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  Oktober 2005 Journal (Texte)

Der Entwurf einer neuen amerikanischen Nukleardoktrin

Ohne Rücksicht auf Völkerrecht und UN-Charta arbeitet das US-Verteidigungsministerium gegenwärtig an einer neuen Doktrin für den präemptiven Einsatz von Atomwaffen.

Am 11. September 2005 veröffentlichte die Washington Post auf der Frontseite einen Artikel mit der Überschrift "Das Pentagon revidiert Plan für Nuklearschläge". Darin berichtete Walter Pincus über den Entwurf einer "Doktrin für kombinierte Nuklearoperationen" des Pentagon, worin der präemptive Einsatz von Nuklearwaffen gegen Staaten oder terroristische Gruppen vorgesehen ist, die "beabsichtigen", Massenvernichtungswaffen gegen die Vereinigten Staaten einzusetzen. Über die Existenz des Entwurfs für die Doctrine for Joint Nuclear Operations hatte die Washington Post erstmals am 15. Mai 2005 berichtet. Bei der Bewertung dieses Pentagon-Dokuments ist folgendes zu berücksichtigen:

Die "Bush-Doktrin" vom September 2002

Am 17. September 2002 unterzeichnete Präsident George W. Bush "Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika" und setzte sie damit in Kraft. Diese neue Sicherheitsstrategie, auch "Bush-Doktrin" genannt, ist die gravierendste sicherheitspolitische Kehrtwende in der Geschichte der USA.

Im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und unter Mißachtung des geltenden Völkerrechts nehmen sich die USA in der "Bush-Doktrin" das Recht, Präventivkriege zu führen, wobei von "antizipatorischer Selbstverteidigung" gesprochen wird. Wörtlich heißt es in der "Bush-Doktrin":

    "Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko - und desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung; selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird ... Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen ... Der Zweck unseres Handelns wird immer sein, eine spezifische Bedrohung der Vereinigten Staaten oder unserer Verbündeten und Freunde zu eliminieren ... Bei unseren Bemühungen zur Wahrnehmung unserer Sicherheitsverpflichtungen in der Welt und zum Schutz von Amerikanern werden wir die notwendigen Schritte unternehmen, damit diese Aufgaben nicht durch Ermittlungen, Untersuchungen und Verfolgung durch den Internationalen Gerichtshof behindert werden, dessen Zuständigkeit sich nicht auf Amerikaner erstreckt und den wir nicht anerkennen ..."

Am 7. März 2003 ergänzte Präsident Bush diese Doktrin in einer Pressekonferenz praktisch durch die Feststellung:

    "Wenn es um unsere Sicherheit geht, brauchen wir wirklich keine Erlaubnis von irgendjemandem, auch eine Zustimmung des Weltsicherheitsrates nicht."

Die Welt hat diese völkerrechtswidrige Strategie zur Kenntnis genommen und sich damit letztlich mitschuldig daran gemacht, daß Präsident Bush sie im Rahmen der Operation Iraqi Freedom - der Invasion und Okkupation des Irak - erstmalig umsetzte. Die Begründungen für den Waffengang wurden erfunden und die amerikanische Bevölkerung und die internationale Staatengemeinschaft belogen. Stellvertretend für die amerikanische Regierung hatte der damalige US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat ein Horrorszenario entwickelt, um den Waffengang gegen den Irak zu rechtfertigen. Heute bezeichnet Powell seinen damaligen Auftritt vor der UNO als einen "dauerhaften Schandfleck" in seiner Biographie.

Kofi Annans Stellungsnahme

Einzig und allein der UN-Generalsekretär Kofi Annan hat sich bislang eindeutig zur "Bush-Doktrin" geäußert. Auf der UN-Vollversammlung im September 2003 sagte er:

    "Seit der Gründung der UNO haben die Länder generell versucht, Bedrohungen für den Frieden unter Kontrolle zu bekommen, mit Hilfe eines Systems, das auf der Sicherheit für alle und auf der Charta der Vereinten Nationen basiert.

    Nach Artikel 51 der Charta haben alle Länder, die angegriffen werden, automatisch das Recht auf Selbstverteidigung. Aber bisher galt es als selbstverständlich, daß Staaten für alle weiteren Maßnahmen zur Verteidigung des internationalen Friedens und der Sicherheit die besondere Legitimation des Sicherheitsrates brauchen. Jetzt sagen einige, daß diese Übereinkunft nicht länger haltbar sei, weil ein Angriff mit Massenvernichtungswaffen ohne Vorwarnung und durch eine unbekannte (Terror-)Gruppe zu befürchten sei. Statt auf einen solchen Angriff zu warten, meinen sie, daß jeder Staat das Recht und die Verpflichtung hat, einen Erstschlag zu führen, selbst auf fremdem Boden und in einer Phase, in der die gefürchteten Waffen erst noch entwickelt werden. Nach diesem Verständnis müssen Länder nicht mehr auf eine Übereinkunft im Sicherheitsrat warten, sie nehmen sich das Recht, unilateral oder in Ad-hoc-Koalitionen zuzuschlagen. Diese Logik ist ein fundamentaler Bruch mit den Prinzipien, die - wenn auch nicht perfekt - in den vergangenen 58 Jahren für Frieden und Stabilität gesorgt haben. Ich befürchte, daß diese Logik zur Ausbreitung einer einseitigen und völkerrechtswidrigen Anwendung von Gewalt führen könnte - mit und ohne Rechtfertigungen ..."

Kofi Annan sprach des weiteren von einem Scheideweg, an den man gelangt sei: "Dieser Moment könnte genauso bedeutend sein für die Vereinten Nationen wie der Zeitpunkt ihrer Gründung 1945 ... Der Sicherheitsrat muß entscheiden, wie er damit umgehen will, daß individuelle Staaten präventive Gewalt gegen von ihnen empfundene Bedrohungen anwenden könnten ... Die Geschichte ist ein harter Richter ... Sie wird uns nicht vergeben, wenn wir diesen Augenblick ungenutzt verstreichen lassen."

Bis heute hat die Welt diesen Augenblick ungenutzt verstreichen lassen. Die Militäroperation im Irak dauert an, das Land steht am Rande eines Bürgerkrieges und die Lage in der Nahmittelost-Region ist so instabil und explosiv wie niemals zuvor.

Die Doctrine for Joint Nuclear Operations

Trotzdem schaut die Welt tatenlos zu, wie in den USA jetzt auch die Doctrine for Joint Nuclear Operations in Richtung der "Bush-Doktrin" verändert werden soll. Dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld liegt eine überarbeitete Fassung der Nukleardoktrin vor, die auch den präemptiven Einsatz von Atomwaffen vorsieht.

Wörtlich heißt es zu den amerikanischen Atomwaffen: "[Nuklear-]Waffen könnten eingesetzt werden, um einem Terrorangriff zuvorzukommen", und zwar für folgende Fälle:

  • Gegen Feinde der USA, die Amerika und seine Verbündeten mit Massenvernichtungswaffen (WMD) angreifen oder bedrohen ...

  • Gegen feindliche Depots von nuklearen, biologischen oder chemischen Waffen ...

  • Der Einsatz von A-Waffen muß auch erwogen werden, falls "Terroristen oder regionale Staaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, wahrscheinlich Sicherheitsverpflichtungen der USA gegenüber Alliierten und Freunden 'testen' wollen ..."

Und dann heißt es unmißverständlich: "Die Vereinigten Staaten haben sowohl die Fähigkeit als auch den Willen, präemptiv oder in Vergeltung zu handeln und zwar mit prompten Antworten, die glaubhaft und effektiv sind ..."

Wäre diese Nukleardoktrin am 20. März 2003 in Kraft gewesen, hätte die Möglichkeit bestanden, daß die US-Regierung atomare Waffen gegen den Irak eingesetzt hätte, obwohl alle Begründungen für den Militärschlag nicht der Wahrheit entsprachen. Die Folgen wären nicht auszudenken gewesen.

Heute geraten zunehmend der Iran und auch Syrien in das Fadenkreuz der Bush-Regierung. Zu einem umfassenden konventionellen Militärschlag sind die USA wegen des Irak-Krieges und des Afghanistan-Einsatzes nicht mehr in der Lage, aber ihre atomaren Optionen sind noch umfassend verfügbar. Auch an der Entwicklung sogenannter "Mini-Nukes" - Atomwaffen mit "geringer" Sprengkraft - wird wohl weiter gearbeitet, obwohl der Kongreß im Juli 2005 die beantragten zusätzlichen Gelder nicht bewilligt hat.

Noch hat Verteidigungsminister Rumsfeld die neue, von US-Generalstabschef Myers überarbeitete Doctrine for Joint Nuclear Operations nicht unterzeichnet. Was tut eigentlich die Welt, damit das auch morgen nicht geschieht? Wie sagte Kofi Annan? "Die Geschichte ist ein harter Richter ... Sie wird uns nicht vergeben, wenn wir diesen Augenblick ungenutzt verstreichen lassen."

Jürgen Hübschen

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