Kommentar

"Selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte..."

Oder "Widerstand heute" - Gedanken zum 59. Jahrestag des 20. Juli 1944

Von Gabriele Liebig

"Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ,regieren' zu lassen", heißt es im ersten Flugblatt der Weißen Rose. Sei denn dieses Volk schon so "in seinem tiefsten Wesen korrumpiert"P>, daß es "ohne eine Hand zu regen, im leichtsinnigen Vertrauen auf eine fragwürdige Gesetzmäßigkeit der Geschichte das Höchste, das ein Mensch besitzt und das ihn über jede andere Kreatur erhöht, nämlich den freien Willen, preisgibt, die Freiheit des Menschen preisgibt, selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte und es seiner vernünftigen Entscheidung unterzuordnen", schrieben Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell, 24 und 25 Jahre alt, im Juni 1942. Und was sie schrieben, blieb nicht ohne Wirkung auf die Widerstandskämpfer, die vor 59 Jahren einen letzten Versuch machten, der Hitler-Diktatur aus eigener Kraft ein Ende zu setzen.

Wer in diesem Jahr am 20. Juli bloß feierlich gedenkend rückwärts blickt, oder vielleicht in ein, zwei Nebensätzen andeutungsweise auf die Gegenwart bezugnimmt, der hat nicht nur das Thema verfehlt. Nein, der versagt vor der, zugegeben, erschreckenden Realität, die sich heute jedem kundtut, der nicht mit Scheuklappen durch die Welt läuft: Die ungelöste Weltwirtschaftskrise schlägt um in einen neuen Faschismus. Eine verantwortungslose Clique in der US-Regierung hat mit einem Haufen Lügen einen völkerrechtswidrigen Krieg geführt. Entgegen der Verfassung der Vereinigten Staaten wollen sie aus der amerikanischen Republik ein Imperium machen, das die unilaterale Weltherrschaft beansprucht. Das Völkerrecht soll durch das Hobbessche Prinzip "Macht schafft Recht" ersetzt werden. Und wenn diese "Kriegspartei" nicht schnellstens von den Hebeln der Macht entfernt wird, steuert sie auf einen neuen Weltkrieg zu. Wir sagen dies nicht, um den zahlreichen Endzeitszenarien, die derzeit im Schwange sind, ein weiteres hinzuzufügen. Wir wollen vielmehr dazu beitragen, daß diese Katastrophe abgewendet wird, damit wir und unsere Kinder eine Zukunft haben!

Nicht zufällig kommt dieser Tage die Debatte über den Reichstagsbrand wieder auf den Tisch. Ende 2001 veröffentlichten Alexander Bahar und Wilfried Kugel das Buch Der Reichstagsbrand - Wie Geschichte gemacht wird1 Anhand von Akten, die erst seit der deutschen Wiedervereinigung zugänglich sind, belegen sie, wie der Brand von den Nazis selbst inszeniert wurde, um die Opposition auszuschalten und mit dem Ermächtigungsgesetz die Diktatur zu errichten. Während des ökumenischen Kirchentages Ende Mai in Berlin wurde Arnim Juhres Stück über den Reichstagsbrand "Eines Tages müssen wir die Wahrheit sagen" aufgeführt.2 Oben auf der neuen Kuppel des Reichstages stehend sagt ein Sprecher: "Als der Reichstag brannte, war Hitler sofort zur Stelle. Wie bestellt. Ebenso Göring und Goebbels und Franz von Papen. 40 Meter unter uns hat Hitler dem Korrespondenten des Londoner Daily Express erklärt: "Sie sind Zeuge einer großen neuen Epoche deutscher Geschichte. Dieser Brand ist der Beginn." Das Zitat ist authentisch, der Reporter hieß Sefton Delmer.

Inzwischen ziehen viele Menschen, zuletzt Robert Fisk im Londoner Independent, Parallelen zwischen den Ereignissen vom 11. September 2001 und der Brandstiftung im Berliner Reichstag am 27. Februar 2001.3 Weit bemerkenswerter ist jedoch, daß der amerikanische Oppositionspolitiker und demokratische Präsidentschaftsbewerber Lyndon LaRouche, in einer jederzeit abrufbaren Internetrede am 3. Januar 2001, noch vor dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush, eine Provokation ähnlich dem Reichstagsbrand kommen sah.4 Die Unfähigkeit der Regierung Cheney-Bush, die Wirtschaftskrise überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn eine vernünftige Lösung ins Auge zu fassen, verstärke in Washington die Versuchung zum Krisenmanagement per Notverordnungen. LaRouche sagte: "Die Strategen aus den Reihen der Sondereinheiten, der Geheimen Nebenregierung, werden Provokationen lancieren, die dann benutzt werden, um Sondervollmachten im Namen des Krisenmanagements durchzusetzen. Es wird in verschiedenen Teilen der Welt kleinere Kriege geben, auf die die Regierung Bush mit Krisenmanagement reagieren wird".5 Ähnliches wiederholte Helga Zepp-LaRouche in einem Massenflugblatt der BüSo vom 15. Januar 2001, neun Monate, bevor die Anschläge vom 11. September den Auftakt zu bislang zwei solchen Kriegen gaben.6

Am 11. September selbst und seither vertrat LaRouche die Auffassung, daß die Anschläge nicht ohne Mitwirkung hochrangiger Mitwisser/Mittäter innerhalb des US-Sicherheitsapparates ausgeführt werden konnten. Sie seien Teil eines "Putsches", der in der US-Administration immer weiter um sich griff, zum Irak-Desaster führte, aber noch immer nicht völlig konsolidiert ist. Ein Dossier über die Anstifter des völkerrechtswidrigen, auf Lügen gegründeten Präventivkrieg gegen den Irak, ihre faschistische Denkweise (ein Verschnitt aus Leo Strauss und Carl Schmitt, Hobbes und Nietzsche) und das Ausmaß der Polizeistaatsmaßnahmen in den USA ist in einer neuen Broschüre, Die Kriegspartei in der US-Regierung, dargestellt.7 Die englische Version kursiert in den USA schon seit April in einer Auflage von 800 000 Exemplaren. Dies bereitete den Boden für die massiven Vorwürfe gegen Vizepräsident Cheney, Rumsfeld und andere Kriegstreiber in der Bush-Administration. Und dieser Widerstand wächst von Tag zu Tag.

Lyndon LaRouche hat nicht nur beizeiten vor den unheilvollen Entwicklungen gewarnt, er ist Kopf und Rückgrat dieses Widerstands, und er hat als Wirtschaftswissenschaftler und demokratischer Präsidentschaftsbewerber ein vernünftiges Konzept vorgelegt, wie die der Weltkrise zugrundeliegende Zusammenbruchskrise des Weltfinanzsystems gelöst werden kann. Ob sein Konzept einer "Welt souveräner Nationen" sich in den USA durchsetzen kann, oder Cheneys Strategie der unilateralen Präventivkriege - an dieser Frage hängen der Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Deswegen bedeutet heute "in das Rad der Geschichte selbst mit einzugreifen", daß man LaRouche, seinen Präsidentschaftswahlkampf in den USA und seine Politik zur Überwindung der Krise international unterstützt. Jetzt - bevor es zu spät ist!

LaRouche als dem Vordenker des besseren Amerika und der von seiner Ehefrau Helga Zepp-LaRouche geleiteten Bürgerrechtsbewegung Solidarität hier in Deutschland ein Forum zu geben, so wie es z.B. jüngst in der Türkei geschah, erfordert eine gewisse innere Selbstständigkeit; u.U. bekommt man ein bißchen "Ärger". Aber was wiegt schon solcher "Ärger" gemessen an dem, was uns allen droht, wenn die Weltwirtschaftskrise weiter ungelöst bliebe und die US-Kriegspartei ihre Weltherrschaft durch weitere "Ermächtigungs"-Schritte zementieren könnte?

Die jungen Leute, die sich "Internationale LaRouche-Jugendbewegung" nennen, beurteilen alle Menschen - Zeitgenossen oder solche, die lange vor ihnen gelebt haben - danach, ob sie "historische Individuen" sind, d.h. ob sie in irgendeiner Weise "in das Rad der Geschichte eingegriffen" haben, wie die handelnden Personen des 20. Juli oder die Studenten der Weißen Rose. An diesem Maßstab messen sie auch die Leute, die heute politische Verantwortung tragen. "Hat sich der Kampf von Hans und Sophie Scholl und ihren Freunden gelohnt?" werden sie sich fragen, wenn sie Das Spiel von der Weißen Rose8 gelesen haben. Und jemand wird antworten: "Ja, es war nicht umsonst, denn wir sind hier, und die Ideen der Weißen Rose wirken auch heute fort. Wir wollen sie weitertragen und andere damit begeistern, damit sie mutig werden und eine neue faschistische Katastrophe nicht geschehen lassen."

Wir Älteren sollten die unsterblichen Worte der Geschwister Scholl ernster nehmen, als wir es bisher gewohnt waren. Es ist ja unsere Pflicht dafür zu sorgen, daß die Lage niemals wieder so verzweifelt wird, daß unsere Kinder im Untergrund mit lebensgefährlichen Flugblättern gegen eine neue Tyrannei kämpfen müssen. Wie es heißt im ersten Flugblatt der Weißen Rose:

"Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein. Daher muß jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzen Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates."

Auch in anderer Hinsicht können wir uns ein Beispiel nehmen an diesen jugendlichen Humanisten der Weißen Rose, die "wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit"9 forderten, die alles andere als aktionistische Desperados waren, sondern eine klare politische Vision hatten, in welcher Art Staat und Gesellschaft sie gerne leben wollten.

"Wir wollen hier nicht urteilen über die verschiedenen möglichen Staatsformen, die Demokratie, die konstitutionelle Monarchie, das Königtum usw. Nur eines will eindeutig und klar herausgehoben werden. Jeder einzelne Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des einzelnen als auch das Wohl der Gesamtheit sichert. Denn der Mensch soll nach Gottes Willen frei und unabhängig im Zusammenleben und Zusammenwirken der staatlichen Gemeinschaft sein natürliches Ziel, sein irdisches Glück in Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zu erreichen."10

Das Flugblatt trägt die Überschrift salus publica suprema lex, "das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz". Es wäre wohl ein guter Vorsatz zum 20. Juli, amerikanische Freunde darauf hinzuweisen, daß diese Ideen genau der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung entsprechen - welche die imperialistische Kriegspartei in Washington gerade dabei ist, außer Kraft zu setzen.


Anmerkungen

1. A. Bahar, W. Kugel, Der Reichstagsbrand - Wie Geschichte gemacht wird, edition q, Berlin 2001, 34,80 Euro.

2. Eines Tages müssen wir die Wahrheit sagen, Opus für Orgel, Schlagzeug und Menschenstimmen zum Reichstagsbrand 1933, von Arnim Juhre (Text) und Lothar Graap (Musik). E-Mail-Bestellung: simon.fockele@gmx.de

3. R. Fisk, "What Israel does to Palestine, we are doing to Iraq", Independent, 12.7.2003.

4. Siehe www.larouchein2004.com.

5. Siehe www.solidaritaet.com/neuesol/2001/1/amerika.htm.

6. Siehe www.bueso.de/nrw/Aktuelles/amerika.htm

7. Die Kriegspartei in der US-Regierung, 48 Seiten, 10 Euro, Böttiger-Verlag, Juli 2003.

8. Das Spiel von der Weißen Rose, Dramatischer Bericht von A. Juhre,
in: Neue Solidarität Nr. 29-30, 23.7.2003(Link nur für online-Abonnenten), Rechte beim Autor.

9. Flugblätter der Weißen Rose auf der Webseite des Deutschen Historischen Museums. www.dhm.de/lemo/html/nazi/widerstand/weisserose. 6. Flugblatt

10. 3. Flugblatt, a.a.O.

 


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