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  Januar 2005 Journal (Texte)

"Fundamentalisten sind Feinde Gottes"

Arthur Hertzberg, ein bekannter Historiker des Judaismus und des amerikanischen Judentums und Vorkämpfer für Gerechtigkeit in Amerika und Israel, war 1972-78 Präsident des Amerikanischen Jüdischen Kongresses und 1975-91 Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses. Das Gespräch veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Nachrichtenmagazins EIR.

Rabbi Arthur Hertzberg ist ein bekannter Historiker des Judaismus und des amerikanischen Judentums, ein resoluter Intellektueller und eine einflußreiche Stimme im Kampf um Gerechtigkeit in Amerika und Israel. Derzeit ist er Gastprofessor für Geisteswissenschaften an der New Yorker Universität. Er war als Präsident des Amerikanischen Jüdischen Kongresses (1972-78) und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (1975-91) ein führender Vertreter des Weltjudentums im Dialog der Religionen. Das Gespräch, das wir leicht gekürzt wiedergeben, führten Michele Steinberg und Marjorie Mazel Hecht vom US-Nachrichtenmagazin EIR am 27. und 31. Januar 2005 in den USA.

    Hinter uns liegt gerade die Amtseinführung des Präsidenten. Er ist überzeugt, er habe ein Mandat als "Kriegspräsident". Wie sehen Sie die Aussichten der zweiten Amtszeit Bushs?

Hertzberg: Wenn der ein Kriegspräsident ist, bin ich der Chef der amerikanischen Luftwaffe.

Ich hätte noch mehr Recht, mich für den Oberkommandierenden der US-Luftwaffe zu halten, denn ich habe im Koreakrieg tatsächlich 26 Monate in Uniform als Luftwaffengeistlicher gedient. Ich habe wirklich gedient! Und ich komme nicht ins Stottern, wenn mich jemand fragt: "Wo sind denn die Dokumente, die das beweisen?"

Um aber zum Kern des Problems zu kommen: Dieser Mann ist ein Kriegspräsident kraft seiner Eigenschaft als Lügner und seiner näheren Umgebung aus einem Kreis von Lügnern - woraus jetzt die Regierung wird...

Nach meiner Auffassung wird die zweite Amtszeit der Regierung Bush aller seiner großen Worte zum Trotz ein Mißerfolg werden. Er wird in dieser zweiten Amtszeit nicht mit einem klaren Sieg oder einem erfolgreichen Wiederaufbau aus dem Irak abziehen. Das wird länger dauern - wenn überhaupt. Er wird auch unsere Innenpolitik nicht völlig umkrempeln. Er wird die Renten nicht ausschlachten, weil die Nation es nicht zulassen wird. Deshalb denke ich, die zweite Amtszeit der Regierung Bush wird am Ende ein Mißerfolg sein. Wahrscheinlich sogar ein Desaster.

    Als die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt wurde, standen Sie als junger Mann dem inneren Kreis um Franklin Roosevelt nahe. Was bedeutete die gesetzliche Rentenversicherung für die Armen und Alten?

Hertzberg: Die Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung unter Roosevelt war eine moralische Revolution in unserem Land: Wir bekamen die Sicherheit, daß wir niemals in bodenlose Armut stürzen würden. Und wenn uns jetzt jemand erzählt, wir sollten das an der Wall Street aufs Spiel setzen, ist das blanker Unsinn...

Übrigens hat meine Tochter ihre Karriere an der Wall Street nach ihrem Wirtschaftsstudium als Praktikantin bei Goldman Sachs angefangen. Sie arbeitete als Praktikantin in der Handelsabteilung und blieb dort 15 Jahre lang. Und sie hat nie vergessen, daß der Leiter der Handelsabteilung, der neben ihr saß, die Mitarbeiter jeden Morgen um sieben immer mit den gleichen Worten begrüßte: "Willkommen im großen Spielkasino."

    Wenn Sie sagen, die zweite Amtszeit der Regierung Bush werde ein Mißerfolg, stellt sich sofort die Frage: Was können Menschen guten Willens tun? Man sieht die Mißstände - z.B. die Ernennung von Gonzales [zum Justizminister], womit nicht nur Folter gutgeheißen wird, Gonzales erklärt auch immer wieder, der Präsident stehe über dem Gesetz, sogar über der Verfassung.

Hertzberg: Ich habe über Gonzales nachgedacht. Und ich meine, wir können nicht einfach nur dasitzen und klagen. Wir sollten natürlich die Demokraten unterstützen, die diesen Leuten das Leben schwer machen werden. Aber wie Sie wissen, wurde Gonzales im Justizausschuß des Senats in einer Abstimmung streng nach Parteigrenzen mit 10:8 Stimmen bestätigt.

Deshalb wird die Schlacht wohl vor den Gerichten geführt werden. Man sollte nicht zulassen, daß Gonzales in irgendeiner Weise weiter behauptet, der Präsident stehe über dem Gesetz oder der Verfassung. Aber sie sind an der Macht und können tun, was sie wollen, solange man es nicht zu einer Verfassungsfrage macht.

Wir haben es zwar bekanntlich nicht gerade mit einem wohlwollenden Obersten Gerichtshof zu tun. Aber ich habe im Laufe der Jahre genug Leute aus diesem Gericht kennengelernt, um eines zu wissen: Es gibt dort immer jemanden, der für eine Überraschung gut ist - jemanden, der über das, wozu man ihn vermeintlich ernannte, hinauswächst, indem er an der Gewaltenteilung und am Vorrang von Recht und Gesetz festhält.

Nachdem ich heute Morgen Ihre Fragen erhalten hatte, mußte ich an Richter Hugo Black denken. Er war früher ein Mitglied des Ku-Klux-Klan. Trotzdem war er es, der die rassistische Voreingenommenheit des Obersten Gerichtshofes brach. Und ich mußte an Earl Warren denken, der als Gouverneur von Kalifornien die Japaner in Konzentrationslager schickte und sich als Richter am Obersten Gerichtshof tief beschämt darüber zeigte.

Ich glaube, es gibt etwas im der amerikanischen Mentalität, das es nicht so weit kommen lassen wird. Ich denke da z.B. an die "ausschlaggebenden Stimmen" am Obersten Gerichtshof. Sandra Day O'Connor war Landesvorsitzende der Republikaner usw. Aber sie vertritt in bezug auf Bürgerrechte einen ziemlich festen Standpunkt. Ich kenne auch Souter etwas, aus der Zeit, als er Richter in Vermont war... Er wurde ernannt, weil man ihn für einen Konservativen hielt, aber das ist er nicht.

Daher hege ich in bezug auf den Obersten Gerichtshof Hoffnung. Ich würde Gonzales vor Gericht bringen, damit er sich dort für seine Taten verantworten muß.

    Können Sie noch etwas genauer auf die Politik eingehen, für die Gonzales mitverantwortlich ist? Seymour Hersh hat ein Buch über Abu Ghraib verfaßt und hielt vor kurzem einen Vortrag an der Stephen Wise Free Synagoge. Er sprach über seine Recherchen zum Massaker von My Lai in Vietnam.

Hertzberg: Ich stehe auf Hershs Seite. Er ist ein großartiger Mann. Ich habe gerade heute morgen einen Brief an [die demokratische Senatorin] Barbara Boxer abgeschickt. Ich habe heute morgen zwei politische Briefe geschrieben - sozusagen als Gentleman vom Lande im Ruhestand, der jetzt an der Universität lehrt und Bücher schreibt.

Darf ich so halb am Rande erzählen? Ich schrieb Barbara Boxer, ich hätte die Ehre gehabt, sie vor etwa 25 Jahren zu treffen, als sie eine frischgebackene Kongreßabgeordnete war. Sie war damals noch nicht in den Senat aufgestiegen. Ich stand damals am Ende einer sechsjährigen Amtszeit als Präsident des American Jewish Congress, einer innerhalb des Establishments eher linken Organisation.

Ich schrieb ihr: Als ich Sie das erste Mal traf, waren Sie praktisch das einzige Mitglied des Kongresses, das für etwas mit ganzem Herzen eintrat, wofür niemand sonst den rechten Mut aufbrachte: den Aufbau einer jüdischen Lobby in Washington für die Juden, die gegen die araber- und palästinenserfeindliche Haltung des damaligen Ministerpräsidenten Jitzhak Schamir waren. (Man erinnert sich, daß Schamir einen sehr harten Kurs verfolgte.) Aber Sie waren von allen am offensten. Nichts von dem, was Sie seither angepackt haben, einschließlich dessen, was Sie in der jüngsten Zeit getan haben, war unter dem Niveau dieser jungen Frau, die ich vor 25 Jahren traf. Ich möchte Sie meiner ganzen Unterstützung versichern und Ihnen in den Angelegenheiten, für die Sie jetzt kämpfen, meine Hilfe anbieten, in welcher Form auch immer. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Gott segne Sie.

Ich habe auch Scharon einen Brief geschrieben, der ihn überraschen wird. Ich will ihn kurz zusammenfassen:

Verehrter Herr Ministerpräsident, ich bin Zeit meines Lebens Ihr Gegner gewesen. Aber ich sehe Sie jetzt als den einzigen Menschen in Israel, der in der Lage ist, Israel zu Frieden und einem Zusammenleben mit den Palästinensern zu führen. Wegen dieses Wandels werden Sie jetzt von Ihrer eigenen Likud-Partei angegriffen, aber Sie sind jetzt der nationale Führer des jüdischen Volkes. Ich wünsche Ihnen mehr Kraft. Und wenn ich irgendetwas Hilfreiches tun kann, können Sie auf mich zählen.

    Glauben Sie denn, daß Scharon sich in der gleichen Weise verändert wie vorher Rabin?

Hertzberg: Man kann nichts Sicheres sagen. Aber Scharon denkt jetzt: "Ich kann den Gazastreifen nicht behalten. Ich kann auch nicht ewig das Westjordanland behalten, höchstens hier und da ein Stück herausbrechen. Ich muß mich mit dem Gedanken anfreunden, daß die Palästinenser bleiben werden." Das ist eine wichtige Erkenntnis.

Ich weiß nicht, welche Form der Frieden annehmen wird. Es wird nach einigem Hin und Her sein - mit den Palästinensern und auch mit den USA als Partnern. Aber es geschieht etwas, was wir nicht vorgesehen haben.

    Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, sagten Sie...

Hertzberg: Da war ich sehr, sehr ärgerlich.

    Sie sagten, Bush und Scharon würden in der Hölle schmoren.

Hertzberg: Er wird nun wohl auf kleinerer Flamme garen.

    So! Sie haben also die Temperatur für Scharon heruntergedreht...

Hertzberg: Wo Bush enden wird, weiß ich noch nicht. Aber zu Scharon - ich habe über ihn in den vergangenen Monaten einmal geschrieben, er habe sich im Kern die Auffassung der Arbeitspartei zu eigen gemacht: Die Palästinenser werden nicht weggehen. Also müssen wir versuchen, uns mit ihnen so zu einigen, daß die Mehrheit in Israel damit leben kann. Das ist es, was meiner Ansicht nach gegenwärtig vorgeht.

    Viele amerikanische Juden meinen, Israel könne nur überleben, wenn es gegen die Terroristen, die Juden ermorden, eine harte Haltung einnimmt, und es gebe auf der palästinensischen Seite keinen Partner für einen Frieden. Was sagen Sie denen?

Hertzberg: Wenn man so über Israel denkt, wird der Krieg ewig dauern. Dann gibt es keine Chance für Frieden - und letztlich sind wir zahlenmäßig unterlegen.

Scharon ist zu der Erkenntnis gelangt, daß es eine Zwei-Staaten-Lösung geben muß und man den Palästinensern einigermaßen Gleichheit gewährt muß. Die meisten Israelis verstehen das. Es gibt jetzt in Israel eine stabile Zweidrittelmehrheit für einen Palästinenserstaat. Scharon hat sich dieser Mehrheit angeschlossen und hat deswegen Ärger mit seiner eigenen Partei.

    In Ihrem jüngsten Buch Das Schicksal des Zionismus bezeichnen Sie die Zwei-Staaten-Lösung und die Rückgabe des 1967 besetzten arabischen Landes als den einzigen Weg zum Frieden.

Hertzberg: Die harte jüdische Linie beruht bis heute auf der Vorstellung, die Palästinenser oder Araber müßten entweder einen Status als Bürger dritter Klasse akzeptieren oder ihre Sachen packen und gehen. Aber so kann und wird es nicht sein. Im ungeteilten Land Israel leben mehrere Millionen Araber. Über die genaue Zahl läßt sich streiten, aber sie ist beträchtlich. Die Palästinenser werden nicht weggehen - unter anderem deshalb, weil die arabischen Staaten sie nicht gerade begeistert aufnehmen. Ohne eine Lösung, die den palästinensischen Arabern einen Anteil an der Region zugesteht, so daß sie etwas zu verlieren haben, wird es keinen Frieden geben...

    Der frühere sowjetische Dissident Natan Sharansky, der heute israelischer Minister für Soziales und Diaspora-Angelegenheiten ist, ist mit seinem Buch Die Aufgabe der Demokratie: Die Macht der Freiheit zur Überwindung der Tyrannei eine Art Hausphilosoph des Weißen Hauses und des Außenministeriums geworden. Was sagen Sie dazu?

Hertzberg: Das ist auf beiden Seiten völliger Unsinn. Nehmen wir Sharansky. Es ist immer noch die Frage, wie er überhaupt aus der Sowjetunion herauskommen konnte. Schließlich ist er der einzige, den sie jemals im Austausch gegen einen ihrer Agenten ausreisen ließen. Mindestens ein israelischer Autor hat in einem Buch geschrieben, Sharansky sei ein Doppelagent gewesen. Es kam zu einer Verleumdungsklage, der Autor verlor, und der Verlag zahlte Sharansky Entschädigung.

Aber als ich vor etwa 15 Jahren in die Sowjetunion reiste, war ich an einem Abend Gast des großen Sacharow in seinem Haus. Es war eine surrealistische Situation, denn ich kam zu ihm in einem Wagen der Regierung. Ich war Gast der Russischen Akademie der Wissenschaften und hatte es zur Bedingung meines Aufenthalts gemacht, daß ich mich frei bewegen und jeden treffen konnte, den ich wollte.

Ich fragte Sacharow nach Sharansky - das hier wurde noch nie veröffentlicht - , dem er Jahre zuvor sehr nahe gestanden hatte. Er und seine Ehefrau Jelena Bonner, die heute in Boston lebt, sagten mir, sie hätten die Beziehung zu Sharansky abgebrochen. Ich hakte ein bißchen nach, aber mehr sagten sie nicht. In ihren Augen war Sharansky nicht mehr der Freiheitskämpfer, der er einmal gewesen war oder für den sie ihn gehalten hatten, als er jünger war.

Jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich mich mit Sharanskys Haltung so schwer tue: Dieses ganze Geschwätz der Israelis und Amerikaner, sie wollten überall Demokratie, ist völliger Unsinn. Israel will keine demokratischen Wahlen in Jordanien oder in Ägypten oder sonstwo in der arabischen Welt. Den Beweis dafür sieht man daran, daß die Palästinenser gerade demokratische Wahlen im Gazastreifen abgehalten haben - und was war das Ergebnis?

    Die Hamas hat gewonnen.

Hertzberg: Genau. 60-70% der Stimmen gingen an die Hamas und 30% an Al Fatah. Hamas würde auch Wahlen im Westjordanland gewinnen. Wenn es wirklich freie Wahlen wären, würde Hamas auch in Ägypten und Jordanien gewinnen. Ich kenne diese beiden arabischen Länder.

Was Israel wirklich will, sind freundlich gesonnene Staaten, mit denen es auskommt. Und jeder, der etwas anderes sagt - Sharansky eingeschlossen - , erzählt Märchen.

Was nun die Amerikaner angeht, wollen die Demokratie im Nahen und Mittleren Osten? Wollen die Amerikaner, daß die Erdölquellen des Iraks und Saudi-Arabiens in die Hände von revolutionären, islamisch-fundamentalistischen Regimes kommen?

Das will Bush ebenso wenig wie eine Kugel in den Kopf. Deshalb ist dieses Gerede von Demokratie reine Propaganda für die Öffentlichkeit. Beide Staaten wollen, daß der Mittlere Osten in ihrem Sinne vernünftig unter Kontrolle ist. Amerika wegen des Erdöls und Israel, weil es in seiner unmittelbaren Nachbarschaft keine kriegerischen Staaten wünscht. Im Moment verlaufen die Interessen etwas parallel, aber diese Parallelität hat nichts mit Demokratie zu tun...

    Über ein anderes Thema hatten wir neulich schon gesprochen: den religiösen Fundamentalismus in den großen Religionen.

Hertzberg: Das ist eine schreckliche Sache. Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen.

Vor 10 oder 15 Jahren war ich in Tokio bei einer Konferenz verschiedener Religionen - das einzige Mal, daß ich in Tokio gesprochen habe. Die Frage war: Welche Gemeinsamkeiten haben die Religionen, die sich auf die Bibel berufen, und, noch wichtiger, was haben sie mit den Religionen gemeinsam, die nicht auf der Bibel gründen?

Damals sagte ich: Die große Katastrophe ist, daß jeder immer mehr daran denkt, was seine Wahrheit ist, seine Tugend, seine Rechte und seine Fähigkeiten. Deshalb gibt es Krieg statt Frieden. Die ureigenste Aufgabe der Religion ist nicht, den Gläubigen in der Überzeugung zu bestärken: "Ich habe recht und du unrecht", denn das bedeutet Krieg, heiligen Krieg, den schrecklichsten aller Kriege. Wir müssen einsehen, daß die Gemeinsamkeit der Religionen darin besteht, die Schwachen zu verteidigen, egal, wer sie sind, welcher Tradition sie angehören, woher sie kommen.

Deshalb sind für mich christliche und jüdische Fundamentalisten, ebenso wie alle anderen Fundamentalisten, Feinde Gottes. Bitte schreiben Sie das genau so: Es sind Feinde Gottes.

Jüdischer Fundamentalismus und christlicher Fundamentalismus lehren, daß sie in allem recht haben, und daß wir und alle, die nicht mit ihnen einer Meinung sind, in der Hölle schmoren werden. Der jüdische Fundamentalismus lehrt, daß Juden mit Waffen und mit Bürgerkrieg dagegen kämpfen dürfen, daß man ihre Siedlungen im Westjordanland räumt, und daß sie sich Anweisungen der Regierung widersetzen dürfen. Das ist ein Aufruf zum Heiligen Krieg, zum Dschihad in verschiedener Form.

Moralische Werte, richtig praktiziert, fangen mit Nächstenliebe an. Und wenn jemand statt Liebe Haß predigt und erklärt, der andere gehöre zur "Synagoge des Teufels", wie die Christen immer sagten, wenn sie die Juden verfolgten, dann ist das ein Aufruf zum Krieg, ein Aufruf zum Faschismus. Und aus Gott wird Hitler! Das können Sie ruhig so zitieren.

Es ist eine religiöse Pflicht, sich dagegen zu wehren.

    Damit stimmen wir völlig überein. Wenn man bedenkt, daß Rabin von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet wurde!

Hertzberg: Den ein Rabbiner dazu ermutigt hatte! Der Rabbiner lehrte ihn, Rabin sei ein Verräter an der Religion, weil er einen Teil des Landes, das Gott persönlich den Juden geschenkt habe, weggeben wolle.

250 Rabbiner haben später das gleiche erklärt, als es um die Rückgabe des Großteils des Westjordanlandes ging.

Das muß aufhören. Eine solche Religion muß man als das bezeichnen, was sie ist: eine Religion des religiösen Faschismus - ob es sich nun um christlichen Fundamentalismus in Amerika handelt oder um jüdischen Fundamentalismus in Israel oder um islamischen Fundamentalismus wie im Falle der Hamas.

Dieses Denken muß man in allen seinen Erscheinungsformen bekämpfen. Und ich sage das nicht als Privatmann, sondern als Rabbiner, das können Sie durchaus hervorheben. Ich wurde mit 18 Jahren als orthodoxer Rabbiner ordiniert. Ich schreibe gerade ein Buch über den Talmud. Ich sage das also nicht so einfach daher. Hier geht es um das Wesen, das Herzstück unseres Glaubens.

Darf ich Ihnen dazu eine Geschichte erzählen? Es ist eine großartige Geschichte aus dem Talmud.

Die Lesung aus der Thora in der vergangenen Woche war eine Stelle aus dem Buch Exodus, wo geschildert wird, wie das ägyptische Heer, das die Juden verfolgte, ertrank, als es das Meer durchqueren wollte. Gott staute das Wasser für die Juden und öffnete ihnen einen Durchgang, und als die Ägypter kamen, schlug es wieder über ihnen zusammen. In der Bibel selbst folgt dann ein Jubel- und Dankgesang an Gott, den die Juden anstimmten, die Zeuge dieses Wunders wurden.

Aber im Midrasch, dem Teil des Talmud mit der moralischen Auslegung, heißt es, erst hätten die Engel im Himmel in diesen Gesang eingestimmt. Aber Gott befahl ihnen, damit aufzuhören. Und als sie fragten, warum, antwortete er: "Meine Kinder sind gerade im Meer ertrunken. Auch wenn sie Sünden begangen haben, sind sie immer noch meine Kinder. Und ihr stimmt Jubelgesänge an?"

Die Bibelstelle, in der vom Triumphlied nach dem Untergang der Ägypter die Rede ist, wird im Talmud kritisiert, und es heißt dort, Gott hieß die Engel schweigen.

    Ich wünschte, der Präsident und seine Unterstützer bei den christlichen Fundamentalisten verstünden diese Geschichte.

Hertzberg: Der Präsident veranstaltet Gebetsfrühstücke. Dazu lädt er von jüdischer Seite fast immer orthodoxe Rabbiner mit der extremsten Einstellung ein. (Dabei gibt es davon nur sehr wenige.) Liberale Rabbiner sind wenig oder gar nicht vertreten.

Ich bin nicht daran interessiert, ins Weiße Haus zu Bush eingeladen zu werden. Aber ich finde es merkwürdig, daß jemand, der als führender Vertreter jüdischen Lebens und Denkens so in der Öffentlichkeit steht wie ich, in den vier Jahren zu den zahllosen religiösen Exerzitien im Weißen Haus nie eingeladen wurde. Dabei geht es nicht um mich. Aber es sagt etwas über Bush und seine Berater aus. Er hat gar kein Interesse daran, eine solche Geschichte wie die aus dem Midrasch zu hören.

    Eines Ihrer Interviews im National Public Radio hat mich sehr beeindruckt. Sie hatten mit christlichen Predigern gesprochen, auch aus Bushs Kirche, die versucht hatten, mit Bush über Frieden statt Krieg zu sprechen. Doch er empfing sie nicht.

Hertzberg: Die Regierung ignoriert alles, was nicht ihren Vorurteilen entspricht.

    Lyndon LaRouche sagte kürzlich auf einem Seminar zur Weltwirtschaftskrise in Berlin, ein Aufruf zum Dialog der Religionen sei an sich noch keine Gewähr für Frieden. Er schlug einen "neuen Westfälischen Frieden" vor, wo ein jeder durch wirtschaftliche Entwicklung vom anderen profitiert.

Hertzberg: Der Westfälische Frieden ist ein ausgezeichnetes Vorbild, aber man darf es nicht überstrapazieren. Es war ein Vertrag zwischen Völkern, die alle dem christlichen Glauben angehörten...

Heute liegt die Schwierigkeit darin, daß wir einen Frieden schaffen wollen zwischen den Völkern und Religionen des Westens, die die Renaissance und später die Reformation erlebten und heute gut verstehen, daß wirtschaftliche Entwicklung in den weniger bevorzugten Teilen der Welt notwendig ist, und den Moslems, die diese geschichtlichen Vorgänge nicht oder nur in geringem Maße miterlebt haben. Daher müssen wir jetzt den Schwerpunkt auf wirtschaftliche Entwicklung legen, in der Hoffnung, daß das stärker ist als der Fanatismus.

Ich arbeite derzeit mit Freunden an zwei oder drei Projekten, die Juden, Israelis und Palästinenser zusammenbringen. Einiges davon verläuft ziemlich erfolgreich. Meiner Ansicht nach müssen heute Bildung und wirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund stehen. Das ist der lange Weg, aber immer noch kürzer, als nur zu predigen.

Ein wesentlicher Aspekt des Problems ist, daß junge Menschen heute in einer Welt ohne Hoffnung geboren werden und aufwachsen. So werden sie zu Mördern, Selbstmordattentätern usw. Wir müssen mehr Hoffnung schaffen.

    LaRouches Programm für den Nahostfrieden betont die wirtschaftliche Entwicklung sehr.

Hertzberg: Davon bin ich überzeugt. Das ist sicherlich ein gutes Gesprächsthema für ihn und mich, wenn wir das nächste Mal zusammen essen.

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