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  Oktober 2005 Journal (Texte)

Wird es den Irak noch geben?

Nur die Zusammenarbeit der vernünftigen Kräfte im Land mit den Nachbarstaaten und den USA kann die Voraussetzungen für einen gesichtswahrenden Rückzug der US-Truppen aus dem Irak schaffen. Sonst droht das Land in einem Bürgerkrieg der verschiedenen ethnischen Gruppen auseinanderzubrechen.

Nach einem genaueren Blick auf die Lage im Irak während meines Besuchs in der Region mache ich mir große Sorgen, daß der Irak nicht mehr das Land ist, das ich in meiner Kindheit und als junger Mann kannte, und vielleicht sogar etwas ganz anderes werden könnte. Der Irak ist heute, physisch und geistig, eine gespaltene Nation. Es droht nicht nur ein Bürgerkrieg, es drohen viele Bürgerkriege, und zwar unmittelbar. Die verschiedenen Provinzen des Irak werden nicht von der "Regierung" regiert, sondern von verschiedenen religiösen und militanten Gruppen. Diese Gruppen kämpfen bei ihrem Kampf um die Vorherrschaft gegen die Banden des organisierten Verbrechens, gegen die anderen militanten Gruppen - seien sie Teil der sunnitischen Aufständischen oder der neugeschaffenen Terrorgruppen - und gegen die amerikanischen und britischen Besatzungstruppen.

Um den Irak als Gesamtnation und als Quelle von Kultur und Ideen, die in seiner Geschichte gründen, zu retten, ist die sofortige, konzertierte Aktion einer neuen, vernünftigen Führung in den USA zusammen mit anderen Nationen der Region notwendig. Für die amerikanisch-britischen Besatzungstruppen im Irak muß eine klare Rückzugsstrategie ausgearbeitet werden. In diesem Kontext muß eine nationale Versöhnungskampagne und -konferenz stattfinden, um die Wunden des Bürgerkriegs zu heilen, der der blutigste in der Geschichte des Landes zu werden droht. Dies sollte mit Unterstützung und in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten des Irak geschehen - insbesondere dem Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und Syrien. Auch die amerikanisch-britische Rückzugsstrategie selbst muß durch ein Sicherheitsabkommen mit den Nachbarn des Irak abgesichert werden. Ein Rückzug der US-Truppen im Kampf würde die Lage im Irak schlimmer machen, als wir sie in Somalia Anfang der 90er Jahre erlebt haben. Unterdessen müssen alle Diskussionen über die Gestaltung und die Ratifizierung der neuen irakischen Verfassung aufgeschoben werden, bis die Sicherheits- und Wirtschaftslage im Irak sich stabilisiert hat und neue, legitime Wahlen stattgefunden haben.

Die Lage ist nicht nur eine Bedrohung für den Irak selbst, sondern auch für alle seine Nachbarn, denen ähnliche religiöse und ethnische Kriege bevorstehen, wenn der Irak aufgeteilt werden sollte. Vor allem Saudi-Arabien, aber auch andere Golfstaaten, sind zutiefst besorgt darüber, daß die Kämpfe auf die ölreichen Gebiete im Osten übergreifen könnten, wo die schiitische Minderheit des ansonsten sunnitischen Landes vorherrscht. Das hat Saudi-Arabien und andere arabische Staaten dazu bewogen, endlich bestimmte politische Schritte zu ergreifen, um in die Lage im Irak zu intervenieren.

Die Lage im Irak

Die politische Führung und Elite des Irak heute erinnert an ein Narrenschiff. Die Bevölkerung ist die Geisel blinden Terrors, der überall zuschlägt, und sie ist das Opfer der Militärschläge und schmutzigen Kriegstaktiken der Amerikaner und Briten. Die schiitische wie die sunnitische Bevölkerung wird durch Terror, Morde, Wassermangel, das Fehlen von Strom und grundlegenden Dienstleistungen sowie durch die massive Gehirnwäsche Dutzender privater Satellitensender, die den Religionskrieg und Rache an irakischen Landsleuten propagieren, an den Rand des Wahnsinns getrieben. Dabei wird die wirkliche Ursache des Irak-Desasters, nämlich die Kriegsstrategie der Neocons um Bush, Cheney und Blair, verschleiert und vertuscht.

Die Grenzen zwischen empörenden Terrorakten gegen unschuldige, meist schiitische Zivilisten und dem legitimen Widerstand gegen die Besatzer wird zunehmend verwischt. Jeder Geheimdienst kann sich im Land einnisten und Autobomben einsetzen, Selbstmordattentäter rekrutieren und Morde und Entführungen anordnen. Erst Ende September wurden Soldaten der britischen special forces verhaftet, die am hellichten Tag in Basra als arabische Terroristen auftraten und in einem zivilen Fahrzeug Sprengstoff, Zünder, Schußwaffen und modernste Kommunikationsmittel transportierten. Was hatten sie vor? Nach ihrer Festnahme wurden sie mit britischen Panzern sofort wieder befreit. Das irakische Gefängnis, in dem die Soldaten verhört wurden, und die Beweismittel gegen sie wurden von den Panzern einfach zerstört.

Eine der gefährlichsten Entwicklung im Land ist der Einsatz ethnischer Milizen bei den amerikanischen Operationen gegen die sunnitischen Aufständischen. Nach der Auflösung der irakischen Armee und Sicherheitskräfte durch den amerikanischen Besatzungschef Paul Bremer im Jahre 2003 waren die kurdischen Milizen und die schiitische Badr-Brigade des inzwischen regierenden Obersten Rates der Islamischen Revolution (SCIRI) die einzig verbliebenen organisierten Milizen. Die neugeschaffene Al-Mahdi-Armee des schiitischen Geistlichen Muktadar Al Sadr ist nach wie vor gegen eine religiöse Teilung des Landes und konzentriert ihre Angriffe auf die amerikanischen und britischen Truppen.

Die jüngsten Militäraktionen im Westen des Irak wurden von den US-Streitkräften mit Unterstützung kurdischer und schiitischer Milizen durchgeführt, die den größten Teil der neuen irakischen Armee stellen. Das hat die Feindschaft zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften verschärft. Auf beiden Seiten fordern Extremisten Rache, und Terrorgruppen wie die "Al Qaida" des Abu Musaab Al Sarkawi - den viele für ein Geschöpf des amerikanischen, britischen oder israelischen Geheimdienstes halten - haben auf Märkten und in Moscheen blinde Terroranschläge gegen schiitische Zivilisten verübt. Unterdessen entführen und töten Todesschwadronen, als Angehörige der irakischen Armee oder Polizei getarnt, neben prominenten Angehörigen des früheren Saddam-Regimes junge Sunniten und sunnitische Geistliche. Mehrfach kam es zu Mordwellen gegen bestimmte Personengruppen, die von mysteriösen Kräften organisiert wurden. So wurden beispielsweise vor vier Wochen mehrere Lehrer umgebracht, dann folgte eine Mordwelle gegen Universitätsprofessoren. Davor waren Ingenieure das Ziel. Die Erklärung, die die offiziellen Medien der Bevölkerung servierten, lautete, dies seien Gruppen ehemaliger Baathisten und sunnitischer Aufständischer, die jedem, der seine Arbeit tut, vorwerfen, er sei ein Kollaborateur der amerikanischen und britischen Besatzer.

Bei Diskussionen mit Irakern kann man den Schrecken sehen, der die Bevölkerung aufgrund dieser Sicherheitslage beherrscht. Jeder muß ständig mit dem Tod rechnen. Die meisten sind psychologisch und auch praktisch beeinträchtigt, weil sie sich in den Städten, insbesondere in Bagdad, nicht ohne Gefahr bewegen können. Auch die wirtschaftlichen Bedingungen sind eine Hölle. Sauberes Wasser und Strom sind inzwischen Luxus. Nach der Invasion im April 2003 wurde der Strom alle drei Stunden ab- und wieder eingeschaltet. Im Jahr 2004 sprachen die Iraker von 3:1 - nach dreistündigen Stromausfällen gab es eine Stunde lang Strom. In diesem Jahr, insbesondere im Sommer, galt das Verhältnis 6:1.

Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 60-70%. Eine nationale Produktion gibt es faktisch gar nicht mehr. Die Iraker, die in einem permanenten Halbsozialstaat leben, kaufen alles aus dem Ausland - Nahrungsmittel, Kleidung, Haushaltswaren etc. Die Politik des sog. freien Marktes, die durch die Invasion eingeführt wurde, hat das Land in einen riesigen Flohmarkt verwandelt. So mußten beispielsweise meine Verwandten, die seit drei Jahrzehnten eine Textilfabrik betrieben, diese Fabrik schließen und anfangen, billige chinesische Waren einzuführen, weil der irakische Markt mit Billigwaren aller Art überschwemmt wird. Mit den wenigen Dollars, die jede Familie jeden Monat erhält, soll eine "Konsumgesellschaft" mit niedrigstem Lebensstandard aufrechterhalten werden. Aber Krankenversorgung, Strom, Trinkwasser und und Verkehr sind Dinge, die die irakischen Händler nicht aus China importieren können.

Die Staatsfinanzen, die vor allem auf Ölexporten beruhen, werden geplündert und ins Ausland transferiert. Erst Anfang September gab das sog. Antikorruptionsministerium bekannt, daß 1 Mrd.$ aus dem Verteidigungsministerium der Übergangsregierung Ayad Allawi, das der amerikanischen Besatzung unterstellt war, verschwunden sind. Das Geld wurde für Scheinaufträge an ausländische Firmen bewilligt. Das gleiche gilt für fast alle Ministerien. Die sogenannten Wiederaufbauaufträge wurden ohne Ausschreibung an Firmen wie Halliburton vergeben, die wiederum irakische Firmen anheuerten, die dann einige Arbeiten ausführten, deren Bezahlung nur einen Bruchteil des Auftragswertes ausmachte.

Der Verfassungbetrug

In den letzten Wochen wurde ein großer Betrug arrangiert, der als Ausarbeitung der permanenten Verfassung bezeichnet wurde. Zunächst einmal ist der Text, auf den sich die kurdische Allianz mit der schiitischen Koalition geeinigt hat, nichts anderes als der Text des von den USA oktroyierten Gesetz (TAL) der Übergangsverwaltung unter Paul Bremer. Ein paar geringfügige Änderungen wurden vorgenommen, um den besonderen Interessen einiger kurdischer und schiitischer Gruppen - genauer gesagt, den religiösen und ethnischen Milizen - entgegenzukommen.

Der wichtigste Aspekt des Entwurfs ist die Teilung des Landes entlang der ethnischen und religiösen Grenzen in einer sogenannten Föderation. Der mysteriöse Text des Entwurfs, über den das irakische Volk am 15. Oktober abstimmen soll, muß noch gedruckt und den Bürgern zugestellt werden. Bei Redaktionsschluß (5. Oktober) war dies noch nicht geschehen. Aber auch wenn die UNO dies inzwischen angeblich veranlaßt hat, rät der US-Botschafter Zalmay Khalilzad den kurdischen und schiitischen Parteien immer noch zu Änderungen an der "fertigen Verfassung", um zu erreichen, daß die Sunniten zustimmen. Die Sunniten haben den Entwurf zurückgewiesen, weil er das Land in Kleinstaaten zu zerteilen droht, die von Religions- und Söldnerführern beherrscht werden, und den bisher privilegierten Sunniten im Westen des Irak die wichtigen Einnahmen aus den Ölexporten vorenthält.

Aber anstatt nun einen auf Prinzipien beruhenden Standpunkt einzunehmen, sind die führenden sunnitischen Politiker dabei, den Mythos zu übernehmen, die Vorgänge im Irak beruhten auf einer iranischen Verschwörung, und der Iran und die Regierung Bush arbeiteten zusammen, um dem Iran die Kontrolle über den Süden des Landes zu verschaffen. Dieser Unsinn wird dazu führen, daß sunnitische und arabische Extremisten in den Nachbarländern den Marsch in den Bürgerkrieg unterstützen.

Die gleiche Propaganda wurde schon einmal vom früheren Diktator Saddam Hussein eingesetzt, um den Krieg gegen den Iran von 1980-88 zu rechtfertigen.

Die irakischen Schiiten und Kurden werden von ihren politischen und religiösen Führern aufgefordert, für die Verfassung zu stimmen, egal was ihr Inhalt ist, weil dies angeblich die einzige Garantie dafür sei, daß Saddam und seine Handlanger von der Baath-Partei nie wieder an die Macht zurückkehren. Viele Schiiten stehen dieser Einschüchterungstaktik skeptisch gegenüber, aber sie könnten dem Gruppendruck nachgeben. Die Sunniten werden durch eine massive Militäroperation an der Stimmabgabe gehindert, die sich auf das ganze sogenannte sunnitische Dreieck mit Ramadi, Salhaddin und Ninevah erstreckt.

Dies sind die drei Provinzen, die nach den Regeln des TAL die Verfassung zu Fall bringen könnten, wenn zwei Drittel ihrer Wähler gegen die Verfassung stimmen. Nun versuchten bestimmte Kräfte im irakischen Parlament, in letzter Minute (am 4. und 5. Oktober) die Regeln des Referendums so zu ändern, daß eine Ablehnung der Verfassung unmöglich wird. Sie forderten, die Ablehnung müsse durch mehr als zwei Drittel der Bevölkerung der jeweiligen Provinzen erfolgen, um wirksam zu sein. Dieser Antrag wurde jedoch vom irakischen Parlament abgelehnt.

Schritte der Arabischen Liga

Als offensichtlich wurde, in welchem Schlamassel die amerikanischen und britischen Truppen im Irak stecken, und angesichts der Gefahr eines langanhaltenden Bürgerkriegs berief die Arabische Liga auf Drängen Saudi-Arabiens und Ägyptens eine Konferenz ein, die am 3. Oktober in Dschiddah (Saudi-Arabien) stattfand, um Maßnahmen zu diskutieren, mit denen ein Bürgerkrieg im Irak verhindert werden kann. Die Außenminister der Liga beschlossen, Generalsekretär Amre Mousa sofort in den Irak zu entsenden, um mit allen irakischen Kräften über die Einberufung einer "nationalen Versöhnungskonferenz" unter der Schirmherrschaft der Arabischen Liga zu diskutieren. Diese Konferenz soll am 25. Oktober stattfinden. Es ist das erste Mal seit der amerikanisch-britischen Invasion im April 2003, daß die Arabische Liga es wagt, im Irak zu intervenieren.

Beobachter in der Region interpretieren diesen Schritt unterschiedlich. Einige sagen, daß er von der US-Regierung veranlaßt wurde, um die Sunniten unter Druck zu setzen, damit sie dem Verfassungsentwurf zustimmen. Ein weiterer interessanter Aspekt ist jedoch, daß dies wahrscheinlich die seit langem erwartete Intervention der Nachbarn des Irak ist, die den amerikanischen und britischen Truppen den Rückzug aus dem Land ermöglicht, ohne daß diese dabei das Gesicht verlieren. Dies hatte Lyndon LaRouche in seiner "LaRouche-Doktrin für Südwestasien" gefordert. Der Iran und die Türkei sind zwar keine Mitglieder der Arabischen Liga, aber ihre Beteiligung an diesen Bemühungen wäre wesentlich. Beide Staaten sind Mitglieder der Gruppe der Sechs, der alle Nachbarstaaten des Irak angehören.

In Zusammenarbeit mit den vernünftigen Kräften im Irak, wie Ajatollah Al Sistani, der Vereinigung Muslimischer Geistlicher, Scheich Ahmed Al Kubaisi - dem religiösen Führer der Sunniten, der die LaRouche-Doktrin öffentlich unterstützt hat - Mohammed Jawad Al Khalisi, dem Führer des Irakischen Gründungskongresses, der für eine Verständigung eintritt, und anderen patriotischen und religiösen Gruppen wäre es möglich, den Irak zu stabilisieren.

Aber diese Initiative sollte von den USA ausgehen, durch eine Änderung der amerikanischen Politik. Der Irak hat in der Vergangenheit viele Katastrophen erlebt, aber diese bedroht seine Existenz. Dabei geht es nicht nur um den Irak, sondern um die Zukunft der ganzen Region und auch der USA selbst. Deshalb müssen viele Kräfte an der Stabilisierung des Landes, an der Wiederherstellung des Friedens und am Wiederaufbau der gesamten Region beteiligt werden.

Husein Askary

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