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  Dezember 2003 Journal (Texte)

"Stellen Sie
der Menschheit verlorenen Adel
wieder her!"

Schillerfeste. In Hannover, Hamburg und Magdeburg feierte die Tellgruppe im Schiller-Institut schon in der ersten Novemberwoche den 244. Geburtstag ihres Namengebers.

"Eure geistige Armut ist mir zuwider!" Das war eine der vielen Aussagen, mit denen am 12. November niedersächsische Studenten gegen die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Hannover protestierten. Könnte man ein schlimmeres Klagelied über die Lage im einstigen "Land der Dichter und Denker" anstimmen? Und das zwei Tage nach dem 244. Geburtstag des großen deutschen Dichters und Staatskünstlers Friedrich Schiller. Ist doch gerade Schillers Werk das beste Beispiel, wie geistige und moralische Armut überwunden werden kann.

So war auch dieses Jahr Schillers Geburtstag für die Mitglieder der Tellgruppe im Schiller-Institut ein wichtiger Anlaß, dem dankbaren Publikum in Hannover, Hamburg und Magdeburg Kostbarkeiten aus seinem Werk zur Diskussion zu stellen und durch Schiller Lösungen für eine Zeit zu finden, in der der Weltfriede mit jedem Tag stärker bedroht ist.

In einer Welt, in der täglich, ja stündlich der durch Mangel an Nahrung, Wasser, Energie, produktiver Arbeit, Erziehung und medizinischer Versorgung in ihren unveräußerlichen Menschenrechten und ihrer Menschenwürde bedrohte Teil der Weltbevölkerung wächst, ist die Aussage Friedrich Schillers über die Aufgabe und Rolle des Staates in der Schrift Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon" von höchster Gültigkeit und Aktualität:

    "Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, daß alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht, und in ihrer Art noch so vollkommen sein.

    Überhaupt können wir bei Beurteilung politischer Anstalten als eine Regel festsetzen, daß sie nur gut und lobenswürdig sind, insofern sie alle Kräfte, die im Menschen liegen, zur Ausbildung bringen, insofern sie Fortschreitung der Kultur befördern, oder wenigstens nicht hemmen. Dieses gilt von Religions- wie von politischen Gesetzen; beide sind verwerflich, wenn sie eine Kraft des menschlichen Geistes fesseln, wenn sie ihm in irgend etwas einen Stillstand auferlegen. Ein solches Gesetz wäre ein Attentat gegen die Menschheit."

Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen wurden als konkretes Beispiel für einen solchen Stillstand diskutiert. Ein TV-Spot der Gewerkschaft ver.di beschreibt die Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung vieler Jugendlicher sehr extrem, wenn gezeigt wird, wie junge Menschen, die gerade beginnen sollten, ihr Leben zu gestalten, sich aus Enttäuschung über die Ablehnung ihrer Bewerbungen das Leben nehmen wollen.

Dem stellte die Tellgruppe Schillers großes Werk Don Carlos entgegen, in dem wir jungen Menschen wie dem Kronprinzen Don Carlos, Sohn des spanischen Königs Philipp II., und dem Malteserritter Marquis von Posa begegnen. Beide sind seit ihrer Jugend durch Freundschaft und gleiche Ideale verbunden.

Beide sind wie jeder - insbesondere - junge Mensch mit großen Konflikten konfrontiert, mit persönlichen Lebens- und Liebeskrisen. Don Carlos z.B. war verliebt und verlobt mit Elisabeth von Valois, die aber aus Macht- und Herrschaftskalkül plötzlich seinem Vater zur Gemahlin gegeben wird. Trotz aller sinnlichen und emotionalen Wünsche, Begehrlichkeiten und Verletztheiten lassen sie sich dennoch von den "großen Gegenständen" ihrer Zeit rühren und wachsen als Menschen über ihre leidenschaftlichen Konvulsionen hinaus. Sie verlieren sich nicht in ihrem inneren Strudel der Verzweiflung und Ohnmacht ob einer widrigen Außenwelt, sondern entscheiden sich, einzugreifen und die Welt zu verändern. Schiller bringt es mit dem Satz des Don Carlos "schon 23 Jahre alt und noch nichts für die Unsterblichkeit getan" auf den Punkt.

Schiller selbst ist zu dieser Zeit gerade 23 Jahre alt, als er zum ersten Mal an Dalberg schreibt: "Die Geschichte des Spaniers Don Carlos verdient allerdings den Pinsel eines Dramatikers." Er beginnt die Arbeit daran im März/April 1783 und entbindet nach vier Jahren das "Lieblingskind seines Geistes", wie er sagt, Ende Februar 1787. Sein Freund Andreas Streicher beschreibt Schillers Motiv für die Stoffwahl folgendermaßen:

    "Im Don Carlos hatte er Charaktere zu schildern, die sich in der allerhöchsten Sphäre bewegten, die nicht nur den größten Einfluß auf ihre Zeit ausübten, sondern auch der Menschheit die tiefsten Wunden schlugen."

Schiller wollte also "große Staatspersonen" behandeln, und er wollte über den "Lieblingsgegenstand" seines Jahrzehnts schreiben, nämlich "über die Verbreitung reinerer, sanfterer Humanität - über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staates höchster Blüte, kurz, über den vollendetsten Zustand der Menschheit, wie er in ihrer Natur und ihren Kräften als erreichbar angegeben liegt".

Die Amerikanische Revolution, diesen "Lieblingsgegenstand des Jahrzehnts" - der Kampf um "Fortschreitung" und "Ausbildung aller Kräfte des Menschen" statt Versklavung in einem oligarchischen System - , verlegte Schiller in seinem Don Carlos in das 16. Jh. an den spanischen Königshof Philipps II., Herrscher eines Weltreichs, in dem die Sonne nie unterging, in dem staatliche Gewalt und Terror, Spitzelsysteme und Inquisition das Fundament der königlichen Allmacht schufen.

Doch die Überdehnung dieser imperialen Macht forderte ihren Preis in den flandrischen Provinzen: "Alles findet sich zu einer Revolution zubereitet", wie Schiller sagt.

Kühn stellt Schiller in der Gestalt des Marquis Posa einen Menschen auf die Bühne, der sich als "Sachwalter der unterdrückten flandrischen Provinzen" und "Abgeordneter der Menschheit" versteht - und das in dem von vielen machthungrigen Fürsten kontrollierten Deutschland seiner Zeit!

Wie kraftvoll Schiller die oligarchische Ordnung in Deutschland und Europa erschüttert, zeigt der Dialog zwischen Philipp II., dem Weltbeherrscher, und dem jungen Marquis Posa. Posa verschleiert und verheimlicht nichts in dieser, ihm von Philipp gewährten persönlichen Audienz:

    "Ich liebe die Menschheit und in Monarchien darf ich niemand lieben als mich selbst ...
    Ich kann nicht Fürstendiener sein ...
    Ich bin gefährlich, weil ich über mich gedacht! ...
    Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden."

Voller "Energie des Mutes" und in der größten "Rüstigkeit seines Charakters" fordert er Philipp auf:

    "Werden Sie von Millionen Königen ein König!
    Stellen Sie der Menschheit verlorenen Adel wieder her!"

Völlig ergriffen vom Tod Posas gibt Philipp in seiner Kleinheit, Nichtigkeit und Einsamkeit sein abschließendes Urteil über diesen jungen Menschen Posa für die Nachwelt zu Protokoll und sagt:

Posas Herz "schlug der ganzen Menschheit.
Seine Neigung war die Welt mit allen kommenden Geschlechtern!"

Im zweiten Teil standen Szenen aus Wilhelm Tell, der am 17. März 1804 in einer Inszenierung von Goethe in Weimar uraufgeführt wurde, auf dem Programm. Auch in diesem Volksdrama schildert Schiller ein Jahr vor seinem Tod den Freiheitskampf der Schweizer Kantone gegen das Haus Habsburg. Schiller veranschaulicht hier den "Lieblingsgegenstand seines Jahrzehnts", den Kampf um die unveräußerlichen Menschenrechte, in höchst ergreifender Weise in Form des Widerstandes gegen die Grausamkeit des Tyrannen Geßler - stellvertretend für Napoleon - als einzige menschlich notwendige und mögliche Handlungsweise. Auch hier läßt Schiller die "Welt mit allen kommenden Geschlechtern" zu Wort kommen und endet die Szene mit dem unglaublichen Satz: "Und frei erklär ich alle meine Knechte!"

Ein tief berührtes Publikum dankte für "die Verbreitung reinerer, sanfterer Humanität" in einer Zeit, in welcher wir wie Friedrich Schiller "mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen" haben. Der Auftritt der Mönche nach dem Tode Geßlers, deren Text Beethoven vertont hat, zeigte, wie meisterhaft Schiller den Menschen auf das Wesentliche lenken kann:

    "Rasch tritt der Tod den Menschen an,
    Es ist ihm keine Frist gegeben,
    Es trifft ihn mitten in der Bahn,
    Es reißt ihn fort vom vollen Leben
    Bereitet oder nicht, zu gehen,
    Er muß vor seinem Richter stehen!"

Erwähnenswert ist sicher noch, daß die Tellgruppe, die als Laien-Theatergruppe inzwischen auf eine zwanzigjährige Zusammenarbeit ohne Allüren, Egoismen und Egozentrismen zurückblicken kann, durch einige jüngere Mitglieder in der Gruppe bereichert worden ist. Zu nennen sind hier besonders: Andreas Richter als Marquis Posa, Steffen Brosig als Wilhelm Tell und Hagen Lorenz als Leuthold.

Renate Müller-De Paoli


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