Millionen beschäftigen sich, daß die Gattung bestehe,
     Aber durch wenige nur pflanzet die Menschheit sich fort.
Tausend Keime zerstreuet der Herbst, doch bringet kaum einer
     Früchte; zum Element kehren die meisten zurück.
Aber entfaltet sich auch nur einer, einer allein streut
     Eine lebendige Welt ewiger Bildungen aus.

             Friedrich Schiller, Die verschiedene Bestimmung

Zur Erinnerung an Rosemarie Schauerhammer

Wir haben heute Abschied genommen von Rosemarie Schauerhammer, die am 26.April 2003 völlig unerwartet und viel zu früh starb. Viele von uns kannten Romie, seit sie vor 30 Jahren zusammen mit ihrem späteren Mann, Ralf Schauerhammer, den Labor Committees beitrat. In den 80er Jahren war sie mehrere Jahre lang Redakteurin der Neuen Solidarität. Und in einer Zeit, als viele Kollegen dem Internet noch durchaus skeptisch gegenüberstanden, hat sie sich selbst die HTMLanguage beigebracht und die erste Version dieser Webseite erstellt. (Diese ist somit auch ein kleines Stück von ihr.)

1984 mit A.B.Robinson

1984, nach der Gründung des Schiller-Instituts, kam die amerikanische Bürgerrechtlerin Amelia Boynton Robinson nach Deutschland und in das noch geteilte Berlin. Romie hatte die couragierte alte Dame sofort ins Herz geschlossen und führte das erste Interview der Neuen Solidarität mit ihr, zu dem sie eine längere Einführung über den Kampf um die Bürgerrechte in den USA schrieb. Amelia erzählt in diesem Interview u.a. von Tante Sally, die als Zwölfjährige mit einem der letzten Sklavenschiffe aus Sierra Leone nach Virginia kam. Dann geht es um den Kampf der Bewegung Martin Luther Kings und als letztes um die Lage Berlins und der Bundesrepublik. Amelia Boynton Robinson sagt, die Mauer erinnere sie an das biblische Jericho. "Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte, als die Mauern niederstürzten. Dasselbe wird auch heute passieren. Erst müssen die geistigen Mauern fallen und dann die materiellen." Romie gab dem ganzen die Überschrift "Die Mauern werden fallen". Das war in Neue Solidarität Nr. 42, 1984.

Anfang 1989 wurden Lyndon LaRouche und mehrere seiner Mitstreiter aus politischen Gründen zu langen Haftstrafen verurteilt. Als Romie Anfang der 90er Jahre für mehrere Wochen in den USA war, um dort die politische Arbeit zu unterstützen, bestand sie darauf, mindestens einen von ihnen im Gefängnis zu besuchen, denn sie fand, Solidarität sei nicht bloß etwas Abstraktes, man müsse sie auch direkt zeigen.

Lyndon LaRouche beklagte bewegt "den plötzlichen Tod unserer Mitstreiterin über ein Vierteljahrhundert". Er erinnerte an das Schillerfest 2000 in Wiesbaden, an dem er teilgenommen hatte. "Die schöpferische Art und Weise, wie sie dort die Sache Lessings vertrat, ist mir im Gedächtnis haften geblieben. Das war genau ihre Persönlichkeit." Dem von Romie mit entwickelten Programm über Lessing ("Die Bestimmung des Menschen", Nr. 46, 2002) lag das Prinzip des Streitgesprächs zugrunde. Statt hehrer, aber steriler Anbetung der Lessingschen Ideen sollten diese sich an der heutigen Realität bewähren. Romie hatte dabei die Rolle der "Gegenwart" übernommen, die gleich zu Anfang Kontra gibt:

"Ich finde die Dichterplänzchen viel zu rückwärtsgewandt; alles, was sie rezitieren, ist mindestens 200 Jahre alt. Ich vertrete die Gegenwart, ich lebe hier und heute, und die Kunst muß sich auf die heute lebenden Menschen beziehen. Der alte Kram interessiert doch heute keinen mehr. Was heute interessiert, muß vor allem Spaß machen."

Damit war das Thema gesetzt, das Publikum hellwach, und der Dialog konnte losgehen: Lessing kontra Spaßgesellschaft. Trotz aller Widerworte blieb die "Gegenwart" am Ende nicht unbewegt. Nachdem klar wurde, daß Lessing den Nathan in der Zeit geschrieben hatte, als ihm nach kurzer Ehe die Frau und der neugeborene Sohn gestorben waren, und die Klosterbruderszene mit dem erschütternden "Gott! auf sieben doch nun schon eines wieder" verklungen war, sagte Romie als "Gegenwart" mit großem Ernst: "Was für ein Mensch muß man sein, um so etwas zu schreiben, nachdem sein ganzes Lebensglück zerbrochen ist? Verstehst Du, wenn das Leben vor allem Spaß sein soll, und dann so etwas?"

Was Romie an Lessing wie an Schiller so gefiel, war beider Beharren darauf, daß es eine Wahrheit gibt, die man allerdings nicht pachten kann, sondern eigenständig suchen muß. Wie Lessing war auch sie der Ansicht, daß Kritik im Lessingschen Sinne ein Weg zur Vervollkommnung ist, bei dem man auf andere Menschen angewiesen ist. Man muß lernen, einfühlsam zu kritisieren und Kritik entgegenzunehmen. Das gilt auch für die Arbeit an Gedichten. Es kommt nicht darauf an, irgendetwas "schön vorzutragen", sondern die Idee des Dichters lebendig auf den Geist der Zuhörer wirken zu lassen. Dies wird nur dem gelingen, der diese Ideen lebt und im eigenen Tun und Handeln verkörpert. Romie tat das.

Jenseits der Routine

Und genau so waren auch die Artikel, die sie schrieb. Fast alle hatten etwas Außergewöhnliches, das aus dem Rahmen der üblichen Routine fiel. Mit Johannes Kepler hatte sie sich schon im Rahmen ihres Studiums beschäftigt, hielt viele Vorträge über ihn und verfaßte zusammen mit ihrem Mann mehrere grundlegende Essays über diesen großen Wissenschafter aus dem Dreißigjährigen Krieg, der trotz aller politischen und persönlichen Schrecknisse -- verstoßen von beiden Kirchen, seine Mutter als Hexe verklagt, die Gattin gestorben -- die große Revolution der Astrophysik vollzog, für die oft zu Unrecht Kopernikus gepriesen wird.

Romie hob an Kepler genau die Eigenschaft hervor, die Schiller dem "philosophischen Kopf" (im Unterschied zum "Brotgelehrten") zuschreibt, daß er nämlich die Wahrheit mehr liebt als sein System, und wenn er Mängel an letzterem fände, es ohne Zögern ändern würde. So einer war Kepler: Zuerst entwickelte er die schöne Hypothese, daß die Abstände der sechs Planeten durch die zwischen deren Kugelsphären geschachtelten fünf Platonischen Körper bestimmt würden; aber in der Weltharmonik löst er sich dann von allen festen "Sphären" und läßt die Sterne in freier Harmonie ihre elliptischen Bahnen am Himmel ziehen.

50. Geburtstag

Kurz vor ihrem 50. Geburtstag am 20.Januar 2003 schrieb Romie einen gedankenvollen Essay über "Carl Zuckmayer -- ein großer Dramatiker in Deutschlands schwerer Zeit". Er beginnt, typisch, mit einer herben Antithese: "Carl Zuckmayer? Ist das nicht der trinkfeste Autor des Fröhlichen Weinbergs und des unlängst von dem noch trinkfesteren Harald Juhnke gespielten Hauptmann von Köpenick?" Nein, man tue Zuckmayer großes Unrecht an und leiste sich selbst einen Bärendienst, wenn man ihn auf dieses Klischee reduziere. Und dann entwickelt sie, warum Zuckmayer "der größte deutsche Dramatiker des 20.Jahrhunderts" sei, und seine Autobiographie Als wär's ein Stück von mir ein äußerst spannendes Geschichtsbuch der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Wie aktuell ist heute Zuckmayers Tragödie Des Teufels General über die Nazizeit, die im amerikanischen Exil entstand -- fernab von Hollywood auf einer kleinen Farm in Vermont.

Mir fiel auf, daß Romie in diesem Essay nur eine Stelle aus dem Hauptmann von Köpenick zitiert, nämlich die, wo der vom Schicksal gebeutelte Wilhelm Voigt "durch sein Vertrauen auf eine höhere Ordnung im Universum Kraft und Über-Lebenswitz gewinnt" (Romie). Sein Schwager Hoprecht meint, Voigt wolle sich bloß nicht unterordnen, ob er denn keine innere Stimme habe, die ihm dazu rate. Und Voigt antwortet, o ja, die innere Stimme habe durchaus zu ihm gesprochen (am besten liest man das Zuckmayersch-berlinerische Zitat in ihrem Artikel in Nr. 6/2003 nach). Einmal müsse jeder Mensch sterben, habe die innere Stimme gesagt. Dann stehe er vor Gott, der ihn fragt: Was hast Du mit Deinem Leben gemacht? Dafür habe ich Dir das Leben nicht geschenkt, daß Du es so armselig dahinbringst. -- Im Gegensatz zu Brecht, betonte Romie, habe Zuckmayer es verstanden, Menschen mit einfachen, ja volkstümlichen Worten zu einem höheren Selbstverständnis zu erheben.

Es ist kein Zufall, daß sie gerade diese Stelle so prominent hervorhob. In diesem Zusammenhang kommen mir auch die Worte in den Sinn, die Romie beim letzten Schillerfest als Trojas Königin Hekabe in Trauer um das tote Enkelkind sprach: "...denn in Einfalt nennen wir Glück, was Glück auf Erden ist!" An der Art, wie sie das sagte, wurde klar: Die über das irdische Leben hinausreichende Idee, die Euripides vor 2400 Jahren in diesen Halbsatz legte, war ihr wohlbewußt.

Jeder Mensch ist einmalig, aber an Romie ist etwas besonders Einzigartiges, das sich nicht näher in Worte fassen läßt. Ich sehe sie vor mir, wie sie lebhaft und ernsthaft bestimmte Argumente oder Ideen verfocht, die nie unwichtig und immer wahrhaftig waren. Und deswegen glaube ich, wird Romie in unseren Gedanken weiterleben, weil wir in so vielem, was wir tun, an sie erinnert werden.

Gabriele Liebig