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  Dezember 2003 Journal (Texte)

Zwischen den Stühlen und trotzdem nicht hoffnungslos

Eine Delegation des Schiller-Instituts besuchte Ende Oktober Polen. Bei einem Wochenendseminar in Makow und bei politischen Gespräch zeigte sich Verunsicherung, wie Polens Weg zwischen Europa und Amerika aussehen soll. Ein Bericht von Frank Hahn.


Politische Gespräche in Warschau

Am 1.Mai 2004 wird Polen offiziell in die Europäische Union aufgenommen werden. Auf beiden Seiten der Oder sieht man diesem Datum mit gemischten Gefühlen entgegen, beide Seiten fürchten, von den jeweils anderen "überrannt" zu werden. Wenn beide rennen, dann schafft das ein Patt, also wäre doch alles wieder in Ordnung? Es wird einfach viel Hysterie in diesen Tagen geschürt - die Polen neigen in solcher Situation zunächst zur Karikatur. Sie könnten z.B. sagen: "Warum solltet ihr Deutschen Angst vor uns haben? Seht doch mal, wir haben eine Gesundheitsreform hinter uns, die ihr noch vor euch habt. Zahnfüllungen werden bei uns nur noch für den ersten bis vierten Zahn bezahlt, Füllungen für die Zähne mit den Nummern 5, 6 und 7 müssen privat bezahlt werden. Dies sind aber die Beiß- und Mahlzähne! Mit dieser Gesundheitspolitik sind wir bald alle zahnlose Tiger, warum sollt ihr uns also fürchten?"

Ebenso ergab sich bei einem kürzlichen Seminar über Europa, an dem Deutsche, Polen, Griechen, Italiener und Holländer teilnahmen, die Gelegenheit des Angstabbaus für die Polen. Einige deutsche Teilnehmer lieferten sich vor der ganzen Versammlung einen so lächerlichen politischen Hahnenkampf über die Frage, ob SPD oder CDU die böseren Buben hinsichtlich des Sozialabbaus in Deutschland seien, daß es jedem anwesenden Deutschen vor Peinlichkeit die Sprache verschlug.

Die Polen rieben sich jedoch fröhlich die Hände - und einer der Seminarleiter bemerkte süffisant, daß man als Pole über diesen deutschen Streit doch sehr froh sein solle, zeige es doch deutlich, daß die Deutschen so sehr mit sich selbst beschäftigt seien, daß kein Pole einen baldigen deutschen "Einmarsch" befürchten müsse ...

Nun fangen wir aber für den "ordentlichen" Leser nochmal sachlich ganz von vorn an: Das erwähnte internationale Seminar fand am letzten Oktoberwochenende im südpolnischen Bergstädtchen Makow statt. Eingeladen hatten die OEFEK (Ökumenisches Friedensforum europäischer Katholiken) sowie der polnische katholische Sozialverband (PZKS). Der seit Jahrzehnten politisch und kirchlich engagierte Wieslaw Gwizdz aus Katowice erfüllt seit letztem Jahr die Doppelfunktion des internationalen Präsidenten von OEFEK sowie des nationalen Vorsitzenden des PZKS. In beiden Eigenschaften hatte Wieslaw Gwizdz nach Makow eingeladen, um über Europa zu diskutieren.

Der bemerkenswerte Hintergrund hierbei ist die Tatsache, daß im Frühjahr PZKS und OEFEK die wichtigsten Kritiker des Irak-Krieges in der polnischen Öffentlichkeit gewesen waren - zu einem Zeitpunkt, als Teile der polnischen Elite den infantilen Traum einer polnischen Großmacht an der Seite der kriegsführenden Supermacht USA in der irakischen Wüste glaubten, ausleben zu müssen. Das Europa-Seminar in Makow zeugte für das hohe intellektuelle Niveau eines bestimmten Spektrums der katholischen Intelligenz in Polen.

Michal Drozdek, Herausgeber der katholischen Monatszeitschrift "Znaki Nowych Czasu" (Die Zeichen der neuen Zeit) hielt den ersten Vortrag, in dem es um die christlich-humanistischen Wurzeln Europas ging. In bemerkenswerter Weise führte er aus, daß die christliche Soziallehre eine "goldene Formel" zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Individuum und Staat anbiete: "Freiheit des Einzelnen wird am besten durch das Gemeinwohl verwirklicht ... das Konzept der Einheit in der Vielheit bedeutet hier konkret die Übereinstimmung zwischen Individuum und Gemeinwohl. Erst in der Umsetzung dieses Konzepts wurde eine Entwicklung der Menschheit möglich wie nie zuvor ..." Die Grundlage für diese "Einheit in der Vielheit" bestehe in der Selbsterkenntnis des Menschen: "Der Mensch ist eben kein Computer, der nur dann effektiv ist, wenn er Vorgegebenes erfüllt - der Mensch setzt in der Teilhabe an Gott kreative Kräfte frei ..."

Ein Sprecher des Schiller-Instituts wies in der Diskussion auf die ökumenische Qualität dieser Aussagen hin, werde doch damit die Identität der christlichen Soziallehre mit den Naturrechtsideen eines Leibniz unterstrichen, aus denen die amerikanische Revolution hervorgegangen sei.

Danach setzte sich der Staatsrechtler und ehemalige stellvertretende Innenminister Jan Majchrowski damit auseinander, warum die europäische Verfassung in der Präambel die "invocatio Dei" (die Anrufung Gottes) brauche. Angesichts eines heftig geführten Streits um diese Frage waren die Äußerungen des Katholiken Majchrowski nüchtern, wenn auch prinzipientreu, geschickt versöhnliche Zeichen setzend, um beim Wesentlichen zu bleiben. Und dieses Wesentliche ist nicht die europäische Verfassung! Majchrowski sagte es ganz klar: "Die Präambel der Verfassung hat geringe Bedeutung." Wozu aber dann die ganze Aufregung? "Nicht das Einbringen der invocatio Dei ist entscheidend, sondern das Ausklammern! Man sieht dies an der Art und Weise, wie die Praxis der Euthanasie erleichtert wird ... aber nochmals: für die Verfassung ist eine praktische Gottesnähe wichtiger als eine wohlklingende Präambel, für Europa ist eine christliche Praxis wichtiger als die Verfassung!" Nicht das Wort, nicht das Zeichen garantiert diese christliche Praxis - sondern einzig die Prinzipien der Hoffnung, des Glaubens und vor allem der Liebe!"

In einem weiteren Referat eines katholischen Wissenschaftlers und Priesters, des Paters Piotr Steczkowski, wurde vor allem das Fehlen der Hoffnung im heutigen Europa beklagt. Ein konkretes Programm der Hoffnung müsse auf die echte Identität Europas zurückgreifen, welche in Prinzipien wie Wahrheitssuche und Menschenwürde als gottgewollter Ordnung bestehe. Dies impliziere selbstverständlich die Öffnung Europas gegenüber anderen Völkern und Nationen, um den Dialog der Kulturen und eine globale Solidarität zu üben.

Diese christlichen Prinzipien wurden noch einmal von Elisabeth Hellenbroich vom Schiller-Institut zitiert, als sie über die Demontage des Sozialstaats unter einer sozialdemokratischen Regierung in Deutschland referierte. Sie stellte neben die Fakten eines brutalen Kahlschlags im Gesundheitsbereich, bei den Kommunen, bei Arbeitslosen und sozial Schwachen die historisch-philosophischen Wurzeln der zwei gegensätzlichen Denktraditionen Europas: auf der einen Seite das Hobbessche Prinzip des "Kriegs aller gegen alle", wie es vor wenigen Jahren von dem englischen Publizisten Peregrine Worsthorne noch einmal formuliert wurde: "Wir werden wohl nicht direkt von Sozialstaat in den Polizeistaat übergehen - aber für die Zukunft gilt: das Leben der meisten Menschen wird brutal, widerlich und kurz sein!"

Auf der anderen Seite stehe ein Denken, wie es z.B. in der Enzyklika "De sollicitudo rei socialis" ausgedrückt werde: "Der Mensch steht hier im Zentrum ökonomischer Bemühungen - Solidarität gilt nicht nur gegenüber dem Nächsten, sondern auch gegenüber anderen Völkern ..."

Letzter Höhepunkt dieses Wochenendes war eine Feierstunde mit anschließender Messe im berühmten Nationalheiligtum der Polen, dem Kloster Jasna Gora zu Czestochowa. Der PZKS-Präsident Gwizdz hatte bewußt die ausländischen Gäste dazu geladen, um ihnen etwas von polnischer Musik, Poesie und religiöser Innerlichkeit zu vermitteln. Umgekehrt ließ er den Chor auch deutsche und italienische Lieder singen, so daß inmitten dieser Stätte eines katholisch-polnischen Patriotismus der Dialog der Kulturen gefeiert wurde.

Politische Gespräche in Warschau

Polen ist also längst in Europa "angekommen", es war schließlich nie irgendwo anders. Eine ganz andere Frage ist die Behandlung Polens durch Brüssel: Vor dem Referendum im Juni galt noch das Abkommen von Nizza, wonach auch Polen einen ständigen Kommissar in die EU-Kommission hätte entsenden können. Nun soll trotz des Beitritts von zehn neuen Ländern die Zahl der EU Kommissare bei 15 bleiben, und die ohnehin nicht gerade überbordende Europabegeisterung der Polen sinkt weiter, man fühlt sich schlicht geleimt. Sieht man genauer hin, dann geht es allerdings nicht um irgendwelche EU-Formalitäten. Ein hochrangiger Politiker in Warschau erklärte uns gegenüber, daß Polen eben auch seine Würde und seinen Stolz zu verteidigen habe.

Das ist legitim - aber gerade dies hat Polen in die paradoxale Lage zwischen Amerika und Europa gebracht, nach dem Motto "wenn Deutsche und Franzosen uns nicht Respekt zollen, dann marschieren wir eben an der Seite der Amerikaner zu Ruhm und Ehre ..." Wenn aber statt dessen der Traum von polnischer Ehre am Persischen Golf zwischen den Lügen der amerikanischen Neo-Cons und den Bildern von toten Soldaten zerrinnt, dann sucht man verzweifelt nach Modellen der Selbstrechtfertigung. Die politischen Gespräche, die wir in Warschau hauptsächlich mit Vertretern der Regierungsparteien sowie politischen Denkfabriken führten, wurde deswegen erneut die Angst vor den deutschen und russischen Nachbarn bemüht.

Allerdings muß man ganz genau hinhören, denn abgesehen von einigen ewig Gestrigen spürt man bei den politisch Verantwortlichen mehr nüchternes Abwägen als aufgeregtes Flügelschlagen, eher das Ringen um Erklärung und Hilfesuchen als dogmatische Kampfpositionen. Ein ehemaliger Berater des jetzigen Regierungschefs Miller brachte es auf den Punkt: Eigentlich hätten sich die Beziehungen zu den Nachbarn Deutschland und Rußland soweit normalisiert, daß objektiv die polnische Sicherheit inmitten der alten Gegner nicht bedroht sei. Wenn diese Erkenntnis jedoch subjektiv nicht akzeptiert werde, dann sei nun einmal der einzige Garant polnischer Sicherheit die USA, und vor diesem Hintergrund müsse man das polnische Engagement im Irak-Krieg sehen. Die innere Logik dieser Analyse ist nicht ganz abwegig - dennoch stellt sich immer wieder die Frage, warum die Polen Angst vor den Deutschen haben sollten.

Irgendwann, am dritten Tag unserer Gespräche, sagte es ein ehemaliger Minister unumwunden: "Sehen Sie, natürlich weiß hier jeder im Land, daß die Deutschen keine wirkliche Bedrohung darstellen. Aber wir sind ökonomisch einfach schwach - wenn wir wirtschaftlich auf demselben Niveau wären wie die Deutschen, dann wäre jegliche emotionale Unsicherheit überwunden - dann hätten wir unseren Platz in Europa gefunden und würden nicht mit den Amerikanern militärische Abenteuer suchen."

Dies war die zentrale Botschaft; wenn wir sie in zwei Kernbestandteile aufschlüsseln, heißt es: erstens sehen wir ein, daß wir uns mit der Beteiligung am Irak-Krieg völlig verrannt haben, zweitens aber wird der politisch-strategische Graben zwischen Deutschland und Polen, West- und Osteuropa weiter bestehen bleiben, solange der ökonomische nicht zugeschüttet wird. Man wäre geneigt, sarkastisch anzumerken, daß dieser Graben wohl bald eingeebnet wird, indem die Deutschen sich wirtschaftlich auf das Niveau Polens begeben. Aber im Ernst, es ist höchste Zeit, endlich die neoliberale Zerstörungswut in Wirtschaft und Sozialpolitik europa- und weltweit zu stoppen.

In Polen sind nach offiziellen Angaben eine Million Kinder nicht ausreichend ernährt, während die Bauern ihre Produkte nicht absetzen können, da sie nur schwierig Zugang zu anderen Märkten finden, und der eigene Markt zunehmend von globalen Kartellen beherrscht wird. Die soziale Lage im Land ist äußerst gespannt; Bergarbeiter, Eisenbahnarbeiter, Krankenschwestern und Taxifahrer streiken und protestieren fast täglich. Die Wut auf eine neue Klasse von "Neo-Feudalisten", wie man sie zutreffend nennt, steigt. Ganze Städte oder Gemeinden werden von internationalen Konzernen quasi "aufgekauft", so daß Arbeitsplätze, Wasser- oder Energieversorgung einer Gemeinde plötzlich vom Gutdünken eines privaten "Investors" abhängen. Ein katholischer Journalist brachte hier den Vergleich zur britischen Ostindien-Gesellschaft auf, die seinerzeit ganze Länder als Kolonien aufkaufte.

Wenn also Deutschland als wichtigster Nachbar und Partner Polens in Europa eine Kehrtwende in Richtung produktiver Kreditschöpfung und "New Deal" einleiten würde, um große öffentliche Investitionen zur Schaffung produktiver Vollbeschäftigung zu leisten, wäre das nicht nur für uns selbst der Ausweg aus der gegenwärtigen Abwärtsspirale, es wäre auch ein Beitrag zum Frieden und zur Stabilität in Europa. Der Tremonti-Plan erregt in diesem Zusammenhang in Polen nach wie vor großes Interesse.

Allerdings wird diese Diskussion von der großen strategischen Frage überschattet, wie es in den USA weitergeht. Um es nochmal nachdrücklich zu sagen: Inzwischen fühlen sich die Polen nicht nur von den Europäern brüskiert, sondern auch von den Amerikanern verraten, nach allem, was über Cheneys Lügen bis jetzt bekannt geworden ist. Geradezu gebannt hörten unsere politischen Gesprächspartner in Warschau sich unsere Analyse der internen Dynamik in den USA an. Im Gegensatz zu deutschen Politikern gaben sie unumwunden zu, daß sie keinen Einblick in die US-Lage haben, daß vor allem aber auch keiner der internationalen Politik-Experten Ihnen eine so präzise Analyse vorlegen könne. Nicht zuletzt zeigten sich Politiker verschiedener Couleur beeindruckt vom wachsenden Einfluß des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Lyndon LaRouche, auf den sich gerade in Europa immer mehr Hoffnungen für eine Wende in den USA konzentrieren.

Die Polen geben jedenfalls die Hoffnung auf diese und andere Wendungen niemals auf. Was ihnen hilft, ist der berühmte polnische Witz - wie zum Beispiel dieser: Ein Busfahrer und ein Bischof befinden sich schon im Paradies; der Bischof hat aber nur eine dunkle, feuchte Wohnung im Keller, während der Busfahrer in einer mondänen Villa wohnt. Der Bischof fragt vorsichtig bei Petrus nach, ob es sich hier nicht um ein Versehen handele. Petrus sieht in seinem schlauen Buch nach: "Nein, es ist alles in Ordnung. Sieh mal, bei Deinen Predigten sind die Leute eingeschlafen, aber der Busfahrer brachte es soweit, daß während der Fahrt alle seine Passagiere ständig beteten."

Frank Hahn


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