Juni 2003 Archiv (Texte)

Neuer Schub für Transeuropäische Verkehrsprojekte

von Lothar Komp

Die "Van-Miert-Kommission" hat das Investitionsprogramm EU für das "Transeuropäische Netzwerk" der Verkehrsinfrastruktur überarbeitet, um zahlreiche Projekte erweitert und mahnt deutlich größere Investitionen an, um verlorene Zeit wettzumachen.

Die europäischen Volkswirtschaften stecken im Morast. Noch trüber sieht es in den Köpfen zahlreicher Vertreter in Politik und Wirtschaft aus, denn die gängige Interpretation des pausenlos verwendeten Begriffs der "Strukturkrise" hat den Blick inzwischen soweit verengt, daß von vornherein sämtliche Lösungsansätze verworfen werden, die über einen bloßen Kahlschlag bei Renten, Gesundheit und Arbeitsmarktbestimmungen hinausgehen.

Doch jetzt kommt frischer Wind in die Auseinandersetzung um unsere wirtschaftliche Zukunft. Parallel zu den Bemühungen der italienischen Regierung, Europa durch Großprojekte in Infrastruktur und Technologie fit für das 21. Jahrhundert zu machen, haben sich unlängst die Verkehrsminister von 27 west- und osteuropäischen Staaten auf ein gemeinsames Konzept für den beschleunigten Ausbau der Transeuropäischen Verkehrsnetze geeinigt. In 10 Zusammenkünften zwischen Dezember 2002 und Juni 2003 wählten die Repräsentanten der 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) sowie der EU-Beitrittsländer Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern unter der Leitung des ehemaligen EU-Verkehrskommissars Karel van Miert insgesamt 18 neue Verkehrsprojekte aus, die aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für Wachstum und Produktivität der europäischen Wirtschaft nun vordringlich in Angriff genommen werden. Am 30. Juni veröffentlichte die Europäische Kommission die Schlußfolgerungen der Verkehrsministerrunde.

Der Van-Miert-Bericht

Im "Van-Miert-Bericht" wird kein Hehl daraus gemacht, daß die Entwicklung der Transeuropäischen Netzwerke bislang kaum vom Fleck gekommen ist. Man erinnere sich: Unmittelbar nach dem Fall der Mauer hatte Lyndon LaRouche das Projekt des "Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien" vorgestellt, ein umfassendes Programm zum Wiederaufbau des osteuropäischen, russischen und asiatischen Wirtschaftsraumes unter Einsatz des technologischen Potentials der mittelständisch geprägten Wirtschaften Westeuropas.

Der Delors-Plan von 1993/94 greift in gewisser Weise LaRouches Vorschlag auf. Der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors erkannte, daß die Maastricht-Kriterien für die Europäische Währungsunion ohne Kompensation zu einer Strangulierung der europäischen Wirtschaft mit einigen Millionen zusätzlichen Arbeitslosen führen mußten. Er forderte daher ein großes Infrastrukturprogramm, finanziert durch eigenständige Anleihen der Europäischen Union, das heißt außerhalb der nationalen Budgets.

Damit sollten speziell solche Vorhaben gefördert werden, die wegen ihres grenzüberschreitenden Charakters ohnehin ein gesamteuropäisches Engagement erforderten: die sogenannten Transeuropäischen Netze (TEN). Auf dem Essener EU-Gipfel wurde dann im Dezember 1994 tatsächlich der Bau von 14 TEN-Prioritätsprojekten beschlossen. Aber weil Delors seine EU-Anleihen nicht durchsetzen konnte und die nationalen Regierungen in der Maastricht-Zwangsjacke steckten, sind bis heute lediglich drei der 14 Projekte fertiggestellt worden: Die Eisenbahnverbindung Cork-Dublin-Belfast-Stranraer, der italienische Flughafen Malpensa sowie die Dänemark und Schweden verbindende Öresund-Brücke.

Mehr Geld für die Infrastruktur notwendig

Wie der "Van-Miert-Bericht" betont, sind die gegenwärtigen Ausgaben für die europäische Infrastruktur völlig unzureichend. Inzwischen wird in der EU gerade noch 1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Erhalt oder den Ausbau der Verkehrswege investiert. Dabei wächst das Verkehrsaufkommen dramatisch an, nicht zuletzt auf den Straßen. Schon jetzt drohen wichtige Arterien des europäischen Verkehrsnetzes zu verstopfen. Selbst im Bahnverkehr gibt es auf 20% der europäischen Strecken Engpässe. Im Luftverkehr mehren sich die Verspätungen. All dies wirft die Wirtschaftstätigkeit Europas zurück. Und nun treten die osteuropäischen Länder der Gemeinschaft bei, mit rund 20 000 km Straßen und 30 000 km Schienenwegen, die dringend überholt und ausgebaut werden müssen.

Der Bericht fordert daher die umgehende Einrichtung neuer Finanzierungsmechanismen, um die benötigten 235 Mrd. Euro für die prioritären TEN-Projekte (das gesamte Transeuropäische Verkehrsnetz erfordert 600 Mrd. Euro an Investitionen) bereitzustellen. Immerhin hat die Europäische Investitionsbank (EIB) gerade eine neue Fazilität mit einem Volumen von 50 Mrd. Euro speziell für TEN-Projekte eingerichtet. Weitere Aktivitäten der EIB könnten helfen, privates Kapital für die Infrastrukturvorhaben zu mobilisieren. Der EU-Anteil bei den TEN-Investitionen, bislang maximal 10%, soll auf 20% oder mehr erhöht werden.

Auch die nationalen Regierungen müssen ihre Anstrengungen ausweiten. Denn obwohl die 235 Mrd. Euro gerade einmal 0,16% des europäischen BIP darstellen, "handelt es sich hierbei um maßgebende Produktivinvestitionen, die das Wachstumspotential der Wirtschaft stärken".

18 neue, prioritäre Projekte

Für die folgenden 18 neuen Prioritätsprojekte liegen bereits feste Zusagen der betreffenden Staaten für eine Inbetriebnahme bis spätestens im Jahr 2020 vor:

1. Galileo: Die Schaffung eines eigenständigen, zivilen Radionavigationssystems, mit dem Europa unabhängig vom GPS-System wird, welches im Zweifelsfall den Erfordernissen des US-Militärs Priorität einräumt. Insgesamt werden für Galileo 30 Satelliten in eine Erdumlaufbahn befördert - eine nicht unbedeutende Konjunkturspritze für die nach dem Platzen der Telekomblase am Boden liegende Raumfahrtindustrie Europas. Dank Galileo wird es möglich sein, mit sämtlichen Verkehrsteilnehmern - ob auf der Straße, der Schiene, zur See oder in der Luft - jederzeit in Verbindung zu treten und dadurch sowohl die Effizienz als auch die Sicherheit des Verkehrs zu erhöhen.
2. Beseitigung von Engpässen auf Rhein, Main und Donau. Im Vordergrund stehen hier die Mosel, die Strecken Vilshofen-Straubing, Wien-Bratislava, Palkovicovo-Mohacs und weitere Donauabschnitte in Rumänien und Bulgarien. Übersichtskarte als PDF-Datei (1,7 MB)
3. Hochgeschwindigkeitsseewege: Verschiedenste Formen von Behinderungen des Seeverkehrs - sowohl technischer wie bürokratischer Natur - in der Ostsee, der Nordsee, entlang der europäischen Atlantikküsten, im Mittelmeer und im Schwarzen Meer sollen identifiziert und beseitigt werden.
4. Die Eisenbahnverbindung Lyon-Triest/Koper-Ljubljana-Budapest für den gemischten Schienenverkehr. Übersichtskarte als PDF-Datei (2,2 MB)
5. Die Eisenbahnverbindung Berlin-Verona-Neapel/Mailand-Bologna für den gemischten Schienenverkehr, insbesondere die Teilstrecken Halle/Leipzig-Nürnberg, München-Kufstein, der Brennertunnel, Verona-Neapel und Mailand-Bologna. Übersichtskarte als PDF-Datei (2,5 MB) 6. Die Eisenbahnverbindung griechisch-bulgarische Grenze-Sofia-Budapest-Wien-Prag-Nürnberg für den gemischten Schienenverkehr.
7. Die Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken Südwest, das heißt unter anderem die Strecken Lissabon/Porto-Madrid, Perpignan-Montpellier, Montpellier-Nimes, Irun-Dax, Dax-Bordeaux und Bordeaux-Tours. Insgesamt geht es hier um die Überquerung der natürlichen Barriere der Pyrenäen, die bislang den Verkehr zwischen dem Südwesten Europas und dem übrigen Europa erheblich beeinträchtigt.
8. Die Eisenbahnverbindung Danzig-Warschau-Brünn/Zilina für den gemischten Schienenverkehr, darunter die Strecken Danzig-Warschau-Kattowitz und Kattowitz-Brünn-Breslau/Zilina-Nove Mesto. Mit diesen Strecken soll eine neue Nord-Süd-Verkehrsachse geschaffen werden, welche ausgehend vom Danziger Hafen die weiter westlich gelegenen Nord-Süd-Achsen Europas entlasten kann.
9. Die Eisenbahnverbindung Lyon/Genua-Basel-Duisburg-Rotterdam/Antwerpen für den gemischten Schienenverkehr, darunter die Teilprojekte Lyon-Mulhouse-Müllheim, Genua-Mailand/Novara-Basel-Karlsruhe, Frankfurt-Mannheim, Duisburg-Emmerich, der "Eiserne Rhein" und Rheidt-Antwerpen.
10. Die Eisenbahnverbindung Paris-Straßburg-Stuttgart-Wien-Bratislava für den gemischten Schienenverkehr. Übersichtskarte als PDF-Datei (3,2 MB)
11. Die Interoperabilität des Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes auf der iberischen Halbinsel, darunter die Strecken Vigo-Porto.
12. Die multimodale Verkehrsverbindung zwischen Irland, dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent, darunter die Verkehrskorridore Dublin-Belfast/Cork, Hull-Liverpool sowie die Bahnstrecken Felixstowe-Nuneaton und Crewe-Holyhead.
13. Die Straßen-/Eisenbahnbrücke über die Straße von Messina. Die bevölkerungsreichste Insel des Mittelmeers wird dadurch mit dem europäischen Kontinent verbunden. Es handelt sich um eines der größten europäischen Verkehrsprojekte, vergleichbar mit dem bereits erfolgten Bau der Öresund-Brücke.
14. Die feste Fehmarnbelt-Querung Straße/Schiene. Mit dem Bau dieser deutsch-dänischen Verbindung und der bereits fertigen Öresund-Brücke wird Skandinavien dem europäischen Kontinent entscheidend näher gebracht. Übersichtskarte als PDF-Datei (232 KB)
15. Das "Nordische Dreieck", eine Reihe von Straßen- und Bahnprojekten durch Finnland bis hin zur russischen Grenze.
16. Die multimodale Verbindung zwischen Portugal/Spanien und dem restlichen Europa. Übersichtskarte als PDF-Datei (258 KB)
17. Die Autobahn griechisch-bulgarische Grenze-Sofia-Nadlac- (Budapest)/(Constanta).
18. Die Autobahn Danzig-Kattowitz-Brünn/Zilina-Wien .

Im "Van-Miert-Bericht" werden vier zusätzliche Verkehrsprojekte genannt, die eine ebenso hohe Priorität verdienen, für die aber bislang noch nicht die Zusagen aller beteiligten Regierungen für einen Baubeginn vor 2010 vorliegen. Es handelt sich dabei um:

1. Die neue Pyrenäen-Eisenbahnquerung mit hoher Kapazität,
2. die "Rail Baltica", die Eisenbahnverbindung Helsinki-Tallinn-Riga-Kaunas-Warschau,
3. die Schienengüterverkehrsstrecke Danzig-Bydgoszcz-Kattowitz-Zwardon und die
4. Binnenwasserstraße Seine-Schelde.

Schließlich nennt der Bericht noch eine Reihe weiterer wichtiger Verkehrsvorhaben, die möglicherweise ab 2006 in den Kreis der prioritären Projekte aufgenommen werden, darunter ein multimodales Logistikzentrum in Slawkow (Polen) mit Anbindungen an das Schienennetz russischer Spurweite, die Eisenbahnverbindung Bari-Durres-Sofia-Varna/Bourgas (Schwarzes Meer), die Eisenbahnverbindung Neapel-Reggio Calabria-Palermo, der Verkehrskorridor Straße/Schiene zwischen Dublin und dem Westen Irlands, die Autobahn Dresden/Nürnberg-Prag-Linz, die Eisenbahnverbindung Prag-Linz, die Autobahn Zilina-Bratislava-(Wien), die Eisenbahnverbindung Maribor-Graz, die Autobahn (Ljubljana)-Maribor-Pince-Zamardi-(Budapest) und Straßenverbindungen durch die Pyrenäen.

Verlorene Zeit aufholen

Sollte sich jemand über die besondere Aufmerksamkeit des Berichts für die Pyrenäen wundern, so kann dieser Umstand aufgeklärt werden: Die jetzige EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio kommt aus Spanien. Auf der EU-Verkehrsministerkonferenz am 4. und 5. Juli in Neapel erklärte de Palacio, beim Ausbau der Transeuropäischen Netze handele es sich um eine Angelegenheit von "historischen" Dimensionen. Zehn osteuropäische Länder sind gerade der Europäischen Union beigetreten. Weitere werden in den nächsten Jahren folgen. Und bei den europäischen Verkehrsplanungen würden nun sogar Rußland und die Ukraine eine zunehmend wichtige Rolle spielen. In einem Interview mit der in Neapel erscheinenden Zeitung Il Mattino betonte de Palacio, es gehe nun darum, "verlorene Zeit aufzuholen; durch grundlegende Projekte für den internen Markt; durch solche Projekte, die am meisten fortgeschritten sind und daher am schnellsten auf die Herausforderung reagieren können, welche Tremonti [der italienische Finanzminister] in seinem Infrastrukturplan angesprochen hat: einer stagnierenden Wirtschaft neuen Schub zu verleihen."


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