Zurück zum Journal

  November 2004 Journal (Texte)

Zu Schillers 245. Geburtstag: "Schiller selber lesen!"

"Dreiundzwanzig Jahre, und nichts für die Unsterblichkeit getan!"

Von Helga Zepp-LaRouche, Bundesvorsitzende des Schiller-Instituts

"...und nichts für die Unsterblichkeit getan", - diesen Satz schleudert Don Carlos seinem Vater Philipp entgegen, als er ihn bittet, ihm und nicht Herzog Alba das Oberkommando über das Heer zu geben, das er in die aufrührerischen flandrischen Provinzen führen möchte, um Albas Unterdrückung zuvorzukommen und selber dort Frieden zu stiften. Schiller war selber 24 Jahre jung, als er mit der Arbeit am Don Carlos anfing, und 28, als er ihn endlich aufführen konnte. Und diese Idee, wie der Mensch sein "fliehendes Schicksal an der unendlichen Menschenkette befestigen" und Unsterblichkeit erringen könne - das war eine Frage, die Schiller sein ganzes Leben lang bewegte und die für unsere Zeit heute brandaktuell ist.

Das Schiller-Institut feiert in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag, und es bietet sich an, noch einmal darüber zu berichten, warum es mir bei seiner Gründung notwendig schien, die Anstrengung für die Anwendung der Staatskunst und für die Verbesserung der außenpolitischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationen der Völkergemeinde mit Schillers Namen zu verbinden. Es war und ist meine Überzeugung, daß niemand ein großartigeres Menschenbild und eine edlere Idee von der Menschheit entworfen hat als eben Schiller. Was lag also näher, als den Namen unseres Freiheitsdichters zur Metapher für das Ziel einer gerechteren Weltordnung werden zu lassen?

Aller Voraussicht nach wird im Jahre 2005, in dem sich der Todestag Schillers zum 200. Mal jährt, das Interesse an Schillers Werk erheblich ansteigen. Die Leser, vor allem die jugendlichen Leser, sind aber gut beraten, Schillers Texte selber zu lesen und sich nicht auf die Froschperspektive der diversen "Event-Autoren" einzulassen, die den Büchermarkt mit ihren trivialen Projektionen über Schillers angebliche Abenteuer als Frauenheld oder ähnlichem Quatsch überfluten. Schillers Schriften selbst zu lesen ist in der Tat der einzige Zugang; die Bühne ist es sicherlich nicht, da es an Deutschlands Theatern seit Jahrzehnten keine Aufführung der Dramen Schillers gegeben hat, die nicht von den geistigen Blähungen der Vertreter des Regietheater unkenntlich gemacht worden wäre.

Warum ist dies so? Es gibt mehrere Gründe dafür. Der wichtigste liegt darin, daß die Freiheitsideale und die Methode Schillers, die Menschen zu ihrer inneren Größe zu erziehen, den oligarchischen und reaktionären Kräften schon immer ein Dorn im Auge waren. Als nach dem Wiener Kongreß die Hoffnung, die Amerikanische Revolution in Europa zu wiederholen, endgültig verschwunden war, wurde Schillers Werk sogar durch die Karlsbader Beschlüsse verboten. Für die Studenten von damals stieg damit das Interesse an Schiller um so mehr, und sie zirkulierten und lasen seine Schriften gewissermaßen im Untergrund. Aber auch die Nationalsozialisten fürchteten den Geist des Dichters; Goebbels ließ Wilhelm Tell verbieten, weil er offensichtlich befürchtete, daß aus dem Stück eine Aufforderung zum Tyrannenmord abgeleitet werden könnte.

Aber auch nach 1945 erging es unserem größten Dichter nicht viel besser. Zwar gab es durchaus noch einige humanistisch gebildete Deutschlehrer, die Schiller in den zwei Jahrzehnten bis zur Brandtreform in den Oberstufen der Gymnasien im Unterricht behandelten, aber gleichzeitig setzte der Großangriff auf die deutsche Klassik ein. Die kulturelle Kriegsführung der anglo-amerikanischen Besatzungsmächte mit Hilfe des sogenannten "Kongresses für kulturelle Freiheit" hatte es sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Bevölkerung vollständig von ihren kulturellen Wurzeln abzuschneiden. Das amerikanische Außenministerium und die CIA steckten gigantische Summen in dieses Projekt, und es gab damals kaum eine kulturelle Initiative, die diesem Übernahmeversuch entging.

Die Frankfurter Schule, deren Vertreter nur allzu bereitwillig bei der "Umerziehung" der Deutschen mitarbeiteten, war ein integraler Bestandteil dieser Kriegsführung. Adorno entblödete sich nicht, Schiller als Faschisten zu bezeichnen. Wenn man bedenkt, daß die Professoren der Frankfurter Schule die Mentoren der 68er Generation waren, dann wird deutlich, daß diese Propheten der sogenannten kritischen Methode, die z.T. offen, wie Herbert Marcuse, z.T. indirekt für die CIA arbeiteten, mehr geistigen Schaden in Deutschland angerichtet haben, als Bomber Harris in Dresden Häuser vernichten konnte.

Eine Mißgeburt des 68er Paradigmenwandels war das Regietheater. Mochte es 1968 zumindest ein neuer Einfall sein, wenn Hans Neuenfels auf Flugblättern forderte, den Trierer Dom abzureißen und die Großmutter zu erschlagen, dann haben sich die "Happenings" in den 36 Jahren, in denen sie seitdem als Regietheater ad nauseam auf den Bühnen wiederholt werden, zu einem stinkenden Pfuhl von Langeweile entwickelt. Sich zum eintausendsiebenhundertfünfundachzigsten Mal auf der Bühne nackt auszuziehen, ist nicht originell.

Genauso, wie man leider feststellen muß, daß die wenigsten Schauspieler heute schön zu sprechen gelernt haben, ist es ein Tatbestand, daß die Regisseure des Regietheaters, die meinen, so furchtbar originell und modern zu sein, in Wahrheit Schiller einfach nicht verstehen. Als die Französische Revolution im Terror unterging und damit die Hoffnungen aller europäischen republikanischen Kräfte auf naturrechtlich begründete Verfassungsstaaten zunichte gemacht wurden, befand Schiller: "Ein großer Augenblick hat ein kleines Geschlecht gefunden", die objektive Möglichkeit habe bestanden, aber die subjektive, moralische Möglichkeit habe gefehlt. Genauso ist es mit den Vertretern des Regietheaters heute: Sie könnten den großen Schiller theoretisch verstehen, aber sie sind zu klein in ihrem Denken, denn wie kann man das Erhabene darstellen, wenn man absolut unfähig ist, erhaben zu denken und zu handeln?

Wenn Jugendliche aber direkt Schiller lesen, ohne die "Bearbeitung" durch existentialistische Besserwisser, besteht diese subjektive Schwierigkeit in viel geringerem Maße, weil junge Leute viel besser mit dem Enthusiasmus Schillers klarkommen als die brotgelehrten Autoren und futuristischen Dramaturgen. Denn gerade weil unsere Zeit so prosaisch ist, und gerade weil unsere Gegenwart so arm ist an herausragenden welthistorischen Individuen, wirken viele Ideen Schillers wie köstliche Speisen aus einem verlorenen Paradies - das aber wiederentdeckt werden kann. Wer einmal von diesen Speisen gekostet hat, dessen Appetit ist nicht zu stillen, der wird einen gargantuanischen Hunger entwickeln.

Ideen wie die, daß sich Marquis von Posa als "Abgesandter der Menschheit" verstehen kann, daß jeder Mensch eine "schöne Seele" werden kann, daß man zur Wahrheit nur durch die Schönheit gelangen kann, daß die Freude ein schöner Götterfunken ist, daß auch heute noch "Männerstolz vor Königsthronen" angebracht ist, oder der Begriff des Erhabenen - Ideen wie diese sind gerade deshalb für Jugendliche so faszinierend, weil sie ihnen von der Popkultur so vollständig vorenthalten werden. Wer sein ganzes Leben lang nur Haferschleim essen durfte, dem wird eine knusprig gebratene Ente oder ein frischer Apfelkuchen mit Schlagsahne ein neues Universum eröffnen.

Und wenn Schiller in seiner Zeit schon die innere Zerissenheit der Menschen beklagte, um wieviel mehr würde er den Zustand unserer Zeitgenossen mit diesen Worten charakterisieren:

"Vielmehr ließe sich auch in unsren unpoetischen Tagen, wie für die Dichtkunst überhaupt, also auch für die lyrische, eine sehr würdige Bestimmung entdecken; es ließe sich vielleicht dartun, daß, wenn sie von einer Seite höheren Geistesbeschäftigungen nachstehen muß, sie von einer anderen nur desto notwendiger geworden ist.

Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unserer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt. Sie allein kann das Schicksal abwenden, das traurigste, das dem philosophischen Verstande wiederfahren kann, über dem Fleiß des Forschens den Preis seiner Anstrengungen zu verlieren und in einer abgezogenen Vernunftwelt die Freuden der wirklichen zu ersterben. Auch aus noch so divergierenden Bahnen würde sich der Geist bei der Dichtkunst wieder zurechtfinden und in ihrem verjüngenden Licht der Erstarrung eines frühzeitigen Alters entgehen..."

Also, Dichtkunst als Impfstoff gegen die Baby-Boomer-Krankheit und die 68er-Maladie, das ist doch was!

Aber es gibt noch einen ernsteren Grund, warum wir uns heute von Schillers Gedanken und seiner Größe beflügeln lassen sollen. Denn leider verheißt die Wiederwahl von George W. Bush nichts Gutes für die nächste Zukunft. Sie bedeutet, daß die Welt derzeit ungebremst in eine globale Depression stürzt, und die nächsten Monate und Jahre mit relativer Gewißheit von einer Reihe von dramatischen Krisen gekennzeichnet sein werden. Lyndon LaRouche hat immer wieder betont, daß die Menschheit nur aus ihrer gegenwärtigen existentiellen Krise herausfinden kann, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen es schafft, auf der Ebene des Erhabenen zu denken und nach den Gesetzen der Klassik Lösungen für diese Krisen zu finden. Und es gibt niemanden, der uns dazu mehr inspirieren kann als Friedrich Schiller!

 


Zurück zum Anfang Zurück zum Journal