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  Oktober 2004 Konferenz 2004

"Ihr seid Dissidenten des Westens"

Von Ján Cárnogurskì

Der frühere stellv. Ministerpräsident der Slowakischen Republik, Jan Cárnogurskì, berichtete am 25. September 2004 auf der Jahreskonferenz des Schiller-Instituts über seine Erfahrungen vor und nach dem Ende des Kommunismus und die Lehren, die hieraus für die Zukunft Europas zu ziehen sind.


Kommunismus und Kapitalismus
Neue Dialektik

Pyramidenspiele

Europa, EU und NATO

Vordenker

Zu Zeiten des Kommunismus gingen im gesamten Ostblock Witze über die Antworten von Radio Eriwan auf die Fragen der Hörer um. Es waren gute Witze. Jetzt hört man sie nicht mehr. Der letzte Witz von Radio Eriwan, schon nach der Wende, lautete folgendermaßen: Man fragte den Redakteur von Radio Eriwan, der für die Ausstrahlung der Witze verantwortlich war, warum das Radio die Antworten auf die Fragen der Hörer nicht mehr ausstrahle. Der Redakteur antwortete: Zu kommunistischen Zeiten konnte ich mir die Fragen der Zuhörer leicht ausdenken, da ich vor dem Gefängnis wohnte, aber heute wohne ich vor meiner Wohnung.

Dieser letzte Witz von Radio Eriwan ruft eine andere Erinnerung an die kommunistische Zeit hervor. Dieses Mal geht es nicht um Witze. Die Studenten an den Hochschulen zwischen Ostberlin und Peking konnten zwar Lücken in ihrem Studienfach haben, aber die Dialektiklehren mußten sie perfekt beherrschen. Diese durch Marx übernommene Lehre Hegels ermöglichte es, auch Dinge zu erklären, die unerklärbar waren.

Wohl oder übel kehre ich auch heute zur Dialektik zurück, wenn ich keinen Rat mehr weiß. Über Osama Bin Laden habe ich erfahren, daß ihn die amerikanische CIA entdeckt und ihm geholfen hat, seine Organisation als Kampfwerkzeug gegen die sowjetischen Besatzungsmächte in Afghanistan aufzubauen. Ich erinnere mich an den Krieg in Afghanistan und erinnere mich auch daran, daß ich auf Seiten der afghanischen Partisanen gestanden habe. Ich freute mich über jeden Sieg der afghanischen Mudschaheddin über die sowjetische Armee. Also stand ich auf der Seite Bin Ladens, wie ich heute erfahre.

Während des Vietnamkriegs habe ich auf Seiten der Amerikaner gestanden und die amerikanischen Studenten verurteilt, die an den Universitäten gegen die Politik Richard Nixons demonstrierten. Also war ich gegen John Kerry, der sich in einen Gegner des amerikanischen Engagements in Vietnam gewandelt hat, wie ich heute lese.

Meine Haltung gegenüber der deutschen Studentenbewegung in den 60er Jahren und der deutschen außerparlamentarischen Opposition erfordert schon etwas Dialektik. Im Winter 1968/69 besuchten Rudi Dutschke und seine linken Freunde Prag. Ich studierte damals in Prag. Der linke Enthusiasmus und der Schwur auf den Essay von Herbert Marcuse über die repressive Toleranz löste bei uns, ein paar Monate nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes, verständnisloses Gelächter aus.

Kommunismus und Kapitalismus

Seitdem ist der Kommunismus gefallen, und wir alle aus dem damaligen Osteuropa haben begonnen, den Kapitalismus aufzubauen. Erst da lernten unsere Menschen die Fallen des neuen Gesellschaftssystems kennen, und vielen erging es wie dem Redakteur von Radio Eriwan.

Ich erinnere mich an die theoretischen und praktischen tagtäglichen Erscheinungen des Kommunismus, und mit gewisser Befriedigung muß ich konstatieren, daß der Kommunismus trotz der gegenwärtigen Probleme des ehemaligen Osteuropa ein schlechtes System war und beseitigt werden mußte. Es existierten viele theoretische Konzeptionen für die Überwindung des Kommunismus, aber wir hinter dem Eisernen Vorhang sahen damals nur ein einziges praktisches Modell, und das war das damalige Westeuropa und die Vereinigten Staaten. Wir waren nicht fähig, irgendeine andere integrierende Idee auszuarbeiten. Die Völker des ehemaligen Osteuropa haben die einzige Gesellschaftsordnung übernommen, die praktisch im Westen Europas existierte. Der Kommunismus brach unter dem Druck der demonstrierenden Bevölkerung und auch unter seiner eigenen Last zusammen. Ich kann heute nur alle Dialektik wegwerfen und wiederholen, daß es notwendig war, den Kommunismus zu beseitigen und mit Edith Piaf zu singen: "Je ne regrette rien."

Auch in der Wirtschaftspolitik waren wir nicht fähig, etwas Originelles auszudenken. Zum Schlagwort wurde die Privatisierung der staatlichen Betriebe, die in der ehemaligen Tschechoslowakei mit Hilfe der Couponmethode umgesetzt wurde. Es muß gesagt werden, daß die ehemaligen staatlichen Betriebe unter den neuen ökonomischen Bedingungen und nach der Grenzöffnung durch ihr starres Management nicht fähig waren, in der Konkurrenz zu bestehen, und langsamer oder schneller von allein zerfielen.

Bald nach der Änderung des Gesellschaftssystems haben wir festgestellt, daß die Institution der ausländischen Berater überzeitlich ist. Zu kommunistischen Zeiten kamen zu uns sowjetische Berater. In den ersten Jahren nach der Wende war ich Mitglied der Regierungen der Tschechoslowakei und der Slowakei. Schon 1990 begannen bei uns die Missionen des Internationalen Währungsfonds. Sie hatten Zutritt zu allen Wirtschaftsdaten. Als Belohnung bekamen wir vom Internationalen Währungsfonds Memoranden mit Empfehlungen für die weitere Wirtschaftspolitik. Ich erinnere mich an eines der ersten Memoranden aus dem Jahr 1990, worin der Internationale Währungsfonds empfahl, das Kindergeld im Rahmen von Haushaltskürzungen drastisch zu senken. Die verschiedenen Missionen der Weltbank schlugen uns schockierende Maßnahmen zur Vervollkommnung unserer Wirtschaft vor und boten uns gleichzeitig vorteilhafte Kredite für die Umsetzung dieser schockierenden Maßnahmen an.

Neue Dialektik

Außer Wirtschaftsmaßnahmen brachte man uns auch die neue Dialektik bei. Wir erfuhren über uns, daß wir Nationalisten und alle Ostvölker korrupt seien. Der Vorwurf der Korruption ist manchmal fast fundamentalistisch gründlich. Zum Beispiel las ich von einem westlichen Reporter, daß sich in der Slowakei die erste Korruptionsstufe schon an den Skihängen zeigt. Wenn die Leute am Lift warten, geschieht es nicht selten, daß die Leute ihre Bekannten vorlassen und nicht ans Ende der Reihe schicken. Was noch schlimmer ist, die Leute am Ende der Reihe protestieren dagegen eher nicht (wenn es nicht allzuviele sind, die vorgelassen werden). Ich muß zugeben, daß die erste und zweite Korruptionsform auch bei mir vorkommt. Der ausländische Reporter schrieb, daß die Slowakei erst dann zeige, daß sie von Korruption gesäubert ist, wenn keiner mehr gestattet, seinen Bekannten oder seine Bekannte in der Wartereihe am Skilift vorzulassen, und falls er dies doch tun würde, die hinter ihm stehenden Leute so ein Geschrei loslassen, daß der Sünder es sich überlegt.

Die neue Dialektik lernte ich bis auf den Grund kennen. Irgendwann im Jahre 1994 erlaubte Holland als erstes Land die Euthanasie. Damals schrieb ich meinem Kollegen von der christlich-demokratischen Partei in Holland, warum auch die Christdemokraten einem solchen Gesetz zustimmen konnten. Ich erhielt die Antwort, daß so oder so in den Krankenhäusern Euthanasie stattfinde und es in Holland eine jahrhundertealte Tradition sei, daß die Gesetze die gesellschaftliche Realität widerspiegeln.

Das Erwachen der Wirtschaft im ehemaligen Ostblock geschah vollends im Rahmen der westlichen Konzeption. Der Untergang des Ostblocks ermöglichte die Globalisierung. Die Globalisierung wiederum führte Gestalten aus dem Westen nach Osteuropa, die der Westen nicht annahm, zum Beispiel Geoffrey Sachs. Wie früher Boris Pasternak über die Russen schrieb, zeichnen sich die Völker Osteuropas durch eine verstärkte Fähigkeit aus, die Härte des Lebens zu ertragen.

Pyramidenspiele

Mit dieser Methode holt Osteuropa seine neuen Partner in der Europäischen Union und in der NATO ein. Bei dem Militär wird dies als asymmetrische Kriegsführung bezeichnet. Dies geht so weit, daß der deutsche Kanzler und der französische Finanzminister einheitliche Steuersätze im Rahmen der Europäischen Union verlangen, weil die neuen Mitgliedsländer durch Steuersenkungen Firmen aus den alten Mitgliedsländern anlocken.

In den 90er Jahren entstanden im ehemaligen Osteuropa mehr Banken und Finanzinstitutionen als Initiativen zur Entwicklung der Infrastruktur. Die Gesellschaft war auf die neuen ökonomischen Regeln nicht vorbereitet, was Spekulanten verschiedenster Art ausnutzten. Ganz Osteuropa wurde von einer Welle finanzieller Pyramidenspiele überwälzt, die hunderttausende Menschen um ihre lebenslänglichen Ersparnisse brachte. Der Unterschied lag nur darin, ob sie mit einer geringeren Anzahl von Anlegern oder später mit einer größeren Anzahl bankrott gingen.

In der Slowakei realisierte die Regierung im Jahre 1999 eine sogenannte Bankgesundung. Sie übertrug die ungesunden Kredite, die keiner abzahlen konnte, von den ehemaligen staatlichen Banken auf eine extra dafür geschaffene staatliche Institution. Der Wert der übertragenen ungesunden Kredite überstieg einhundert Milliarden Kronen, was damals ungefähr die Hälfte des Jahreshaushalts bedeutete. Der Staatshaushalt verpflichtete sich, den Banken die übertragenen Kredite innerhalb von zehn Jahren abzuzahlen. Die Übertragung der ungesunden Kredite auf eine staatliche Finanzinstitution realisierten wir auf Empfehlung der Weltbank. Nachfolgend wurden die gesundeten Banken privatisiert, also an ausländische Interessenten verkauft.

Europa, EU und NATO

Die Mehrheit der osteuropäischen Länder durchlief nach dem Untergang des Kommunismus zwei große Transformationen.

Die erste war die Umwandlung der kommunistischen Ordnung in eine demokratische und marktwirtschaftliche. Die zweite große Transformation hing mit dem Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union zusammen. Wiederum haben wir unsere Rechtsordnung einer anderen Rechtsordnung angepaßt, und wiederum eigneten wir uns neue rechtliche und wirtschaftliche Regeln an.

Nach jahrzehntelanger Isolierung im kommunistischen Block ist für uns die Größe und Offenheit der Europäischen Union noch immer eine neue Erfahrung. Jetzt schauen wir uns schon als Unionsmitglieder im Inneren um und werden bestimmt viele Vorschläge für die Transformation der Union haben. Die slowakischen Minister für Inneres und Gerechtigkeit blockierten im Sommer dieses Jahres die Anerkennung homosexueller Eheschließungen aus Holland in allen EU-Staaten.

An Cafétischen, aber auch auf Fachkonferenzen, könnte unzweifelhaft ein besseres Projekt für die europäische Integration ausgeklügelt werden. Die Realität ist aber die, daß Visionäre vor einem halben Jahrhundert den Startschuß für ein Integrationsmodell gegeben haben, welches heute die Gestalt der EU hat. Bei aller Kritik an dem derzeitigen Zustand der EU meine ich, daß die Union eine positive Rolle gespielt hat und noch immer spielt. Die positive Aufgabe besteht in der Beseitigung der Feindschaften zwischen den Völkern und den Staaten, die sie in der Vergangenheit, in der Entfaltung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern und Staaten und bei dem Aufbau von Europa belastet haben, welches im Stande sein wird, eine selbständige Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen. Kein einzelner europäischer Staat wäre dazu fähig. Man kann hoffen, daß sich mindestens der Druck auf Reformen der Union von innen heraus nach dem Beitritt der neuen Staaten verstärkt. Für eine negativistische Haltung der Union gegenüber sehe ich aber keinen Grund.

Dies gilt nicht für die Politik der NATO-Erweiterung. Die Allianz hat ihre Aufgabe der Verteidigung des Westens vor dem Kommunismus ausgezeichnet erfüllt, aber mit der neuen Situation nach dem Zerfall des Ostblocks findet sie sich nicht ab. Die NATO wurde zum Werkzeug der Politik der USA, die nicht den Interessen Europas entspricht. Die NATO-Erweiterung in Richtung Osten vertieft die Teilung des Kontinents und drückt Rußland nach Asien. Europa wird dadurch geschwächt. Mit Hilfe der NATO ziehen die USA die Mitgliedsstaaten der Allianz in ihre Kriege hinein. Das letzte Jahrzehnt hat gezeigt, daß die europäischen Mitgliedsstaaten ihren Willen in der NATO nicht durchsetzen können, sie können lediglich an den Aktionen der NATO nicht teilnehmen. Schade, daß so der baldmöglichste Zerfall der NATO wünschenswert wird!

Vordenker

Die Niederlage des Kommunismus bedeutete die Befreiung des ehemaligen Osteuropa. Lange schien es, als würde das Vermächtnis des Kommunismus in Museen bald mit Staub bedeckt. Aber in diesem Jahr gab es wieder Montagsdemonstrationen, ein ostdeutsches Symbol für den Kampf gegen den Kommunismus. Ein wichtiges Symbol dieses Kampfes ist das Vermächtnis, daß man nicht inmitten von Lügen leben kann. Die Notwendigkeit, die Wahrheit zu sagen und die Freiheit, die Wahrheit zu sagen, zu schützen, ist eine weitere ständige Herausforderung. Diese Herausforderung dauert auch in der Gegenwart an, auch wenn dies sich anders als unter dem Kommunismus zeigt.

Beim Lesen von Publikationen der Bewegung der BüSo und Lyndon LaRouches kann konstatiert werden, daß sie viele Probleme in der Welt erkannt und um Jahre früher als die sogenannte meinungsbildende Presse benannt haben:

  • Über den negativen Einfluß der Finanzderivate auf das Finanzsystem schreiben sie schon Jahrzehnte - in das Programm der G 7-Sitzungen wurde dieses Problem erst gegen Ende der 90er Jahre aufgenommen.
  • Das Projekt des Ausbaus der Infrastruktur in Mitteleuropa schlug Lyndon LaRouche 1990 vor, teilweise wurde es vor zwei Jahren von der Europäischen Union in Form des Tremontiplans übernommen.
  • Den Bankrott des Finanzfonds LTCM im Jahr 1998 nannte LaRouche sofort eine Bedrohung des Finanzsystems der ganzen Welt, die amerikanische Presse des mainstream gestand dies frühestens im Jahr 2000 ein.
  • Die Zeitschriften der BüSo schreiben seit drei bis vier Jahren über die gegenwärtige Wiederholung des "Großen Spiels" aus dem 19. Jh. um Mittelasien und Kaukasien. Nach der Tragödie von Beslan stand in der amerikanischen Zeitung, daß sich die Situation im Kaukasus erst dann beruhigt, wenn sich Rußland mit den USA einigt.
  • Endlich bestätigt die bisherige Entwicklung im Irak auf tragische Weise alle Warnungen der BüSo vor dem Angriff auf den Irak.

Trotzdem sind Lyndon LaRouche und seine Mitarbeiter ein Anathema für das westliche Establishment. Einfacher gesagt: Ihr seid Dissidenten des Westens.

Die letzte Lehre aus dem Kampf mit dem Kommunismus spricht von der Zeit. Alle Widersacher des Kommunismus rechneten mit einem sehr langen Kampf. Er war auch lang. Keiner versprach, daß die Veränderung in ein paar Wochen oder Monaten geschähe. Wer die Widernatürlichkeit des Kommunismus begriffen hat, für den wurde der Kampf gegen ihn zu einer Lebensaufgabe. Aber die Befreiung kam letztendlich früher, als irgendjemand prophezeit hatte.

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