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  Oktober 2004 Konferenz 2004

Acht Millionen Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung sind möglich

EIR-Wirtschaftsredakteur und BüSo-Berater Lothar Komp sprach auf der Konferenz des Schiller-Instituts im September über die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Systemwechsels.


Vier Jahrzehnte Niedergang
Paradebeispiel für globalisierte Dummheit

Investitionsoffensive

Das Wirtschaftswunder

Wenn von der Weltwirtschaftskrise die Rede ist, denkt hierzulande wohl so mancher: "Ja sicher, vielleicht woanders, aber hier bei uns in Deutschland ist das doch anders. Bei uns gibt es doch noch einigen Wohlstand." Die Wahrheit ist: Uns ist zwar noch einiges an Wohlstand geblieben, aber gerade die Wirtschaftspolitik und die Bereiche (wie der industrielle Mittelstand), die diesen Wohlstand geschaffen haben, werden aufgegeben und systematisch zerstört. Denn in einer Welt der Globalisierung, wo Investitionen in Infrastruktur und Unternehmen unterbleiben und der Lebensstandard der Haushalte rasch sinkt, hat auch ein Mittelstand keine Chance.

Wo liegt das Problem? Wir haben es oft gesagt: Es liegt nicht am Geld! Geld ist ein technisches Problem, das gelöst werden kann. Das größte Problem besteht in den Köpfen der Menschen!

Das haben wir wieder festgestellt, als wir unser Programm "Acht Millionen neue Arbeitsplätze für Deutschland" vorstellten. Ob es Wirtschaftsfachleute waren, Regierungsmitarbeiter, ja sogar Gewerkschaftler oder Leute aus linken Parteien, alle antworteten praktisch genau das gleiche: "Was schlagen Sie denn da vor? Ist das nicht verrückt? Acht Millionen Arbeitsplätze, das ist doch völlig ausgeschlossen! Man sollte lieber erst gar nicht davon anfangen, solch ein Versprechen kann man doch ohnehin nicht halten."

Es gibt heutzutage sogar bei der PDS Leute, die steif und fest behaupten, die Regierung könne keine Arbeit schaffen. "Vielleicht früher einmal, aber in der heutigen Welt nicht mehr." Und die Politik der Gewerkschaften beispielsweise besteht nur darin, Maßnahmen wie Hartz IV zu verhindern, bremsen oder zu "verbessern" - aber einen Lösungsvorschlag haben sie nicht, weil sie glauben, die ganze Entwicklung sei ohnehin unaufhaltsam, und weil sie keine positive Alternative kennen. So etwas macht natürlich depressiv.

Als erste Schlußfolgerung läßt sich daraus ableiten, daß wir als BüSo in Deutschland konkurrenzlos sind, wenn es darum geht, eine Lösung anzubieten. Keine andere Partei, Gewerkschaft, Vereinigung hat irgendein Programm zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit anzubieten.

Und das ist kein Zufall. Denn der Grund für die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ist die Systemkrise, die Finanzen, Währungen und Realwirtschaft trifft, und die sich auch nur durch eine Änderung des Systems überwinden läßt. Deshalb muß der erste Schritt hin zu einer positiven Alternative darin bestehen, diese Tatsache anzuerkennen und zuzugeben, daß das heutige Währungs-, Finanz- und Wirtschaftssystem mit allen seinen Dogmen bankrott ist und ersetzt werden muß. Und wenn man sich mit Wirtschaftsgeschichte befaßt, wird man leicht feststellen, daß es vor noch gar nicht so langer Zeit, vor wenigen Jahrzehnten, diese verrückte Politik noch nicht gegeben hat und wir ohne sie ziemlich gut gefahren sind.

Es gibt eine Lösung, aber dafür muß man das System ändern.

Vier Jahrzehnte Niedergang

Betrachten wir nun die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Sie dürfen sicher sein, daß es in anderen Ländern Europas nicht besser ist. Schauen wir einmal, was die vorherrschenden wirtschaftstheoretischen Schulen über Arbeitslosigkeit sagen.

Da ist zuerst die neoliberale Schule, die behauptet: "Es gibt kein Beschäftigungsproblem, denn aus neoliberaler Sicht ist Arbeitslosigkeit per definitionem immer freiwillige Arbeitslosigkeit." Denn der Neoliberale denkt so: Es gibt einen Arbeitsmarkt, da treffen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, um über Jobs und Lohnniveau zu verhandeln. Der Unternehmer bietet an, jemanden zu einem bestimmten Lohn anzustellen, und der Arbeiter kann das annehmen oder ablehnen. Und es gibt immer irgendwo eine Grenze, vielleicht bei 1 Euro Stundenlohn statt 20 Euro Stundenlohn, wo der Unternehmer sagen wird: Jawohl, für diesen Lohn bekommen Sie die Stelle. Und wenn jemand arbeitslos ist, kann das daran liegen, daß der Betreffende antwortet: "Nein, für einen so geringen Lohn arbeite ich nicht." Also gibt es nur freiwillige Arbeitslosigkeit. Das war eines der Axiome der liberalen Schule.

Als allerdings in den 20er und 30er Jahren die Große Depression kam, stand man mit dieser Theorie doch ziemlich dumm da, denn in Amerika und Europa saßen Millionen Menschen auf der Straße. Es war nicht mehr zu übersehen, daß an dieser Theorie etwas nicht stimmte. Deshalb wurde Keynes eingeführt und ein Axiom geändert, damit man die anderen Axiome retten konnte. Seit Keynes akzeptieren die Wirtschaftstheoretiker: "Jawohl, unter bestimmten Umständen ist Arbeitslosigkeit möglich." Das war schon ein gewaltiger Durchbruch: Jetzt wußte man endlich, daß Arbeitslosigkeit möglich war! Und es hieß, sie komme in Wellen, und der Staat müsse deshalb in solchen Zeiten antizyklisch mehr Geld ausgeben, dann lasse sich das Problem lösen.

Die Wirklichkeit ist anders. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist weder freiwillig noch zyklisch, sondern Ausdruck einer Systemkrise.

Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich Deutschland in einer furchtbaren Lage: Große Teile der Infrastruktur und der Gebäude waren zerstört. Dazu kamen noch acht Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die anfangs auch weder Arbeit noch Wohnung hatten. Es kam zu einer Währungsreform, die für viele Menschen sehr hart war. So gingen wir in die 50er Jahre mit zwei Millionen Arbeitslosen hinein (Abbildung 1).

Aber dank einer erfolgreichen, sehr dirigistischen Wirtschaftspolitik konnten wir in den 60er Jahren Vollbeschäftigung erreichen. Ein Jahrzehnt lang gab es ganze 200 000 Arbeitslose. 1968 kam es zu einer Krise mit einer halben Million Arbeitslosen, aber anschließend konnte wieder Vollbeschäftigung erreicht werden.

Aber dann erfolgte Anfang der 70er Jahre ein Phasenwechsel. Das Bretton-Woods-System brach zusammen, und die vernünftige Wirtschaftspolitik wurde in immer stärkerem Maße aufgegeben. Es entstand die weltweite Spekulationsblase, die Preise und die Arbeitslosigkeit stiegen, die "Dienstleistungsgesellschaft" und ähnlicher Unfug wurde eingeführt. Deshalb konnten wir das frühere Beschäftigungsniveau nie wieder erreichen.

Der Höchststand verdoppelte sich mit jedem Jahrzehnt: 1968 eine halbe Million, in den 70er Jahren eine Million, in den 80ern zwei Millionen und vier Millionen in den 90ern. Jetzt sind wir wieder in einer Zwischenphase, und man kann raten, wann die nächste Steigerung auf sechs oder acht Millionen Arbeitslose kommt.

Noch ein Wort zur sog. "freiwilligen" Arbeitslosigkeit. Auf Abbildung 2 sieht man, daß im Westen Deutschlands auf jede freie Stelle durchschnittlich elf Arbeitslose kommen, was schon schlimm genug ist. Aber im Osten sind es 32 Arbeitslose pro freie Stelle. Es gibt also einfach nicht genug Arbeitsplätze, von freiwilliger Arbeitslosigkeit kann nicht die Rede sein.

Diese beiden Abbildungen beziehen sich nur auf die amtliche Arbeitslosenzahl. Ich könnte Ihnen viel darüber erzählen, mit welch seltsamen Methoden die amerikanische Regierung ihre Beschäftigungsstatistik fälscht. Aber auch wir in Deutschland sind nicht ungeschickt darin, Mittel und Wege zu finden, Arbeitslosigkeit zu vertuschen.

Offiziell haben wir 4,3 Millionen Arbeitslose (Abbildung 3). Dazu kommen aber noch andere Kategorien. Eine Million Menschen sind in vorübergehenden Beschäftigungsprogrammen und Umschulungen der Regierung untergebracht. Sie sind in Wirklichkeit arbeitslos, erscheinen aber nicht in der Statistik. Dazu kommt der Vorruhestand, der unter Bundeskanzler Kohl erfunden wurde. Menschen können schon mit 55 Jahren aufhören zu arbeiten und bekommen in der Übergangszeit bis zum Erreichen der "normalen" Altersgrenze etwas Geld. Auch sie tauchen in der Arbeitslosenstatistik nicht auf. Eine weitere Gruppe, die herausgerechnet wurde, ist die "stille Reserve". Das sind zwei Millionen Menschen, die arbeiten wollen, es aber unter den gegebenen Umständen aufgegeben haben, noch nach einer Arbeitsstelle zu suchen.

Wenn man dies alles zusammenaddiert, erreicht die Arbeitslosenzahl das Niveau einer Depression. Je nachdem, inwieweit man Vorruheständler und stille Reserve mitzählt, kommt man auf eine Gesamtzahl zwischen 7,8 und 8,6 Millionen Arbeitslosen. D.h. wenn wir Vollbeschäftigung erreichen wollen, brauchen wir acht Millionen zusätzliche Arbeitsplätze. Eine so große Lücke hat es in Deutschland noch nie gegeben.

Allein die amtliche Arbeitslosigkeit in Deutschland kostet unglaubliche 83 Milliarden Euro im Jahr an zusätzlichen Sozialausgaben, Steuerausfällen und Ausfällen an den Beiträgen zur Sozialversicherung. Aber noch dreimal höher fallen die Verluste für die Produktion und die Haushaltseinkommen durch die nicht vorhandene Beschäftigung aus.

Gleichzeitig hat sich in der deutschen Wirtschaft ein gewaltiger Rückstau an Investitionen gebildet. Es wird immer wieder behauptet, der Konkurrenzdruck billiger produzierender Unternehmen in Osteuropa, Asien und anderswo zwinge uns nach den Regeln der Globalisierung dazu, die Kosten zu senken. Deshalb wird einerseits der Lebensstandard gesenkt und andererseits weniger in die Infrastruktur und die Unternehmen investiert.

Abbildung 4 zeigt eine Schätzung des Investitionsstaus in der kommunalen Infrastruktur. Diese ist in Deutschland sehr wichtig, weil zwei Drittel der Infrastruktur auf die Kommunen, nicht auf Bund und Länder entfallen. Die größte Lücke klafft bei der Wasserversorgung. Es werden dringend ca. 130 Mrd. Euro benötigt, um die Kanalisation zu reparieren, von der ein Teil noch aus der Kaiserzeit stammt. Zehntausende Kilometer unterirdische Kanalisation verrotten vor sich hin. Man kann es zwar noch nicht riechen; aber es entsteht ein Paradies für Ratten. Zugleich geht viel Wasser durch Lecks und andere Schäden an den Leitungssystemen verloren, was den Wasserpreis nach oben treibt. Ähnlich marode ist die Lage beim öffentlichem Verkehr, den Schulen, Krankenhäusern usw. Zählt man alles zusammen, dann fehlen 650 Mrd. Euro an Investitionen in die kommunale Infrastruktur in Deutschland.

Einen vergleichbaren Investitionsstau gibt es bei der Verkehrsinfrastruktur des Bundes wie Eisenbahnen oder Autobahnen und bei den Kraftwerken. In der Europäischen Union müssen wir 2 Billionen Euro in den Energiebereich investieren, wenn wir verhindern wollen, daß es in ein paar Jahren überall in Europa zu anhaltenden Stromausfällen kommt.

Ähnlich wie bei der Infrastruktur sieht es bei den Unternehmensinvestitionen aus. Auf Abbildung 5 sehen wir, wie der Anteil der Investitionen an der deutschen Wirtschaft seit den 60er Jahren gefallen ist. Früher lag er bei 30 Prozent, heute ist er zum ersten Mal seit der Nachkriegszeit unter 20 Prozent gesunken. Erschwerend kommt hinzu, daß ein großer Teil der Investitionen nicht in die Industrie, sondern nur in Dienstleistungen fließt. Wenn man neue Bürogebäude für Banken baut, erhöht das die Produktivität der deutschen Wirtschaft nicht.

Betrachtet man nur die Investitionen in die Industrie - Fabriken, Maschinen usw. - , stellt man fest, daß die Investitionen heute nicht einmal ausreichen, um das Niveau des gegenwärtigen Produktionszyklus aufrechtzuerhalten. Zum ersten Mal sind die Nettoinvestitionen in der deutschen Industrie negativ.

Eine Folge dieses systematischen Investitionsabbaus ist die größte Krise im Bausektor seit dem Zweiten Weltkrieg. Hier arbeiten nur noch halb soviel Menschen wie Mitte der 90er Jahre (Abbildung 6).

Der Industrieabbau ist eines der größten Probleme, das wir mit unserem Wiederaufbauprogramm lösen müssen. Im Westen Deutschlands sieht man z.B. im Ruhrgebiet den Abbau der Industrie sehr deutlich. Aber im Osten ist es noch viel schlimmer.

Abbildung 7 zeigt, wie der Anteil der produktiven Arbeitsplätze an der Gesamtbeschäftigung geschrumpft ist. In den 60er Jahren kam auf einen Arbeitsplatz im produktiven Bereich weniger als ein Arbeitsplatz im nichtproduktiven Bereich. Heute dagegen muß jeder produktive Arbeitsplatz mehr als drei nichtproduktive mittragen.

Paradebeispiel für globalisierte Dummheit

Man könnte noch viele weitere Grafiken über den Niedergang der Realwirtschaft und den Industrieabbau in Deutschland zeigen, aber ich möchte statt dessen die zerstörerische Wirkung der Entindustrialisierung und Globalisierung anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen. Es geht um den Koks-, Kohle- und Stahlbereich.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war Deutschland einer der größten Stahlerzeuger der Welt, einer der größten Kohlelieferanten und der größte Kokslieferant weltweit. Doch in den letzten Jahren dachte man, es wäre doch viel billiger, Kohle aus Polen, Kolumbien oder China einzuführen. Also wurde der deutsche Kohlebergbau weitgehend eingestellt. Ähnlich war es mit Koks, einem Kohleprodukt, das man zur Stahlerzeugung braucht (Abbildung 8). Mitte der 70er Jahre gab es in Deutschland noch 65 Kokereien; heute gibt es nur noch eine einzige, in Bottrop. Man kann sie als Kuriosum besichtigen.

Die letzte Kokerei, die in Deutschland noch in den 90er Jahren gebaut wurde, die Kokerei Kaiserstuhl in Dortmund, war damals die modernste und produktivste der Welt. Doch man entschloß sich, diese Kokerei in zwei Millionen Einzelteile zu zerlegen, in Kisten zu verpacken und nach China zu verkaufen. Die Chinesen sind nicht so dumm wie die Deutschen und meinten: "Wenn ihr sie nicht mehr haben wollt, wir nehmen sie."

Inzwischen ist China der größte Stahlerzeuger der Welt, seine Stahlerzeugung wächst jedes Jahr um 40 Prozent und für diesen Stahl braucht das Land Koks. In den letzten zwei Jahren erzeugte China als einziges Land noch einen Überschuß an Koks, den es in andere Länder exportierte. Und die Importländer dachten, chinesischer Koks ist der billigste, also produzieren wir selbst keinen mehr. Dann aber erklärten die Chinesen, sie könnten jetzt leider keinen Koks mehr liefern, weil sie ihn für ihre eigene wachsende Stahlerzeugung selber brauchten.

Daraufhin brach Chaos aus. Der Kokspreis auf dem Weltmarkt stieg von 50 Euro je Tonne auf 100, 200, 300, 400 Euro. Vor einigen Wochen wurde ein Höchststand von 450 Euro erreicht.

Das löste natürlich auch eine Krise der Stahlindustrie aus. Es kam zu Krisensitzungen der Stahlindustrie mit der Bundesregierung in Berlin. Die Preise für Kohle, Koks und Stahl schießen in die Höhe. Das Wort vom "Koksinfarkt" der deutschen Wirtschaft macht die Runde. Vor einer Woche hat nun die Ruhrkohle AG eine Kehrtwende vollzogen und den Bau einer neuen Kokerei angekündigt.

Ein anderes Schlaglicht: Kürzlich sind in Polen ungewöhnliche Dinge geschehen. In Danzig (Gdansk) wurde eines Nachts eine ganze 200 Meter lange Stahlbrücke gestohlen. Glücklicherweise konnte die Polizei die Täter fassen. Das Motiv für das Verbrechen lag darin, daß nicht nur Stahl sehr viel teurer wird, sondern auch Schrott. Der Preis für Stahlschrott ist in den letzten Monaten auf das Fünffache gestiegen. Deshalb zerlegten die Diebe die Brücke in ihre Einzelteile und versuchten, diese an Stahlfabriken zu verkaufen.

Selbst die Bundesbank gerät in Panik. Vor einigen Monaten begann eine Debatte darüber, ob man die Ein- und Zwei-Cent-Münzen abschaffen sollte. Angeblich sei der bürokratische Aufwand für diese kleinen Münzen zu hoch. Der wahre Grund ist aber, daß Kupfer und Stahl, die in diesen Münzen enthalten sind, inzwischen soviel teurer geworden sind, daß die Herstellung der Münzen mehr kostet, als sie wert sind. (Vielleicht sollte jeder seine Ein- und Zwei-Cent-Münzen sammeln, wenn es so weiter geht, könnten sie eines Tages mehr wert sein als Banknoten.)

Das alles ist Ausdruck einer Hyperinflation und des gleichzeitigen Zusammenbruchs der Realwirtschaft, wie LaRouche dies in seiner bekannten "Kollapsfunktion" darstellt.

Investitionsoffensive

Wie kommen wir nun aus der Notlage heraus? Auf der einen Seite haben wir acht Millionen Arbeitslose, auf der anderen Seite haben wir einen Investitionsstau von tausend Milliarden Euro in der Infrastruktur und einen ähnlich hohen Rückstand in der Industrie. Diese beiden Faktoren müssen wir zusammenbringen. Wir beginnen eine riesige Investitionsoffensive, die sofort neue Arbeitsplätze in der Infrastruktur und bald auch in der Industrie schafft.

Am schnellsten geht dies in Form einer Infrastrukturoffensive. Damit erhält man sofort mehrere Millionen Arbeitsplätze in der Baubranche. Wir brauchen in Deutschland grob geschätzt 100 Milliarden Euro zusätzliche Infrastrukturinvestitionen im Jahr. Die Hälfte davon fließt sofort an den Staat zurück, weil er die Kosten für die Arbeitslosigkeit spart. Die eine Hälfte des Infrastrukturprogramms ist also sozusagen kostenlos.

Für die anderen 50 Mrd. Euro müssen wir neue Kreditmechanismen einrichten, sie kommen nicht von selbst. Man braucht Nationalbankkredite, und dazu müssen wir das Bundesbankgesetz ändern.

Weitere 100 Mrd. Euro jährlich muß die Industrie investieren. Dazu müssen wir das Rad in vieler Hinsicht völlig herumreißen, denn damit Unternehmen in Maschinen und Fabriken investieren können, brauchen sie erstens Aufträge und zweitens Kredite.

Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft wachsen nicht auf Bäumen. Damit sie entstehen, muß man in neue Fabriken, Maschinen und Anlagen investieren. Wieviel Kapital man im Einzelfall benötigt, ist in verschiedenen Wirtschaftszweigen sehr unterschiedlich (Abbildung 9). In der Lebensmittelbranche oder in der Bauwirtschaft ist das physische Kapital je Arbeitsplatz verhältnismäßig gering, in anderen Bereichen wiederum viel höher. Im Energie- und Wassersektor liegt es sogar so hoch, daß es auf unserer Grafik keinen Platz mehr hätte. Dort braucht man ungefähr eine Million Euro Kapital je Arbeitsplatz.

Wenn wir das physische Kapital der Unternehmen um jährlich 100 Mrd. Euro steigern, steigt der Anteil der Investitionen an der Gesamtwirtschaft von 20 Prozent wieder auf 30 Prozent, und damit werden wir den Stand der 60er Jahre wieder erreichen.

Dabei muß der Mittelstand eine entscheidende Rolle spielen. Auch heute noch trägt der Mittelstand 70 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland. Und es gibt Hunderte von Unternehmen mit vielleicht 100, 200, höchstens 500 Mitarbeitern, die über Generationen hinweg in einem bestimmten kleinen Bereich, z.B. einer besonderen Art von Werkzeugmaschinen, Weltmarktführer sind und beispielsweise in diesem speziellen Bereich 40 Prozent des Weltmarkts abdecken.

Das ist nur mit der besonderen Struktur der mittelständischen Unternehmen möglich. Das Unternehmen gehört nicht irgendeiner Bank oder einem Vermögensfonds, sondern der Leiter der Firma ist gleichzeitig auch ihr Besitzer. Sein vorrangiges Interesse besteht nicht darin, so schnell wie möglich viel Gewinn aus dem Unternehmen herauszuholen, sondern er denkt langfristig. Er will es später an die nächste Generation weitergeben und die führende Stellung auf dem Weltmarkt halten, nicht dadurch, daß er Kosten senkt und billiger liefert als die anderen, sondern indem er immer die beste Qualität mit der modernsten Technik erzeugt. Dazu müssen die Produkte und der Produktionsablauf ständig verbessert und erneuert werden, und das geht nur, wenn die Mitarbeiter des Unternehmens dafür aufgeschlossen und flexibel sind. Dazu gehört ein bestimmtes Niveau an Bildung, Krankenversorgung, Lebensstandard. Und wenn jetzt versucht wird, gerade durch Senkung des Lebensstandards und Unterlassen von Investitionen Kosten zu sparen, dann zerstört man den industriellen Mittelstand, der immer das Geheimnis unseres wirtschaftlichen Erfolgs war.

Das Wirtschaftswunder

Jetzt bleibt noch ein technisches Problem unserer Investitionsoffensive: das Geld. Es fehlt heute überall an Geld, jeder weiß das. Sämtliche Finanzminister klagen, daß wir kein Geld haben. Nehmen wir deshalb den Wiederaufbau der Nachkriegszeit zum Vorbild. Er zeigt uns, was wir in den Zeiten der größten Not geschafft haben und wie wir auch heute aus dem Schlamassel wieder herauskommen können.

Nach dem Krieg war die Hälfte der Wohnungen in den deutschen Städten zerstört oder beschädigt. Dazu kam noch der Flüchtlingsstrom. Der Wohnungsbau hatte also, zusammen mit der Energieversorgung, höchste Priorität. Große Teile des Bergbaus und der Infrastruktur waren zerstört. Es gab Millionen Arbeitslose. Man brauchte gewaltige Summen an Investitionen, genau wie heute.

Hatten wir nach 1945 Geld? Die Ersparnisse der Menschen wurden durch die Währungsreform ausgelöscht. Man konnte auch keine Regierungsanleihen auf den internationalen Finanzmärkten ausgeben, weil Deutschland als nicht kreditwürdig galt. Die Bundesregierung verhandelte mit dem IWF und der Weltbank über Kredite für Investitionen, und am Ende bot die Weltbank umgerechnet 20 Millionen Euro für den deutschen Wiederaufbau an, stellte dafür aber strenge Bedingungen. Die deutsche Regierung lehnte ab, weil 20 Millionen sowieso zuwenig gewesen wären.

Der Schlüssel zum Erfolg waren die äußerst dirigistischen Methoden der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die 1948 gegründet wurde. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei dem Bankier Hermann Josef Abs zu. Er wandte sich an die Alliierten und erklärte, man solle sich beim Wiederaufbau Deutschlands am Vorbild Franklin D. Roosevelts orientieren und etwas ähnliches wie die Reconstruction Finance Corporation in den USA gründen. aus diesem Konzept heraus entstand die KfW. Sie durfte die Gelder verwenden, die aus Marshallplan-Krediten zurückgezahlt wurden. Das waren Kredite der US-Regierung an deutsche Unternehmen, mit denen diese amerikanische Waren einkauften. Die amerikanische Regierung verzichtete großzügig auf die D-Mark-Raten armer deutscher Unternehmer, statt dessen ging das Geld an die KfW.

Es war ziemlich wenig, 4 Mrd. DM oder 1,4 Mrd. Dollar, aber es wurde sehr klug ausgegeben. Die KfW erstellte eine Liste der dringlichsten Investitionen und suchte dann die Unternehmen heraus, deren Produkte man für diese Investitionen brauchte. Die Mitarbeiter der KfW riefen den Unternehmenschef an: "Herr Direktor, Sie haben Glück. Ob Sie es wissen oder nicht, wir brauchen die Maschinen, die Sie herstellen, für die Stahlindustrie, die wir im Ruhrgebiet aufbauen. Ihre Maschinen sind gut, aber Sie müssen zehnmal soviel davon herstellen wie bisher. Dazu müssen Sie investieren, Sie brauchen 5 Millionen Mark. Deshalb brauchen wir von Ihnen morgen den Antrag auf 5 Millionen DM Kredit, und das Geld ist schon unterwegs."

Es war ganz anders als heute. Auch die KfW macht es heute nicht mehr so. Aber es zeigt: Wenn man eingesteht, daß man in einer Systemkrise steckt, kann man so vorgehen und das Ruder herumreißen.

Abs hat später immer wieder gesagt - und damit dem Märchen widersprochen, das deutsche Wirtschaftswunder sei ein Erfolg der freien Marktwirtschaft gewesen - , daß die "gezielte Planung" entscheidend war. Und er fügte lächelnd hinzu, die Arbeit der Kreditanstalt sei nicht gerade dem "Idealbild einer freien Marktwirtschaft" gefolgt. Es war Investitionslenkung.

Offensichtlich sind alle diese Dinge - öffentliche Infrastrukturausgaben, dirigistische Kreditpolitik, Regulierungen gegen die Globalisierung - mit dem heute vorherrschenden Wirtschaftsdogma nicht vereinbar. Sie verstoßen auch gegen etliche Gesetze des Maastrichter Vertrags, des Stabilitätspakts usw. Also müssen wir uns entscheiden: Wenn diese Dogmen und Gesetze den Wiederaufbau verhindern, dann müssen wir sie ändern.

Die Massenarbeitslosigkeit auf Depressionsniveau in Deutschland ist eindeutig ein Ausdruck der Systemkrise von Finanzen, Währungen und der Realwirtschaft. Deshalb muß auch die Antwort eine Systemänderung sein. Es gibt eine Lösung, wenn wir zugeben, daß das gegenwärtige System und die Wirtschaftsdogmen dahinter bankrott sind, und wenn wir auf eine Politik zurückgreifen, die sich in der Vergangenheit bestens bewährt hat.

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