechischen Humanismus geprägten Kultur formgebend für den "ersten" Stand, den Adel. Während die ganze Welt wie gebannt nach Frankreich starrte, wo die großen Schlagzeilen produziert wurden, vollzog sich die wahre Revolution, eine tiefgehende und dauerhafte Änderung der Gesellschaft, still und weitgehend unbeachtet in Preußen.
Die Glanzzeit der SchuleIn den Erinnerungen einiger, die in der "Glanzzeit der Schule", die zwischen 1810 und 1837 datiert wird, zur Schule gingen, läßt sich der Geist, der damals herrschte, am ehesten wiedergeben. Im Lehrplan des Jahres 1837 wurde Latein wieder zum dominierenden Hauptfach aufgewertet und das Griechische an die Peripherie gerückt. In dem herrlichen Buch von Friedrich Paulsen "Geschichte des gelehrten Unterrichts" (siehe Kasten) sind Beispiele aus dieser fruchtbarsten Zeit, die die Schulen je erleben durften, abgedruckt. Die folgenden Auszüge sollen einen Eindruck vermitteln: "Die Leitung des alten akademischen Gymnasiums in dem eben preußisch gewordenen Danzig übernahm 1817 A. Meineke (1790 bis 1870) ... Als seine Aufgabe ... sah er an: erstens das französische Wesen, dessen Nachwirkung noch zu bemerken war, zu entfernen, zweitens, ,die vorzugsweise kaufmännische und handeltreibende Bevölkerung Danzigs nicht in den materiellen Bestrebungen verkommen zu lassen, sondern sie auf den humanistischen Standpunkt emporzuheben'. Der Schulunterricht wurde darauf gestellt, das ,jugendliche Gemüt mit dem Marke des Altertums zu kräftigen'. Am meisten wurde auf die Dichter Gewicht gelegt, vor allem waren ihm die griechischen Tragiker wert; die Chöre pflegte er selbst vorzulesen und gab dazu eine poetisch gefärbte Übersetzung. Es wurde rasch gelesen, zwei oder drei Tragödien in einem Semester mit zwei oder drei wöchentlichen Stunden; grammatische und lexikalische Bemerkungen nicht über das Notwendige ausgedehnt. ,Durch Privatlektüre den Kreis der Lektüre erweitern und dadurch zugleich die Selbsttätigkeit zu erregen war eines der Hauptgeheimnisse seiner Wirksamkeit ... Ebenso wurde im Interesse der Selbsttätigkeit auf die Produktion, prosaische und poetische, großes Gewicht gelegt; schon in V begannen prosodische Übungen, die dann von III auf zu poetischen Versuchen wurden ... Die Leistungen der Anstalt waren unter der alles belebenden Leitung des jugendlichen Direktors ... vorzüglich. Lehrs, der unter ihm Lehrer war, rühmt, es sei alles wie von selbst gegangen, man sah nichts von Maschinerie, Meineke dirigierte, soviel man sah, allein mit seiner Charis." "Das Wittenberger Gymnasium wurde auf der neuen Grundlage von Franz Spitzner (1787-1841) ... organisiert; er stand demselben von 1814-1820 ... vor ... Die Zahl der Klassen betrug nur vier, Untertertia als besondere Klasse gerechnet; in ihnen unterrichteten sechs bis acht Lehrer etwas über 100 Schüler ... Latein wurde mit sieben bis acht Stunden durch alle Klassen getrieben ... Griechisch begann in U III mit vier Stunden; in O III und II kamen auf Xenophon und Homer vier Stunden, auf Grammatik und Übungen eine Stunde; in I auf Plato (Apologie und Gorgias) zwei, Ilias und Sophokles anfangs zwei, später vier Stunden, auf Grammatik und stilistische Übungen eine Stunde. Mathematik wurde mit vier Stunden, Naturwissenschaften mit zwei Stunden durch alle Klassen getrieben ... In dem Leben Ritschls von Ribbeck kann man sehen, wie dieser Unterricht auf einen begabten Schüler wirkte. Ein längeres griechisches Gedicht über die Schlacht bei Breitenfeld, beim Reformationsfest 1824 vorgetragen, ist in seinen kleinen Schriften... abgedruckt; es zeigt, mit welcher Freiheit der 18jährige Primaner in der Homerischen Form und Sprache sich bewegte." Spitzner beteiligte ältere Schüler am Unterricht und an der "Handhabung der Disziplin; sie wurden zu Inspektoren und Famulis ernannt", eine Methode, die äußerst segensreiche Wirkung gehabt habe. Paulsen berichtet, daß in der Oberstufe der Gelehrtenschulen z.B. Homer im Original gelesen, dann Abschnitte daraus in lateinische und deutsche Verse übertragen wurden und umgekehrt. Metrische Übungen haben offenbar viel Raum eingenommen. Über das Gymnasium zu Frankfurt an der Oder, dem E. Poppo von 1817 bis 1863 als Direktor vorstand, berichtet Paulsen: "Poppo ... sprach und schrieb nicht bloß lateinisch, sondern auch griechisch leicht und fließend. In I dozierte er ausschließlich in lateinischer, hin und wieder jedoch interpretierte er griechische Autoren in griechischer Sprache ... Die Lektüre (im Griechischunterricht) beginnt in III mit Lucian, Xenophon, Homer; Lucian wird auch der häuslichen Lektüre empfohlen. In II werden vorzüglich Homer, Herodot und Xenophon gelesen; in I im ersten Semester von Prosaikern Plutarch, Isokrates, im zweiten Thucydides, im dritten Demosthenes, im vierten Platons kleinere Dialoge, im fünften Phaedo; von Dichtern im ersten Semester Homer, Hesiod, die Bukoliker, im zweiten Euripides, im dritten und vierten Sophokles und Aristophanes, im fünften Euripides, im dritten und vierten Sophokles und Aristophanes, im fünften Aeschylus und Pindar ... Um den Rhythmus der Homerischen Verse zur Empfindung zu bringen, können Versuche, die Verse nachzubilden, nicht erlassen werden. Sie beginnen mit Herstellung turbierter Verse und gehen dann zu eigenen fort. Auch in deutsche Verse werden die griechischen übersetzt; sonst natürlich ins Lateinische ... Vom zweiten Semester ab werden durchaus freie griechische Arbeiten geliefert, historische, oratorische, philosophische Dialoge; daneben auch Kommentare oder Übersetzungen aus Tacitus oder Cicero. Zuweilen müssen auch poetische Arbeiten geliefert werden; der Schüler muß alle leichteren metra nachbilden lernen." Damit die Skeptiker sich selbst einen Eindruck von der Wirksamkeit dieser Unterrichtsmethode verschaffen konnten, zeigte Direktor Poppo gerne eine "über einen Bogen lange Rede" auf griechisch, die einer seiner Schützlinge einige Monate vor seinem Abschluß eingereicht hatte. Voller Stolz wünscht der Direktor, "daß man bei der Beurteilung nicht bloß die grammatische Richtigkeit, die attische Sprache, den Wohlklang, sondern auch den Geist des Altertums beachte, um zu erkennen, ob unsere Schüler bloße Wörter aus den Alten lernen, oder ob sie erkennen, was im Altertum so herrlich strahlte und jetzt von der Erde verschwunden ist". Paulsen faßt diese "Glanzzeit der Schulen" zusammen: "So begegnen wir in dem ersten Jahrzehnt nach der neuhumanistischen Reformation der Gymnasien überall fröhlicher Tätigkeit. Jugendliche Männer, selbst von den neuhumanistischen Ideen begeistert, gehen mit Begeisterung an das Werk, die Jünglinge mit diesen Anschauungen zu durchdringen und sie zu freien und wahrhaft gebildeten Menschen zu machen ... Sie besaßen, was die erste Bedingung der Wirksamkeit in der Schule ist: den Glauben an die Sache, an den ewigen Wert und die unvergleichliche Würde des Altertums. Sie erfreuten sich dazu, und das ist die zweite Bedingung fruchtbarer Wirksamkeit, weitgehender Freiheit und Selbständigkeit, sie konnten ihre ganze Persönlichkeit in den Unterricht legen und ihn ganz nach den eigenen Ideen gestalten, ungehemmt durch Reglements und Kontrollen, unbesorgt um Mißdeutungen oder Denunziationen, wie sie bald die Tätigkeit des Lehrer von allen Seiten umgeben sollten. In dieser Zeit blickte alles mit Vertrauen und Hoffnung auf die Schule, die die bessere Zukunft herbeiführen helfen sollte. Und damit war denn die dritte Bedingung des Gedeihens der Schularbeit gegeben: die Lust und Liebe der Lehrer zum Beruf. Die herkömmlichen Klagen über die Beschwerlichkeit und Unfruchtbarkeit des Schulmeistertums verstummen in dieser Zeit. Dafür erklingt hin und wieder begeistertes, ehrlich empfundenes Lob auf das Schulamt. ,Mit Freudigkeit', sagt der scheidende Lehrer Jacobs in der Rede, mit welcher er von der Gothaer Schule Abschied nahm, um nach München überzusiedeln (1807), ,bekenne ich hier, daß ich in diesem Geschäft immer die Heiterkeit und den frohen Sinn wiedergefunden habe, der mir etwa durch andere Verhältnisse entwichen war; daß ich diese Zimmer oft voll Unmuts betreten, aber nie mit Unmut verlassen habe. Gibt es etwas Erfreulicheres, als die ununterbrochene Beschäftigung mit der Blüte der Künste und Wissenschaften, wie sie in den schönsten Zeiten, von den edelsten Menschen, unter den ruhmvollsten und geistreichsten Völkern gepflegt worden? Oder wäre ein würdigeres Geschäft zu denken, als den Sinn für das Edelste und Schönste, was sich je in dem menschlichen Geiste gestaltet hat, andern zu öffnen, und die empfänglichen Seelen einer unverdorbenen Jugend mit des Altertums Größe und Hoheit zu nähren?'" Ein schönes Beispiel für den herzlichen und ganz persönlichen Umgang, den damals Lehrer und Schüler miteinander pflegten, erzählt uns der Sprach- und Mathematiklehrer des großen Mathematikers Bernhard Riemann, Schmalfuß, in seinen Erinnerungen: "Im ersten Jahr seines Primabesuches bat er mich um mathematische Lektüre: ,Wenn sie nicht zu leicht wäre', fügte er in seinem bescheidenen Tone hinzu, ,so wäre es mir recht lieb!' -- Ich wies ihn an mein Bücherbrett. Da kam er dann mit Legendre: Theorie der Zahlen. ,Versuchen Sie', war meine Antwort, ,was Sie verstehen.' Das war am Freitagnachmittag. Am Donnerstag darauf brachte er mir das Buch wieder: ,Wie weit sind Sie darin gekommen?' -- ,Das ist ja ein wunderbares Buch; ich weiß es auswendig!' -- Bei der Reifeprüfung, bis wohin er das Werk nicht wieder vor Augen gehabt hat, bewies er, daß ihm alles, worauf ich als Examinator mich nicht ohne Mühe vorbereitete hatte, um angemessene Aufgaben nach Legendre zu stellen, geläufig war ... In der Prüfungskommission, die über Riemanns Zensur abzustimmen hatte, konnte ich mit gutem Recht (sagen) ..., daß ich Riemann ungleich mehr verdanke als er mir ... Ich für meinen Teil habe es immer für ein großes Glück angesehen, daß ich einen solchen Schüler wie Riemann gehabt habe, und ich bin ihm noch heute für die vielfachen Anregungen, die er mir gegeben hat, und für die Freude, die ich an seiner wunderbaren Begabung und Entwicklung gehabt habe, für meine ganze Lebenszeit dankbar." Für sehr viele Lehrer gab es kein "würdigeres Geschäft", und der Lehrerberuf rückte sehr schnell von einem verachteten Notbehelf in eine hoch geachtete Stellung. Die Lehrer an der Gelehrtenschule wurden zu den gelehrtesten Menschen gezählt, sie galten als am umfassendsten gebildet, und der Lehrer stand in der gesellschaftlichen Achtung dem Universitätsprofessor kaum nach. Es gäbe keinen Ort, auch nicht die Universität, an dem man z.B. so sinnreiche Dispute über Philosophie und Philologie führen könne, wie im Lehrerkollegium eines Gymnasiums, hieß es zu jener Zeit, und Zeitgenossen heben die völlige geistige Freiheit, die an den Schulen geherrscht habe, als besonders wohltuend hervor. Hier war der Ort, an dem man über jedes erdenkliche Thema gelehrte Auseinandersetzungen führte, hier fand man sowohl die allumfassende Bildung und hervorragende Kenntnis als auch das freie geistige Klima dafür vor. Auch wenn in den darauffolgenden Jahrzehnten in einigen Aspekten Abstriche von Humboldts Idee einer allumfassenden Menschenbildung gemacht wurden, sein Bildungssystem wirkte so mächtig, zeitigte so herrliche Erfolge, daß es bald in der ganzen Welt einen legendären Ruf genoß. Die Schulen und Universitäten entließen nicht nur hochgebildete, kultivierte junge Menschen, sondern eine Fülle hochbegabter Forscher, Erfinder und Künstler, die große Beiträge in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern leisteten, so daß man bald im Ausland von "deutscher Kultur" und "deutscher Wissenschaft" sprach. Noch in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts hieß es z.B., ein Gelehrter sei in der glücklichen Lage, zwei Vaterländer zu haben: sein eigenes und Deutschland, denn gleichgültig, in welchem Spezialgebiet der Wissenschaft, der Technik oder der schönen Künste er gerade arbeitete, der jeweilige Boden war ganz entscheidend durch Beiträge deutscher Wissenschaftler, die in Humboldts Bildungssystem erzogen worden waren, bereitet worden. Als letzter Zeuge sei noch der amerikanische Schriftsteller Mark Twain erwähnt, der in seinem Buch "Bummel durch Europa", der ihn 1878 auch in Heidelberg Station machen ließ, von dem Eindruck erzählt, den die Studenten auf ihn machten: Der deutsche Student "hat das Gymnasium mit einer Bildung verlassen, die so umfangreich und vollständig ist, daß die Universität höchstens noch einige ihrer tiefgründigeren Spezialgebiete vervollkommnen kann. Es heißt, wenn ein Schüler das Gymnasium verläßt, besitzt er nicht nur eine umfassende Bildung, sondern er weiß, was er weiß -- er ist nicht von Ungewißheit umnebelt, es ist so in ihn hineingebrannt, daß es haftet. Zum Beispiel liest und schreibt er nicht nur Griechisch, sondern er spricht es auch; das gleiche gilt für Latein. Ausländische Jünglinge machen um das Gymnasium einen Bogen; seine Regeln sind zu streng. Sie gehen zur Universität, um ein Mansardendach über ihrer ganzen Allgemeinbildung zu errichten; aber der deutsche Student hat schon sein Mansardendach, darum geht er hin, um ein Türmchen in Gestalt irgendeines Spezialfaches hinzuzufügen, wie etwa eines besonderen Zweiges der Gesetzteskunde oder der Medizin oder der Philologie ..."
Humboldt heuteDas wirklich Frappierende an seiner Leistung ist, wie Humboldt eine bloße Idee, eine ideale Vorstellung von reinem Menschentum in Verwaltungsgrundsätze umsetzte. Die Forderungen, die Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen aufstellte, wonach nur der ästhetische Mensch ein wirklich freier Mensch sei, hat Wilhelm in seiner Bildungsreform realisiert. Er hatte, wie er seiner Frau nach Rom schrieb, bei jedem einzelnen Verwaltungsakt immer nur dieses eine Ziel vor Augen. Wer Humboldt liest, ist von der Aktualität seiner Ideen und seiner Warnungen geradezu bestürzt. Die Schule dürfe sich nicht an der Wirklichkeit, die sie umgibt, anpassen, lautete eine dringende Warnung, sonst werde sie ein Mittel zur wachsenden Entmündigung des Menschen. Wir haben das zugelassen, und wir müssen das Resultat bestätigen. Die verschiedenen Schulformen müßten klar voneinander unterschieden werden, die höhere dürfe nicht Bildungsinhalte der vorausgehenden aufnehmen, forderte er, sonst würde die letztere in der öffentlichen Achtung herabsinken. Auch diesen Grundsatz haben wir mißachtet und so insbesondere die Hauptschule immer weiter degradiert. Die Schule dürfe sich nicht in eine Vielzahl konkreter Bildungsinhalte verlieren, lautete eine weitere Mahnung, sonst vermittle sie Wissen anstelle von Bildung. Es scheint, Humboldt habe das Internet-Zeitalter vorhergeahnt. Gerade angesichts einer unübersehbaren Fülle von Information, einer Flut von konkretem Wissen, mit dem wir konfrontiert werden, ist die Konzentration auf prinzipielle, -- formgebende, wie Humboldt sagen würde -- Inhalte überlebenswichtig für den Geist. Die Masse von Einzelwissen beschleunigt die Partikularisierung des Denkens; wir verlieren uns immer mehr in raffinierte Einzelheiten, und entfernen uns dabei immer weiter von einem wirklich übergreifenden Verständnis unserer Umwelt. Ebenso verhält es sich mit den Eliteschulen, die vor allem in Bayern und allgemein von der Industrie ins Gespräch gebracht werden; sie lösen das Problem nicht. Wie will man denn die "besten" Schüler finden? Im Endeffekt werden die besten diejenigen sein, die gute Schulnoten mit gewandtem Auftreten verbinden. Selbstverständlich hat man dabei "zwei Klassen von Menschen" im Auge, die große Masse der "normalen" Schüler, für die man die Bildung immer weiter bis zum bloßen Mindeststandard absinken läßt, die gerade noch zu brauchbaren Mitgliedern für die Arbeitswelt ausgebildet werden, und die kleine Klasse der Sprößlinge des neuen Geldadels, für die kein kultureller Leckerbissen teuer genug sein kann. Auch die Eliteklassen, wie sie jetzt in Berliner Gymnasien eingeführt werden sollen, zeigen, daß wir keinen Begriff mehr von Bildung haben. Dort sollen in sogenannten "Profilklassen" naturwissenschaftlich "begabte" Schüler bereits in der Oberstufe von Hochschulprofessoren unterrichtet werden. Das ist nun ganz bedenklich. Das ist Erziehung zu hochspezialisiertem Fachidiotentum und leitet zusätzlich noch einen Prozeß der Abwertung der Universitätsbildung ein. Die Schule muß wieder der Ort werden, an dem es um die Darstellung und Beschäftigung mit Ideen geht, an dem sich der Geist in Ruhe formen kann. Nur wenn das Kind sich als Subjekt begreifen lernt, wird es im Leben nicht zum bloßen Objekt gemacht werden können. Es muß eine Idee davon bekommen, daß es etwas Höheres, Schöneres gibt, als was es jeden Tag erfahren muß. Deshalb muß die Schule notwendigerweise in einer Antithese zur Wirklichkeit stehen, sie muß Ideale aufstellen, und was wäre als Gegenpol zu unserem verwilderten, verflachten Zeitalter besser geeignet als die alten Griechen. So kann der Schüler die Wirklichkeit überprüfen, und er wird sie ganz ohne Frage dann auch verändern wollen. Auf diese Weise bildet man auch politische Staatsbürger heran, woran doch den Bildungsbastlern der letzten 30 Jahre angeblich so gelegen war, und nicht, indem man Kinder von klein auf mit Parolen konditioniert. Wir stehen an einer ähnlichen Wegkreuzung wie der, an der sich vom Stein und Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden, und wir haben Entscheidungen zu treffen, die von der exakt gleichen Tragweite sind wie damals. Sämtliche Vorschläge, die die gegenwärtige Debatte um Erziehung bestimmen -- von der Verkürzung der Schulzeit bis zum praxisorientierten Unterricht, von der Diskussion über Eliteschulen bis zur Privatisierung von Schulen und Universitäten --, würden Verhältnisse im Bildungswesen einführen, wie sie vor den Humboldtschen Reformen herrschten. Jünger, moderner, "zeitgemäßer" ist Humboldts Bildungskonzept, und es ist das einzige, das für die vielfältigen Probleme, die die heutige Jugendkultur kennzeichnet, eine kohärente Antwort geben kann. Wir müssen das allgemeine Bildungsniveau drastisch anheben, und zwar nicht nur für einige ausgewählte Kinder, sondern für alle gleichermaßen. Nicht Vermittlung von abfragbarem Wissen, keine Abrichtung durch praxisorientierten Unterricht, sondern Bildung des jungen Menschen zur abgerundeten, individuellen Persönlichkeit lautet der Ruf unserer Zeit. Damit entsprächen wir den Erwartungen der Wirtschaft an Berufsanfänger mit einer fundierten, breiten Bildung, auf der man jedes Spezialwissen schnell erlangen kann, den Wünschen des Staates nach verantwortungsvollen, am Gemeinwohl orientierten Bürgern und den Forderungen an die Humanität, die verlangt, daß wir den Heranwachsenden zuallererst als Menschen und dann als künftigen Berufstätigen behandeln, gleichermaßen. Dabei können wir Humboldts Schulreform so übernehmen, wie sie dasteht, denn sie konzentriert sich auf die Grundsätze der Organisation der Schule und ihres Unterrichts. Humboldts Bildungsideal ist die einzig mögliche Antwort auf die große Not unserer Zeit. |
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