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  Dezember 2003 Journal (Texte)

Raus Schiller-Rede, mit Ergänzungen

"Ein bißchen Schiller" wünscht Johannes Rau sich zur Anreicherung der Kultur der Deutschen - womit das Schiller-Institut sich natürlich keineswegs zufrieden gibt. Aber es ist trotzdem bemerkenswert, wenn der Bundespräsident sich so ausführlich mit der "Schillerzeit" befaßt.

Den Kopf voll Schillerscher Ideen, denn unser Schillerfest in Wiesbaden lag erst drei Tage zurück, las ich in der FAZ über die Hundertjahrfeier des Marbacher Schiller-Archivs. Bundespräsident Rau habe nicht bloß den ersten Spatenstich für ein neues Literaturmuseum getan, sondern in seiner Festrede "an die Schiller-Feiern des 19. Jh. erinnert und an die Bemühungen von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, den Dichter der Freiheit nicht dem wenig freiheitlich gesinnten Bürgertum zu überlassen," hieß es vielversprechend in der FAZ. Tatsächlich ist diese Rede eine Besonderheit.

An den Anfang stellte Rau nämlich ein Zitat aus einer Rede, die der sozialdemokratische Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid am 8. Mai 1955 im Berliner Sportpalast vor mehreren tausend Menschen gehalten hat. Bei dieser Veranstaltung unter dem Motto "Schiller und das unteilbare Deutschland" sagte Carlo Schmid:

    "Die Geschichte gibt den Nationen immer wieder Gelegenheiten, ihre großen Menschen zu entdecken und in der Erkenntnis dieser Großen sich den Spiegel vorzuhalten, in dem sie sehen können, ob sie selber - hier und jetzt - das Maß dieser Größe ausfüllen... Es kann für sie, wenn sie noch die Kraft der Wandlung in sich spürte, Anlaß zu Hoffnung und eine Quelle neuen Werdens, eines neuen Findens zu sich selbst werden."

Rau will damit auch unterstreichen, wie fern uns dies heute sei: "Daß jemand vorschlägt, eine Selbstfindung der Deutschen im Spiegel von Schillers Leben und Werk zu versuchen, kann man sich eigentlich nicht mehr so recht vorstellen." -

Wirklich nicht? Die Vorsitzende des Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche leitete am Abend zuvor das Wiesbadener Schillerfest mit folgenden Worten ein: "Sie alle schätzen unseren großen Dichter der Freiheit, Friedrich Schiller, dessen 244. Geburtstag wir an diesem Abend feiern. Und deshalb wird es Ihnen leicht fallen, die Gegenwart mit seinen Augen zu betrachten und aus seinem Blickwinkel zu überlegen, was die klassische Kunst heute vielleicht bewirken kann. Dabei werden wir genau umgekehrt vorgehen, wie es die Vertreter des Regietheaters machen: Wir wollen die Ideen Schillers nicht 'modernisieren', also mit banalen Bezügen zur Gegenwart 'aufpeppen', sondern wir wollen uns fragen, wie wir heute eigentlich vor Schillers Maßstab dastehen."

"Die erste große politische Ehrung", berichtete Rau, "wurde Schiller bekanntlich nicht in Deutschland zuteil, sondern in Frankreich. Gemeinsam mit 17 anderen Ausländern wie Washington, Pestalozzi oder Klopstock bekam er 1792 von der französischen Nationalversammlung - mit der Unterschrift von Danton - das französische Ehrenbürgerrecht verliehen." -

Ergänzend dazu zitieren wir aus unserem Schillerfest-Programm von 1998: "Die französische Nationalversammlung wählte den Dichter der Räuber zum Ehrenbürger... 'Monsieur Giller, publiciste allemand' wurde am 26. August 1992 einstimmig zum 'Citoyen français' erhoben. Schiller erfuhr von dieser Ehrung aus den Zeitungen, denn die Urkunde selbst erreichte ihn erst ein halbes Jahrzehnt später, am 1. März 1798, gleichsam 'aus dem Reich der Toten', wie er feststellte, denn alle Männer, welche die Urkunde unterschrieben hatten, waren längst der Guillotine zum Opfer gefallen."

"Eine große Epoche hat das Jahrhundert geboren, aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht", schrieb Schiller. Die Chance, die gelungene amerikanische Revolution in Europa zu wiederholen, war im Jakobinerterror untergegangen.

Auch beim diesjährigen Wiesbadener Schillerfest war davon die Rede: "Wie kann man das 'kleine Geschlecht', die 'kleinen Leute', dahin entwickeln, nicht mehr klein zu reagieren?", fragt ein Mädchen und erhält zur Antwort: "Schiller war überzeugt, das von jetzt an jede Verbesserung im Politischen nur noch durch die Veredlung des Einzelnen möglich sein würde."

Eindrucksvoll schilderte Rau die Schillerfeste im 19. Jahrhundert, vor allem am 100. Geburtstag Schillers im Jahre 1859: "In fast 500 Städten des gesamten deutschen Sprachraumes wurde der 10. November als eine Art nationaler Feiertag begangen: Fackelzüge, Transparente, Illuminationen, Freudenfeuer, Festbankette, szenische Aufführungen. Man feierte in Rathäusern und Schulen, in Universitäten und Theatern, und auch in Handwerksbetrieben. Auch... in anderen Ländern, in denen viele Deutsche lebten, gab es große Feiern, z.B. in Paris und in Brüssel." -

Wir ergänzen: "Spätestens mit der Glocke war Schiller zum 'Dichter des Volkes'... geworden, was sich bei den Feiern zu seinem 100. Geburtstag zeigte. Die Feste dauerten bis zu einer Woche und wurden auch in Paris, Stockholm, Amsterdam, Prag, Bukarest, St. Petersburg, Warschau, Smyrna, Konstantinopel und Algier begangen. Die Schillerfeiern 1959 waren die größte politische Demonstration seit der gescheiterten Revolution von 1848. Die Umzüge wurden zu einer breiten Bewegung für einen Verfassungsstaat. In den jungen USA wurden sie zu einer mächtigen Volksbewegung für die Wahl Abraham Lincolns zum amerikanischen Präsidenten."

Der Bundespräsident betonte: "Die Feierlichkeiten von 1859 reichten oft schon weit über das Bildungsbürgertum hinaus - an vielen Orten machten Arbeitermusik- und Arbeitergesangsvereine einen großen Teil der Feiernden aus. Erst die Feiern zum 100. Todestag Schillers im Jahre 1905 wurden aber ganz entscheidend von den Arbeitern und von der Sozialdemokratie mitbestimmt... Keine einzige der 91 sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften im deutschen Kaiserreich verzichtete auf einen Beitrag zu Schiller. Man wollte zeigen, daß... die große Kultur nicht nur Sache des Bildungsbürgertums ist."

Doch diese Zeiten seien "unwiederbringlich vorbei", meinte Rau. Statt "Vorbilder" gebe es heute leider bloß "Kultfiguren". Zur Kultfigur werde man ohne eigene Leistung, sondern vielmehr wegen besonders auffällig fehlender Intelligenz, eines Sprachfehlers, eines besonders "schrägen" Aussehens oder besonders auffälliger Gewöhnlichkeit. Den Unterschied zwischen Vorbild und Kultfigur sieht Rau darin, "daß in der Schiller-Verehrung mit der Person oder mit dem Werk ein wirkliches Ideal verehrt wurde..., das über die Person hinausging... Der Umstand, daß hier ein Ideal verehrt wurde, das das eigene Leben überstieg und ihm so zur Orientierung wurde, das macht den eigentlichen und den legitimen Kern einer Verehrung aus, wie man sie in der Schiller-Verehrung finden kann."

Am Ende seiner Rede fragte der Bundespräsident, "ob es wirklich richtig ist, daß wir das Wort vom 'Volk der Dichter und Denker' nur mehr ironisch über die Lippen bringen. Schämen wir uns dieser kulturellen Blüte? Ahnen wir vielleicht intuitiv, daß viele der kulturellen Hervorbringungen unserer Tage gegenüber den Klassikern nicht gut bestehen können?" Nein, zum "Schiller-Kult" könne und solle man nicht zurückkehren, aber "es wäre ein Verschleudern kultureller Schätze, wenn wir unsere Sprachfähigkeit und unsere Ausdrucksmöglichkeiten nicht wenigstens von Zeit zu Zeit an den Gedichten und Stücken unserer Klassiker schulen würden. Auch ein bißchen Schiller hat in dieser Hinsicht noch keinem geschadet."

Damit geben wir uns natürlich nicht zufrieden, denn "ein bißchen Schiller" wird nicht reichen. Man muß sich wirklich auseinandersetzen mit diesen (von Rau nicht näher erläuterten) Idealen. Wie kann man sein fliehendes Dasein an der Universalgeschichte der Menschheit befestigen? Was ist der "idealische Mensch", den jeder in sich trägt? Was ist eine "schöne Seele"? Was versteht Schiller unter Freiheit und Menschenwürde? Wenn unsere Politiker und Juristen das noch wüßten, würden sie z.B. nicht so bedenkenlos die naturrechtliche Verankerung des Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes aufgeben, wie es mit dem neuen GG-Kommentar leider geschehen ist.

Es geht also um mehr als ein paar Gedichte zur Sprachschulung. Wir brauchen eine Renaissance der Klassik, eine neue "Schillerzeit". Und das ist dann möglich, wenn sich Jugendliche dafür begeistern. Rau zitierte mehrfach das Goethewort "Denn er war unser!" Beim Schillerfest in Wiesbaden ergriff ein Jugendlicher auf der Bühne das Wort: "Wie sagte Goethe doch gleich, als Schiller gestorben war? 'Denn er war unser!' Und was sagen wir jungen Leute heute? Schillers Ideen sind das beste überhaupt, was wir in der deutschen Kultur und Geschichte finden können. Und deshalb sagen wir: 'Er ist unser!'"

Gabriele Liebig


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