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  Oktober 2005 Journal (Texte)

Quo vadis Deutschland?

von Helga Zepp-LaRouche

In ihrer Wahlanalyse geht die Bundesvorsitzende der BüSo Helga Zepp-LaRouche auf die existentiellen Probleme Deutschlands und der Welt ein, vor denen die neue Bundesregierung stehen wird.

Wie auch immer die personelle Zusammensetzung der neuen Regierung aussehen wird, die Sachzwänge, mit denen sie konfrontiert sein wird, werden sich dramatisch von den Themen unterscheiden, über die Politiker und Medien während des Wahlkampfes geredet haben. Es werden die Themen sein, über die nur die BüSo gesprochen hat: 1. die hyperinflationäre Zusammenbruchskrise des globalen Finanzsystems, 2. die Implikationen des größten strategischen Desasters in der Geschichte der USA - des Irakkriegs - und 3. die Auswirkungen des Skandalgewitters in der Republikanischen Partei und mögliche Änderungen in der amerikanischen Regierung.

Auf jeden Fall wird diese nächste Regierung Entscheidungen zu treffen haben, von denen die Existenz Deutschlands abhängen wird. Und sie wird sich genau der Realität stellen müssen, die bisher akribisch aus den Medien herausgehalten wurde. Ob sie dazu in der Lage sein wird, wird ganz maßgeblich davon abhängen, ob sich diese Regierung die Analysen und Lösungsvorschläge der BüSo zunutze machen wird.

Das Wahlergebnis der BüSo, das natürlich im Interesse des Landes viel besser hätte sein müssen, verdient trotzdem höchste Anerkennung: zehn Direktkandidaten in Sachsen und Bayern erhielten zwischen 1 und 1,8 Prozent der Stimmen, weitere 17 zwischen 0,5 und 0,9 Prozent der Stimmen. Nur wenn man die vollkommene Mediendiktatur in Rechnung stellt, die Goebbels vor Neid erblassen ließe, wird die Bedeutung dieser Zahlen deutlich. Denn es gab eine Absprache zwischen den Medien, über die Inhalte der BüSo nichts zu berichten und wenn überhaupt, dann nur kurze verleumderische Erwähnungen zu bringen. Als ein jugendliches Mitglied der BüSo z.B. einen Journalisten des ZDF herausforderte, doch über die Realität des bevorstehenden Finanzkrachs und über die Tatsache zu berichten, daß die BüSo als einzige Partei Lösungen für dieses Problem hat, erwiderte dieser: "Realität ist, was in den Medien diskutiert wird." Wir können indes ganz beruhigt sein, daß diese Arroganz die kommenden Stürme ebensowenig überleben wird wie die Deiche von New Orleans.

Aber die BüSo hatte einen sehr viel größeren Einfluß in dieser Kampagne, als sich in den Stimmergebnissen niederschlug: Sie sorgte für eine konzeptionelle Klarheit, von der auch Politiker anderer Parteien profitierten. Am wichtigsten war sicherlich, daß der Putschversuch der Neokonservativen gegen den deutschen Sozialstaat vorerst abgeschmettert wurde. Die beiden Bücher der BüSo über die Neocons in den USA und die in Deutschland hatten gewissermaßen die begriffliche Vorbereitung geliefert, die für die Niederlage Paul Kirchhofs, der den Sozialstaat mit dem "Vorschlaghammer" zu zertrümmern drohte, die Munition lieferte.

Als dann das kriminelle Nichthandeln seitens der US-Regierung im Falle des Hurrikans Katrina verdeutlichte, wohin die Demontage des Sozialstaats im Ernstfall führt, warnte die BüSo in einem Flugblatt vor den absehbaren Konsequenzen - nämlich "bald Katastrophen wie in Lousiana" auch in Deutschland - , die eine Kirchhof-Politik der fortgesetzten Staats-"Verschlankung" haben würde. Als dann Frau Merkel im sogenannten TV-Duell von Sabine Christiansen gefragt wurde, ob Bush angesichts der Katrina-Katastrophe versagt habe, war ihr die Frage so unangenehm, daß sie das Versagen Bushs mit keinem Wort kommentierte und stattdessen völlig defensiv über ihre Politik für Deutschland sprach. Bundeskanzler Schröder hingegen machte seinen stärksten Punkt während des Duells, indem er das Argument der BüSo über die gefährlichen Konsequenzen, die es hat, wenn der Staat weitgehend abgeschafft wird, aufgriff.

Herr Kirchhof verschwand in der wohlverdienten Versenkung, und die Angriffe von Lambsdorff und Merz auf Frau Merkel zeigten, wie unfroh die deutschen Neocons über diesen abgewehrten Coup-Versuch waren, der in Deutschland statt Sozialstaat das angelsächsische Wirtschaftsmodell einführen sollte. "Merkel light" ist eben nicht nach dem Geschmack der Heuschrecken.

Aber auch Bundeskanzler Schröder ist es trotz seines beachtlichen Aufholmanövers, mit dem die SPD von 24 Prozent nach dem NRW-Wahlergebnis auf 34 Prozent kam, nicht gelungen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß er ein wirkliches Konzept zur Überwindung der Wirtschaftskrise in Deutschland hat. Der bittere Beigeschmack von Hartz IV und Agenda 2010 ist geblieben und hat der sogenannten Linkspartei Aufwind gegeben. Ob dieses Sammelsurium von PDS und diversen Protestlern, ohne kohärentes Konzept für die anstehenden Probleme, allerdings als Partei nachhaltig Bestand haben wird, ist höchst fraglich.

Die Aufgaben der neuen Regierung

Der wesentlichste Faktor, der zur Verzögerung bei der Regierungsbildung geführt hat, liegt nicht in den programmatischen Differenzen zwischen SPD und CDU/CSU, sondern in drei inhaltlich zusammenhängenden Großwetterlagen.

Das erste dieser Tiefs (wenn man es so bezeichnen will) ist die massive Schwächung der politischen Freunde Frau Merkels in Washington. Die Republikanische Partei wird derzeit geradezu von einem Artillerie-Bombardement von Skandalen erschüttert: Die zweifache Anklage wegen Parteifinanzierungsvergehen gegen den Mehrheitsführer im Kongreß, DeLay, setzt Dick Cheneys schärfsten Einpeitscher schachmatt. Gegen Delays Nachfolger, Roy Blunt, sind ebenfalls bereits Korruptionsvorwürfe erhoben worden. Die Neocon-Agentin Judith Miller, der es im Gefängnis zu langweilig wurde, hat Cheneys Stabschef Lewis Libby und Bushs Kampagnenmanager Karl Rove als ihre Informanten im "Fall Valerie Plame" benannt. (Sie hatten den Namen der verdeckt arbeitenden CIA-Mitarbeiterin Valerie Plame verraten, um sich an deren Ehemann, dem Wilson zu rächen, der die Story über das Uranerz aus Niger, das Saddam Hussein sich angeblich für Massenvernichtungswaffen beschaffen wollte, als Lüge entlarvt hatte.)

Die New York Times berichtete von Gerüchten, daß in diesem Zusammenhang weitere Anklagen gegen zwei Vertreter des Weißen Hauses bevorstünden; einer davon soll Cheney sein. Des weiteren hat sich jetzt der wegen Geheimnisverrat angeklagte Larry Franklin bereiterklärt, als Kronzeuge der Anklage auszusagen, und wird in den nächsten Tagen und Wochen die Personen im Pentagon benennen, die Geheimnisse an Israel verraten haben. Auf den Punkt gebracht: Die Republikanische Partei wird von einer existentiellen Krise erschüttert, und die Wolken von Watergate sind längst über Washington aufgezogen.

Der zweite Komplex, der die Rahmenbedingungen für die Regierungsbildung in Berlin tangiert, ist die "größte strategische Katastrophe in der Geschichte der USA" - nach den Worten des angesehenen Generals Odom, der früher den US-Militärgeheimdienst leitete. Nach Berichten amerikanischer Offiziere vor Ort im Irak haben die USA und Großbritannien die militärische Kontrolle im Land total verloren und verfügen nicht einmal mehr über die Möglichkeit eines geordneten Rückzugs, da sowohl der Weg über Basra nach Kuwait, als auch der Weg über die sogenannte Route 1 nach Jordanien von Widerstandskämpfern kontrolliert wird. Der Imageverlust für die USA aufgrund des verlorenen Irakkriegs geht nach Einschätzung selbst amerikanischer Militärs noch über die Niederlage in Vietnam hinaus. Bis heute hat sich Frau Merkel nicht zu ihrer eklatanten Fehleinschätzung der Lage zu Beginn des Irakkriegs geäußert.

Die Möglichkeit eines geordneten Rückzugs der ausländischen Truppen wird es nur geben, wenn der irakische Widerstand und der Rest der Welt ein deutliches Signal für eine wirkliche Änderung der Politik in Washington erhalten. Mein Ehemann, der amerikanische Oppositionspolitiker Lyndon LaRouche, hat betont, daß nur die Amtsenthebung oder der Rücktritt des Autors der Irakpolitik, Dick Cheney, ein solches Signal geben könne. Solange Cheney im Amt bleibt, besteht auch nach wie vor die Gefahr, daß ein neuer Terroranschlag in den USA zum Anlaß genommen wird, ohne weitere Untersuchungen nach dem Schuldigen Luftschläge gegen den Iran, auch unter Einsatz sogenannter Mini-Nukes (kleine Atomwaffen) durchzuführen.

Der dritte Aspekt des globalen Kontexts, der die Regierungsbildung und die Herausforderungen für die nächste Regierung bestimmen wird, ist die hyperinflationäre Explosion und außer Kontrolle geratene Derivatblase des globalen Finanzsystems. Der hoffnungslose Zustand des Weltfinanzsystems wird längst in allen Vorstands- und Regierungsetagen offen und voller Panik diskutiert.

Angesichts dieser beispiellosen historischen und strategischen Situation gibt es nur einen einzigen Ausweg: Die künftige Regierung muß gemeinsam mit anderen führenden Institutionen Europas darauf setzen, daß die wachsende überparteiliche Opposition gegen Bush und Cheney in den USA sich durchsetzt, die Regierung in Washington ändert und die Frage einer neuen Weltfinanzarchitektur auf die Tagesordnung setzt. Nur wenn eine überparteiliche Koalition in Senat und Kongreß zur Politik Franklin D. Roosevelts, des Bretton-Woods-Systems und des New Deal zurückkehrt, kann es einen Ausweg aus der systemischen Krise geben.

Daß diese Gezeitenwende bereits im vollen Gang ist, ist u.a. an der Niederlage des Weißen Hauses in jener Senatsabstimmung zu erkennen, bei der 90 zu 9 Senatoren für ein klares Verbot der Mißhandlung von Kriegsgefangenen stimmten und sich damit über Cheneys Drohungen hinwegsetzten (siehe Seite 5).

Die entscheidende Frage wird sein, ob die neue Regierung in Deutschland konzeptionell und charakterlich in der Lage sein wird, mit den in der Tat existentiellen Herausforderungen fertigzuwerden, vor denen wir stehen. Wenn der Großen Koalition weiter nichts einfällt, als gemeinsam drakonische Sparprogramme aufzulegen, wird Deutschland untergehen. Nur wenn es gelingt, das gesamte neoliberale postmoderne Paradigma, das für die vergangenen 35 Jahre Fehlentwicklung bis zur heutigen Katastrophe verantwortlich ist, aus dem Fenster zu werfen und zu wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt und klassischer Kultur zurückzukehren, gibt es einen positiven Ausweg.

Welchen Weg gehen wir?

Genau wie Amerika zwei Traditionen hat - die der amerikanischen Revolution und die des anglo-amerikanischen Empiredenkens - so hat auch Deutschland bekanntermaßen zwei Traditionen: die der deutschen klassischen Kultur in Kunst und Wissenschaft und die Ideologie der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Der punctum saliens, der springende Punkt der Geschichte ist der: Die unvermeidbare Zeitenwende wird nur dann zu einer besseren Zukunft führen, wenn das Amerika der amerikanischen Revolution und das Deutschland der deutschen Klassik zusammenarbeiten.

Es geht also um die Frage, welche Identität Amerika haben wird: Ist es das Land von Benjamin Franklin, Alexander Hamilton, John Quincy Adams, Abraham Lincoln, Franklin D. Roosevelt und Martin Luther King, oder das Gegenteil? - Und welche Identität Deutschland haben wird: Ist es das Land von Nikolaus von Kues, Leibniz, Bach, Beethoven und Schiller, oder das Gegenteil? Es liegt an uns allen.

Es gibt neben vielen anderen einen sehr offensichtlichen Grund, warum nur die klassische Tradition beider Nationen eine Grundlage für die Lösung der Probleme der Welt darstellen kann. Täglich mehren sich die Berichte von verzweifelten Afrikanern, die ihr Leben riskieren, um der Hölle von Hunger und Krankheiten, die den afrikanischen Kontinent verwüsten, zu entkommen und in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta zu gelangen. Wenn es zu einem unkontrollierten Krach des Weltfinanzsystems kommen sollte, dann sind die Bilder von Melilla und Ceuta nur ein Vorgeschmack für die Tragödien, die sich in einer ins Chaos stürzenden Welt abspielen würden.

Also müssen wir die Verwirklichung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung auf die Tagesordnung setzen: einen Marshallplan oder besser einen New Deal für Afrika, Lateinamerika, weite Teile Asiens, aber auch für Europa und die USA selber! Das Programm dafür hat die BüSo seit langem erarbeitet: es ist der Ausbau der Eurasischen Landbrücke als Kernstück des Wiederaufbaus der Weltwirtschaft.

Was das mit der klassischen Tradition zu tun hat? Sehr einfach, schon Nikolaus von Kues war der Auffassung, daß Konkordanz im Makrokosmos nur möglich sei, wenn sich alle Mikrokosmen entwickeln können. Schon Leibniz hatte sehr konkrete Pläne für die Entwicklung Afrikas und des Ostens, schon John Quincy Adams hatte die Vorstellung einer amerikanischen Außenpolitik für eine Prinzipiengemeinschaft vollständig souveräner Nationalstaaten, die durch das höhere Interesse der Menschheit miteinander verbunden sind.

Wie schon gesagt, der BüSo ist es trotz offener Manipulationen durch die Medien gelungen, einen tiefen Eindruck bei der Bevölkerung zu hinterlassen. So veröffentlichte die Sächsische Zeitung kurz vor der Nachwahl in Dresden im Wahlkreis 160, in einem offensichtlichen Versuch, potentielle BüSo-Wähler abzuhalten, eine Prognose für die BüSo von 0,0 Prozent, obwohl die BüSo im Wahlkreis II in Dresden am 18. September für den Direktkandidaten Galle 1,2 Prozent erhalten hatte. Offenbar wollte das Blatt mit dieser lächerlichen Prognose den Versuch unternehmen, dem unglaublich inspirierenden Wahlkampf von über sechzig jungen BüSo-Mitgliedern bei den potentiellen Wählern entgegenzuwirken. Vor allem in Sachsen ist es der LaRouche-Jugendbewegung gelungen, das Herz und den Stolz der Menschen auf ihre große klassische Tradition anzusprechen.

Die vielen Choreinsätze, bei denen Werke von Bach und Beethoven, aber auch viele exzellent vorgetragene Kanons mit umgedichteten politischen Texten gesungen wurden, haben in der Bevölkerung eine Resonanz erzeugt und die BüSo in Sachsen und einer Reihe anderer Orte zu einer Institution gemacht, die bleiben und wachsen wird. Daß es der BüSo gelungen ist, in Sachsen und anderen Orten die klassische Tradition zu beleben, ist vom Standpunkt der Universalgeschichte im Sinne Friedrich Schillers das wichtigste Ergebnis dieser Bundestagswahl. Im übrigen wird die vor uns liegende Zeit beweisen, daß die BüSo alle wichtigen Themen besetzt hatte, um die es jetzt gehen wird.

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