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  Mai 2004 Journal (Texte)

Ungarn - zwei Monate vor dem Beitritt zur EU

Vor dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union am 1. Mai dominiert die Sorge vor den Auswirkungen, die das für die Bevölkerung mit sich bringen wird. Eine Delegation des Schiller-Instituts machte sich vor Ort ein Bild.


Drastische Kürzungen stehen bevor
Verzweiflung über die Lage

Vortrag in der Reformierten Universität

Zusammen mit den neun anderen Beitrittsländern wird Ungarn am 1. Mai Mitglied der Europäischen Union. Land und Leute scheinen durch ihre politische Führung nicht gut vorbereitet für diesen Schritt. Das war zumindest der Eindruck einer Delegation des Schiller-Instituts, die Ende Februar die ungarische Hauptstadt Budapest besuchte.

Mit einem Bild könnte man das europäische Problem so beschreiben: Eine Familie überlegt, in ein neues Haus umzuziehen. Nicht alle Familienmitglieder sind davon begeistert, letztendlich stimmen sie aber alle dem Umzug zu. Was die Familie im neuen Haus wirklich erwartet, will keiner so recht wissen - man träumt lieber davon, wie gut es allen gehen wird, und daß man endlich dazu gehört.

Dann kommt der Tag des Umzugs, die Tür des neuen Hauses öffnet sich, und die Familie muß feststellen, daß sie im Keller untergebracht ist, für einen viel zu hohen Preis! Die Kinder sind enttäuscht und gehen auf die Barrikaden, andere verweigern den Einzug. Einige Familienmitglieder beschließen, sich mit den übrigen Kellerbewohnern zusammenzuschließen, um ihre Interessen zu verteidigen. Andere sind einfach nur wütend.

Probleme gibt es außerdem mit den alteingesessenen Hausbewohnern, denen es auch nicht mehr so gut geht. Das ganze Haus ist sehr verwohnt. Die neuen Hausbewohner sind nicht bei allen willkommen, und vor allem mögen sich die Neuen von den Gründern dieser Wohngemeinschaft nicht bevormunden lassen. Keine guten Vorbedingungen für ein einvernehmliches Zusammenleben, und schon gar nicht, wenn das Geld in der Haushaltskasse knapp ist. Diese Geschichte ließe sich beliebig weiterspinnen.

Drastische Kürzungen stehen bevor

Als die Regierungskoalition aus Sozialisten und Liberalen von Ministerpräsident Péter Medgyessy vor zwei Jahren an die Macht kam, machten sie ihr Wahlversprechen, die materiellen Lebensbedingungen eines Teils der Gesellschaft zu verbessern, wahr. Sie erhöhten die Gehälter der 800 000 Staatsbediensteten und die Renten. Dies führte zu einer kurzfristigen Verbesserung der Lage, aber auch zu einer Erhöhung der Staatsausgaben und der Inflation.

Die Regierung holte sich deshalb das ausgegebene Geld durch andere Maßnahmen wieder zurück. In 2003 betrug die Inflation 5,3%. Nach offiziellen Angaben stiegen die Lebenshaltungskosten im Januar 2004 zum Vergleichsmonat im Jahr zuvor um 6,6%, zum Dezember 2003 um 2,1%. Dies wird auf die Erhöhung der Mehrwert- und Verbrauchersteuer zurückgeführt. Für Nahrungsmittel mußten die Ungarn 3% mehr bezahlen. Aber auch die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, Müllabfuhr, private Energieversorgung sowie Alkohol und Tabak verteuerten sich drastisch. Für Arzneimittel müssen ca. 16% mehr bezahlt werden, nicht zuletzt durch den Aufschlag von 5% Mehrwertsteuer.

Dies ist jedoch erst der Anfang. Seit dem 15. Februar ist Tibor Draskovics neuer Finanzminister. Er habe nun Brüssel die Konsolidierung des Haushaltes zugesichert und werde deshalb ein drastisches Sparprogramm in Höhe von 570 Mio. Euro für 2004 durchsetzen, verkündete er bei seiner Amtseinführung. Dies bedeutet immer noch ein Defizit von 4,6% und ist weit von den geforderten 3% entfernt. Ungarns Beitritt zur Eurozone wird deshalb voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2010 erfolgen.

In der zweiten Jahreshälfte 2003 kam es außerdem zu einem spekulativen Ansturm auf die ungarische Währung Forint. In Folge dessen wurden von der ungarischen Zentralbank die Zinsen kurzfristig auf 12% angehoben. Folgende geplante Einsparungen wurden bisher bekannt: Wirtschaftsministerium 138 Mio. Euro, Verteidigung 46 Mio., Erziehung, EU-Angelegenheiten und Kultur jeweils 32 Mio., IT und Telekommunikation ca. 30 Mio. Interfax berichtete außerdem, daß die Zuwendungen für den Krankenversicherungsfond um 35 Mio. Euro gekürzt werden sollen, die Unterstützung der Kommunalverwaltungen um 38 Mio. und die Zuschüsse für die staatliche Eisenbahn um 4 Mio..

Zusätzlich wird Ungarn für die EU zur Kasse gebeten, aber nicht im gleichen Maße aus dem EU-Topf bedient. Dies betrifft insbesondere die ungarische Landwirtschaft, die nach dem Beitritt am 1. Mai ein Massensterben von Betrieben erwartet. 20% der arbeitenden Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Deshalb gingen Ende Februar täglich Tausende von Milchbauern, Schweine- und Hühnerzüchtern auf die Straße.

Bereits heute liegen die Erlöse für Milch und Fleisch weit unter den Erzeugerpreisen. Die staatlichen Subventionen können diese Kluft nicht auffangen. Erschwerend kommt hinzu, daß ausländische Milchpulveranbieter, insbesondere aus Dänemark, billiger auf den Markt drängen. Lediglich sechs Unternehmen kontrollieren den ungarischen Milchmarkt, darunter auch die Parmalat Hungaria RT, deren Zukunft nach der Pleite der italienischen Mutter ungewiß ist. Ihr Marktanteil liegt bei 5-6%, und sie steht mit einer halben Milliarde Forint bei Milchlieferanten in der Kreide.

Im Gegensatz zum Vorjahr, in dem das Landwirtschaftsministerium noch über 230 Mrd. Forint an Subventionen zur Verfügung standen, werden in diesem Jahr lediglich 40-50 Mrd. Forint ausgegeben werden können. Die Mittel aus dem EU-Haushalt von ca. 160 Mrd. Forint sind nämlich erst zum nächsten Jahr abrufbar.

Viele ungarische Bauern werden deshalb kein Geld für die notwendigen Vorinvestitionen zur Verfügung haben. Durch die Dürreperiode im letzten Jahr ist zusätzlich der Preis für Futtermittel um 12% gestiegen. Selbst die schmackhaften ungarischen Tomaten werden von holländischen Produkten verdrängt.

Bei radikaler Umsetzung der von der EU geforderten Haushaltskonsolidierung könnten Plünderungen von Supermärkten zum Alltag werden. Dazu kam es bereits im Osten der Slowakei, nachdem den dort lebenden Roma ihre Sozialbezüge um 25% gekürzt wurden.

Verzweiflung über die Lage

In Gesprächen mit Ökonomen, Kirchenvertretern, Intellektuellen sowie jungen Leuten wurde die Verzweiflung über diese Lage sehr deutlich. Der Standpunkt des Schiller-Instituts, daß in dieser Auseinandersetzung den Menschen Vorrang vor den Interessen der Banken gewährt werden muß, stieß auf ungeteilte Unterstützung.

Die Verzweiflung über die Krise beruht jedoch nicht nur auf ihren wirtschaftlichen, sondern auch auf ihren kulturellen und zivilisatorischen Konsequenzen. Die Zerstörung des Bildungssystems und einer ganzen Generation junger Leute brennt vielen unter den Nägeln, obwohl verschiedentlich betont wurde, daß nur eine neue Generation von Politikern, die sich aus den heute 18-25jährigen rekrutiert, dem Land eine Zukunft geben könne.

Großen Raum nahm in den Gesprächen auch die angespannte strategische Lage ein, die durch die Kriegspolitik der Neokonservativen in der Bush-Administration nach wie vor erzeugt wird. Die Gesprächspartner erkundigten sich im Detail nach den Chancen von Lyndon LaRouche im Präsidentschaftswahlkampf in den USA, denn seine wirtschaftlichen Prognosen und Lösungen treffen auf immer mehr Zustimmung und werden heiß diskutiert, insbesondere seit seinem Auftritt im Finanzministerium im Winter 2002. Die Einsicht, daß das internationale Finanzsystem am Ende ist und zu kollabieren droht, vertieft sich. Deshalb orientieren sich die mitteleuropäischen Länder auch zunehmend in Richtung Eurasien.

Vortrag in der Reformierten Universität

Auf der Veranstaltung des Schiller-Instituts in der Budapester Reformierten Universität standen diese Fragen ebenfalls im Mittelpunkt. Dr. Tibor Kováts, der ungarische Vertreter des internationalen Schiller-Instituts, eröffnete die Veranstaltung. Er unterstrich, daß Ungarn einen Generationenwechsel im politischen Leben brauche und er sich sehr freue, daß diese Veranstaltung maßgeblich mit der Hilfe junger Ungarn zustandegekommen sei.

Hauptrednerin der Veranstaltung war Elisabeth Hellenbroich vom Schiller-Institut in Deutschland, die zu Anfang ihres Berichts über die Weltlage den amerikanischen Politiker Lyndon LaRouche zitierte: Heute gehe es vor allem um die Machtfrage, ob es gelinge, die Neokonservativen in der Bush-Administration zu entmachten und gleichzeitig das bankrotte Weltfinanzsystem im Interesse der Menschen zu reorganisieren.

LaRouche prognostiziere das nahende Ende des Imperiums, unter dem die Menschheit seit der Gründung der East India Company 1736 durch Lord Shelburne leide - das Ende einer imperialen Politik, gegen die sich die Amerikanische Revolution richtete. Nach der Wende seien auch Ost- und Mitteleuropa Opfer dieser neoliberalen und imperialen Bankinteressen geworden.

Dann beschrieb sie die Rolle der Neokonservativen um Vizepräsident Cheney, deren Politik dazu geführt hat, daß Amerikas Ansehen in der Welt so schlecht wie nie ist, und sie unterstrich LaRouches Rolle bei der Entlarvung der Lügen hinter der Irakpolitik.

Im zweiten Teil ihrer Rede behandelte sie die Systemkrise und das bevorstehende Platzen der Finanzblase. Argentiniens Präsident Kirchner habe den Konflikt auf den Punkt gebracht, als er sagte, daß die vom Internationalen Währungsfonds geforderte Schuldenrückzahlung Genozid am eigenen Volk bedeuten würde. Dann ging sie erneut auf LaRouches Lösungsvorschläge ein.

Schließlich widmete sie sich der Frage der europäischen Identität. Wenn Europa diese globale Krise überleben wolle, müsse es sich auf seine christlich-humanistischen Grundlagen besinnen und zur Politik für das Gemeinwohl zurückkehren. Europas Zukunft liege in Eurasien und in seiner Fähigkeit, die notwendigen Ressourcen in der Kultur und der Wissenschaft zu mobilisieren, um sechs Milliarden Menschen zu entwickeln. Eine wichtige Fähigkeit dabei sei die Aufnahmefähigkeit für andere Kulturen. "Um wahren Frieden in der Welt zu schaffen, muß Gerechtigkeit seine Erfüllung in der Nächstenliebe finden", zitierte sie aus der Botschaft von Papst Johannes Paul II. zum diesjährigen Weltfriedenstag.

Birgit Vitt


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