Die Ursprünge von Georg Cantors Mengenlehre
- und warum sie heute nicht allgemein bekannt sind

Von Ralf Schauerhammer


Der Platoniker Cantor
Und wieder in den Fußnoten:

Cantor vs. Empiristensekte

Die Kampagne gegen Cantor

Die "Aussöhnung" zwischen Cantor und Kronecker

Riemann zur Fourieranalyse

Cantors frühe Beiträge zur Fourieranalyse

Die reellen Zahlen als Cantorsche Fundamentalreihen

Cantors Grundlagen der Mannigfaltigkeitslehre

Schlußbemerkung

Um den entscheidenden Punkt zu verstehen, darf man Cantors Werk nicht primär darin sahen, daß Cantor neue transfinite Zahlen geschaffen hat. Vielmehr muß man sich fragen, warum er dieses tat. Man muß die transfiniten Zahlen also vom Standpunkt Cantors Weiterentwicklung des Kontinuum-Begriffes aus betrachten.

In gleicher Weise sollte man die archimedische Schrift "Die Sandzahl" betrachten. Bezüglich der Sandzahl gilt nämlich genau dasgleiche. Archimedes beschreibt darin die Konstruktion von Zahlen, die so groß sind, daß man damit die Zahl der Sandkörner angeben kann, welche man benötigen würde, um das ganze Universum mit Sand auszufüllen. Auch bei Archimedes ist nicht die Konstruktion dieser Zahlen das Entscheidende, sondern die festgestellte Meßbarkeit (Kommensurabilität) des ganzen Universums, des "Maximums" der physikalischen Wirklichkeit, mit dem Sandkorn, der "minimalen Singularität"!

Cantors Konzept des Kontinuums ist eine Weiterentwicklung des Leibnizschen Konzepts. Man muß bei Leibniz den Zusammenhang von drei Punkten sehen: Erstens Leibnizens Polemik gegen die kartesianische Vorstellung, die mathematischen Existenzformen auf algebraisch darstellbare Funktionen zu begrenzen; zweitens die von Leibniz entwickelte Dynamik; drittens Leibnizens negentropisch-relativistisches Raumkonzept, daß es zwischen allen Orten des Raumes immer noch weitere Orte potentieller Entwicklung und Entfaltung gibt. Diese drei Punkte führen direkt zu den Problemen der Fourieranalyse (Analyse von Funktionen durch bestimmte trigonometrische Reihen), wie sie sich Cantor zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jh. stellten. So ist es nicht verwunderlich, daß bereits in Cantors Arbeit von 1873 über die "Ausweitung eines Satzes über Trigonometrische Reihen" im Kern die wichtigsten Aspekte seiner Manigfaltigkeitslehre enthalten sind.

Cantor zeigt darin, daß bestimmte Prozesse immer "eindeutig" durch eine Fourierreihe darstellbar sind, wenn diese Prozesse nicht "zu viele" Unstetigkeitsstellen besitzen. Wenn der Prozeß sich in einer Mannigfaltigkeit entwickelt, welche "zu dicht" mit Singularitäten bzw. Grenzpunkten, von welchen im Leibnizschen Sinne das Potential einer neuen Entwicklungsdynamik ausgeht, durchtränkt ist, bricht die Möglichkeit der eindeutigen Analyse mit Fourierreihen zusammen. Cantor führt zur Unterscheidung zwischen den beiden grundverschiedenen Mannigfaltigkeiten den Begriff der Gattung ein. Für Funktionen von Prozessen, welche nur auf Mannigfaltigkeiten der ersten Gattung unstetig sind, ist die Fourieranalyse möglich, für die der zweiten Gattung nicht mehr.

Wenn man diese Untersuchung zunehmender Ordnungsgattungen fortsetzt, erkennt man, warum Cantor die Entwicklung des Begriffs der unendlichen ganzen Zahlen als eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Mannigfaltigkeitslehre ansah. Genau das stellt er im ersten Satz seiner grundlegenden Arbeit "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre" (1883) fest.

Das Kontinuum wird durch zwei Eigenschaften charakterisiert: Erstens durch den "Zusammenhang". Es muß "aus einem Stück" sein, und zwar in der Form, daß es von jedem Ort zu jedem beliebigen anderen Ort einen vollständig innerhalb des Kontinuums enthaltenen Weg geben muß. Das ist offensichtlich, denn sonst bestünde das Kontinuum ja mindestens aus zwei völlig getrennten Teilen und könnte wohl kaum Anspruch darauf erheben, als solches bezeichnet zu werden. Zweitens dadurch, daß das Kontinuum - im Sinne des Leibnizschen Potentials - der Ort negentropischer Wirkung ist. Alle Prozeßsingularitäten, d.h. alle Grenzpunkte der Orte des Kontinuums, müssen selbst im Kontinuum enthalten sein, Cantor nennt Mannigfaltigkeiten mit dieser Qualität "perfekte Mannigfaltigkeiten" und definiert das Kontinuum als zusammenhängende, perfekte Mannigfaltigkeit.

Cantor entwickelte seine mathematischen Konzepte eindeutig vom Standpunkt der platonischen Methode. Cantor war sich dessen selbst genau bewußt. So erwähnt er in einer Fußnote der "Grundlagen", daß sein Konzept der Mannigfaltigkeit dem entspricht, was Plato mit "Idee" bezeichnete. Aber in einer anderen Fußnote derselben Arbeit erwähnt er von Zimmermann einen lesenswerten Aufsatz mit dem Titel "Der Kardinal Nicolaus Cusanus als Vorläufer Leibnizens", der die Ideengeschichte der von ihm selbst verwendeten Konzepte des Kontinuums darlegte. Auf Grund dieser neuplatonischen erkenntnistheoretischen Position wurde Cantor zur Zielscheibe einer unglaublichen Verleumdungs- und Diffamierungskampagne der immer mächtiger werdenden Gruppe von Reduktionisten um Helmholtz, Kronecker, Maxwell, Du Bois etc. Es läßt sich heute noch dokumentieren, daß sie Cantors Werke entweder systematisch und bewußt totschwiegen, wenn sie diese nicht benutzten, um ihre eigenen Arbeiten mit Diebstählen aus Cantors geistigem Besitz zu schmücken, wobei Du Bois sogar die Frechheit besaß, Cantor des Plagiats für das zu bezichtigen, was er gerade von Cantor gestohlen hatte. Cantor wurde durch Intrigen systematisch isoliert und die Veröffentlichung seiner Arbeiten wurde unterbunden. Diese Zensur erreichte es sogar, daß Cantor selbst in den "Acta Mathematica", dem Journal seines Freundes, nicht mehr publizieren konnte und gezwungen war, seine Ideen in philosophischen Fachblättern statt in einer mathematischen Zeitschrift zu veröffentlichen. Die teilweise dadurch bedingte philosophische Einkleidung der Arbeiten wurde dann wiederum benutzt, um Cantor "nun für völlig verrückt" zu erklären.

Der Platoniker Cantor

An Georg Cantors neuplatonischer Erkenntnistheorie kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Allein ein Blick in seine "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre" (Leipzig 1883) belegt dies eindeutig. Cantor schreibt dort in den Fußnoten unter anderem:

Unter einer Mannigfaltigkeit oder Menge verstehe ich nämlich allgemein jedes Viele, welches sich als Eines denken läßt, d.h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher durch ein Gesetz zu einem ganzen verbunden werden kann, und ich glaube hiermit etwas zu definieren, was verwandt ist mit dem Platonischen 'eidos' oder ,idea'...

In Paragraph 8 dieser Arbeit erläutert Cantor die "durchaus realistischen, zugleich aber nicht weniger idealistischen Grundlagen" seiner Weltanschauung (bezogen auf das Wesen des Zahlenbegriffs) folgendermaßen:

Einmal dürfen wir die ganzen Zahlen insofern für wirklich ansehen, als sie auf Grund von Definitionen in unserem Verstande einen ganz bestimmten Platz einnehmen ... und somit die Substanz unseres Geistes in bestimmter Weise modifizieren; es sei mir gestattet, diese Art der Realität unserer Zahlen ihre immanente Realität zu nennen. Dann kann aber auch den Zahlen insofern Wirklichkeit zugeschrieben werden, als sie für einen Ausdruck oder ein Abbild von Vorgängen und Beziehungen in der dem Intellekt gegenüberstehenden Außenwelt gehalten werden müssen ... Diese zweite Art der Realität nenne ich die transiente Realität der ganzen Zahlen ... Der Zusammenhang beider Realitäten hat seinen eigentlichen Grund in der Einheit des Alls, zu welchem wir selbst mitgehören ...

Und wieder in den Fußnoten:

Diese Überzeugung stimmt wesentlich sowohl mit den Grundsätzen des Platonischen Systems, wie auch mit einem wesentlichen Zuge des Spinozaschen Systems überein ... Auch in der Leibnizschen Philosophie läßt sich dasselbe erkenntnistheoretische Prinzip nachweisen. Erst seit dem neueren Empirismus, Sensualismus und Skeptizismus, sowie dem daraus hervorgegangenen Kantschen Kritizismus glaubt man die Quelle des Wissens und der Gewißheit in die Sinne oder doch in die sogenannten reinen Anschauungsformen der Vorstellungswelt verlegen und auf sie beschränken zu müssen. Meiner Überzeugung nach liefern diese Elemente durchaus keine sichere Erkenntnis, weil letztere nur durch Begriffe und Ideen erhalten werden kann, die von äußeren Erfahrungen höchstens angeregt, der Hauptsache nach durch innere Induktion und Deduktion gebildet werden als etwas, was in uns gewissermaßen schon lag und nur geweckt und zum Bewußtsein gebracht wird.

Cantor geht wie alle Platoniker davon aus, daß der menschliche Geist ein unerschöpfliches Entwicklungspotential besitzt und deshalb das sich negentropisch entwickelnde Universum erkennbar ist: "Die Worte, endlicher Verstand, welche man so vielfach zu hören bekommt, treffen, wie ich glaube, in keiner Weise zu. So beschränkt auch die menschliche Natur in Wahrheit ist, vom Unendlichen haftet ihr doch sehr vieles an..." Davon ausgehend definiert Cantor für sich ein wissenschaftliches Programm, mit dem er die "mechanische Naturerklärung" durch eine über diese "hinausgreifende organische Naturerklärung" ersetzen will, die er als eine "Wiederaufnahme und Fortbildung der Arbeiten von Spinoza und Leibniz" sieht. Der entscheidende Unterschied zur mechanischen Naturwissenschaft besteht darin, daß das Universum als eine sich selbstentfaltende negentropische Einheit betrachtet wird.

Cantor vs. Empiristensekte

Völlig im Gegensatz zu Cantors differenzierter und wissenschaftlich gut fundierter neuplatonischer Methode stand Mitte des letzten Jahrhunderts eine mächtige Gruppe von Empiristen und Reduktionisten, zu deren einflußreichsten Vertretern Kronecker, Helmholtz, Maxwell und Du Bois-Reynold gehörten. Diese schwiegen Cantors Werk entweder systematisch tot oder schrieben einfach von Cantor ab, ohne ihn zu zitieren. Du Bois-Reynold besaß sogar die Stirn, Cantor zu bezichtigen, er habe den Begriff "überall dicht" bei ihm abgeschrieben, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war. Du Bois-Reynold verherrlichte Charles Darwin als "Kopernikus der organischen Welt" und propagierte einen penetranten Kulturpessimismus. Sein Wahlspruch lautete: "lgnoramus, Ignorabimus" (wir wissen nicht, und wir werden nicht wissen). Auf einem Festvortrag am 8. Juli 1880 vor der Preußischen Akademie stellte er die These von den "sieben Welträtseln" auf - sieben Probleme, die der menschliche Geist angeblich niemals lösen könne.

Unter den deutschen Physikern verbreitete damals Helmholtz seine Ideologie vom "Wärmetod" des Universums, wonach das gesamte Universum wie eine große Dampfmaschine, der der Brennstoff ausgeht, einem unweigerlichen Ende zustreben würde. Unter den Mathematikern wurde die entsprechende Ideologie von Kronecker vertreten, der außer den angeblich "von Gott gegebenen natürlichen Zahlen" nichts als Realität anerkannte. Cantor sah in diesen beiden die entscheidenden Vertreter der "jetzt herrschenden und mächtigen akademisch-positivistischen Skepsis" und stellte fest: "Sie vertreten den extremen empiristisch-psychologischen Standpunkt mit einer Härte, die man nicht für möglich halten würde, wenn sie nicht in Fleisch und Blut zweimal verkörpert hier entgegenträte ... Und allerdings hat ja in der grauen Vorzeit eine Sekte bestanden, an welche man durch die Arbeiten der Herren Helmholtz und Kronecker lebhaft erinnert wird - es ist die antike Skepsis..."

Cantor betont, daß die Naturwissenschaft immer "metaphysisch" sei, d.h. die Frage nach der wesensmäßigen Realität stellen müsse, die hinter den "Erscheinungen" liege, und wendet sich gegen Kirchhoff und dessen britisches Pendant Maxwell, weil diese versuchen, die Physik "hiervon frei zu machen." Bei diesen "artet sie [die Naturwissenschaft] in eine Naturbeschreibung" aus, der "der frische Hauch des freien mathematischen Gedankens ebenso wie die Macht der Erklärung und Ergründung von Naturerscheinungen fehlen muß."

Cantor hat sich in dieser Frage leider nicht durchsetzen können. Im Gegenteil: Maxwell erhebt diese nur "beschreibende" Physik zum Programm. Aus seinen Formulierungen wird deutlich, daß Dinge wie das Korpuskel-Welle-Paradox der heutigen Physik nicht etwa aus "neuen Versuchsergebnissen" entsprungen sind (wie der positivistisch verbildete Durchschnittsphysiker heute glaubt), sondern bereits in der Erkenntnistheorie, die Mitte des letzten Jahrhunderts hegemonial wurde, enthalten sind. An die Stelle des Bildens von Hypothesen ist das Suchen von "physikalischen Analogien" zur "Illustration" der Erscheinungen getreten.

James Clerk Maxwell schreibt in seiner Schrift "Faraday's Kraftlinien" von 1856:

Um physikalische Vorstellungen zu erhalten, ohne eine spezielle physikalische Theorie aufzustellen, müssen wir uns mit der Existenz physikalischer Analogien vertraut machen. Unter einer physikalischen Analogie verstehe ich jene teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Erscheinungsgebietes mit denen eines anderen, welches bewirkt, daß jedes das andere illustriert... So finden wir formal die vollste Übereinstimmung zwischen den Gesetzen zweier verschiedener Erscheinungsgebiete, von denen ein jedes Ausgangspunkt einer physikalischen Theorie des Lichtes wurde. Die Richtungsänderungen, welche die Lichtstrahlen beim Übergang von einem Medium in ein anderes erfahren, sind identisch mit den Abweichungen eines Masseteilchens von der geradlinigen Bahn... Die zweite Analogie zwischen dem Lichte und den Schwingungen eines elastischen Mediums erstreckt sich viel weiter ...

Entscheidend ist hier "formal die vollste Übereinstimmung". Dieser Unsinn formaler Übereinstimmung ist heute in der Physik gang und gäbe. Typisch sind Behauptungen wie die in Max Borns Buch über Relativitätstheorie, wonach die Newtonsche Theorie zum "Spezialfall" der Einsteinschen gemacht wird, weil die Transformationsformeln für gegenüber der Lichtgeschwindigkeit vernachlässigbar kleinen Geschwindigkeiten formal gleich sind. In der Tat liegt jedoch ein völlig entgegengesetztes Raumkonzept zugrunde - hier das des "absoluten" Raums, dort das des "relativistischen". Der Gedanke an einen "Spezialfall" ist absurd.

Es handelt sich hierbei nicht um Fragen von rein akademischem Interesse. Das sieht man sofort ein, wenn man Cantors Brief vom 24. 2. 1900 an Professor Friedrich Loofs liest. Cantor erkennt den engen erkenntnistheoretischen und moralischen Zusammenhang zwischen dem Empirismus (insbesondere in der Form des Monismus des Darwinisten Ernst Haeckel) und dem Irrationalismus in Nietzsches Philosophie.

Lieber Herr Kollege, vielen Dank für Ihren 'Anti-Haeckel' Ich halte es für sehr wertvoll, daß den schamlosen Angriffen Haeckels gegen das Christentum der angemaßte Schein der Wissenschaftlichkeit nunmehr vor dem weitesten Kreise entrissen wird... Übrigens habe ich erst kürzlich Gelegenheit erhalten, mir über die sogenannte Nietzesche Philosophie (einem Pendant zu Haeckels monistischer Entwicklungsphilosophie) ein genaues Bild zu machen. Wegen der stilistischen Reize findet sie bei uns eine kritiklose Anerkennung, die im Hinblick auf den perversen Inhalt, ...mir höchst bedenklich zu sein scheint. Das Bedürfnis nach Neuheit und Füllung des philosophischen Schemas macht unsere Philosophen moralisch blind ... und die Verderbnis der Jugend vollzieht sich im großen Stile.

Die Kampagne gegen Cantor

Auf Grund seiner neuplatonischen Position wurde Cantor zur Zielscheibe einer unglaublichen Diffamierungskampagne der immer mächtiger werdenden Gruppe von Reduktionisten, unter der sich besonders der Mathematiker Kronecker hervortat. Kronecker versuchte, die Veröffentlichungen der Arbeiten Cantors zu unterbinden. So wunderte sich Cantor z.B. 1877 in einem Brief an Dedekind, daß sich die Drucklegung seiner neuesten Arbeit in einer für ihn "auffallenden und unerklärlichen Weise" verzögerte. Schließlich erfolgt dann doch noch der Druck im Crelle-Journal, wenn auch erst im Jahre 1878. Später hat Cantor erwähnt, daß sein Lehrer Weierstraß sich für die Publikation eingesetzt habe. Der Grund für die Verzögerung lag im Widerstand Kroneckers gegen die Cantorschen Ideen. Später erhielt Cantor sogar schriftliche Beweise für Kroneckers Verleumdungen und berichtete (am 5.9.1891) seinem Freund Mittag-Leffler:

Zufällig erhalte ich in meinem Besitz eine Nachschrift seiner [Kroneckers] in diesem Sommersemester über den Zahlenbegriff an der Universität Berlin gehaltenen öffentlichen Vorlesung und habe hier schwarz auf weiß den Beweis, daß er in der schamlosesten Weise und ohne jeden Versuch einer wissenschaftlichen Begründung meine mathematischen Arbeiten vor seinen unreifen, urteilslosen Zuhörern herabgesetzt hat. Was sagen Sie dazu?

Obwohl Cantor wußte, "daß Schwarz und Kronecker seit Jahren fürchterlich gegen mich intrigieren", bewarb er sich um eine Professur in Berlin, was ihm nach seinen Leistungen eigentlich zugestanden hätte. Cantor berichtet seinem Freund Mittag-Leffler erheitert über den "Erfolg" seiner Bewerbung:

Den nächsten Effekt davon wußte ich ganz genau voraus, daß nämlich Kr. wie von einem Skorpion gestochen auffahren und mit seinen Hilfstruppen ein Geheul anstimmen würde, daß Berlin sich in die Sandwüste Afrikas mit ihren Löwen, Tigern und Hyänen versetzt glauben wird. Diesen Zweck habe ich, so scheint es wirklich erreicht...

Schließlich wurde Cantor durch derartige Intrigen systematisch isoliert. Im Sommer 1884 begann Kronecker eine Kampagne, um Cantor aus den "Acta mathematica", dem Journal Mittag-Lefflers und der einzigen Zeitschrift, in welcher Cantor noch seine mathematischen Ideen ohne Rücksicht auf die reduktionistische "Orthodoxie" aussprechen konnte, zu vertreiben. Cantor durchschaute diesen Plan und schrieb an Mittag-Leffler:

Ich vermute, daß er keine andere Absicht verfolgt, als mich oder vielmehr meine Aufsätze auch aus den "Acta" zu vertreiben, da ihm dasselbe mit Bezug auf das "Crelle'sche Journal" durchaus gelungen ist.

Bereits ein Jahr später hat Kronecker sein Ziel erreicht. Cantor bittet um die Veröffentlichung eines Aufsatzes über seine neue "Typentheorie", denn ohne die in "dieser Publikation eingeführten Begriffe (sei er) nicht im Stande, weiteres in der Mengenlehre zu publizieren".

Mittag-Leffler antwortet jedoch abweisend:

Sprechen wir dann zuerst einige Worte über Ihre Abhandlung über die Typentheorie, die ich jetzt leider doch nur flüchtig durchgelesen habe... Wie es jetzt ist, fürchte ich, daß die meisten sich sehr erschrecken werden, wegen Ihrer neuen Terminologie und Ihrer sehr allgemeinen philosophischen Ausdrucksweise... Ich bin davon überzeugt, daß die Veröffentlichung Ihrer Arbeit ...Ihrem Ansehen bei den Mathematikern sehr viel schaden wird. Ich weiß wohl, dies ist Ihnen im Grund einerlei. Aber wenn Ihre Theorien einmal auf diese Weise in Mißkredit kommen, wird es sehr lange dauern, bis sie wieder die Aufmerksamkeit der mathematischen Welt auf sich ziehen... Ja, es kann wohl sein, daß man Ihnen und Ihren Theorien nie in unserer Lebenszeit Gerechtigkeit zu Teil kommen läßt. So werden die Theorien wieder einmal nach 100 Jahren oder mehr von Jemandem entdeckt...

Cantor war danach gezwungen, seine Ideen in philosophischen Fachblättern anstatt in einer mathematischen Zeitschrift zu veröffentlichen. Aus späteren Berichten Cantors an Poincaré und Gerbaldi geht hervor, daß Mittag-Leffler durch die weitere Veröffentlichung von Cantors Arbeiten die Existenz seiner Zeitschrift aufs Spiel gesetzt hätte.

Ich war nämlich schon damals in Besitz der Theorie der transfiniten Kardinalzahlen und Ordnungstypen und wollte dieselbe sofort in den "Acta mathematica" publizieren ... Da erhielt ich einen Brief v. 9. März von Herrn Mittag-Leffer (den ich noch besitze), worin er mir sehr nahe legt, die Arbeit zurückzuziehen, weil ich gewissermaßen mit derselben "um 100 Jahre zu früh" erschienen wäre... Der Zusammenhang ist dieser! Schon meine früheren, seit 1870 publizierten Arbeiten hatten sich nicht des Beifalls der Berliner Machthaber Weierstraß, Kummer, Borchardt, Kronecker zu erfreuen gehabt. Würde nun gar Herr Mittag-Leffler meine noch weiter gehende und kühnere Theorie der transfiniten Ordnungstypen in den Acta Math. gebracht haben, so hätte er die Existenz seines noch jungen Unternehmens, welches vom Wohlwollen der Berliner Akademiker hauptsächlich abhing, im höchsten Grade gefährdet. Nur so läßt sich die seltsame Schwenkung meines Freundes erklären... Da mir hierdurch, wie Sie begreifen werden, die mathematischen Journale verleidet wurden, so fing ich an, meine Zeilen in der "Zeitschrift für Philosophie u. philos. Kritik" zu publizieren.

Die dadurch bedingte philosophische Einkleidung der Arbeiten wurde dann benutzt, um Cantor für "nun völlig verrückt" zu erklären. Die schleimige und perfide Art, welche damals für den Umgang mit Cantor üblich war, wird unter anderem in einem Brief von Amadeus Schwarz dokumentiert. Schwarz schreibt am 17.10.1887 an Weierstraß:

Nachdem ich so Gelegenheit erhalten habe diesen Aufsatz mit Muße anzusehen, kann ich nicht verhehlen, daß mir derselbe als eine krankhafte Verirrung erscheint. Was haben denn in aller Welt die Kirchenväter mit den Irrationalzahlen zu tun? Möchte sich doch die Befürchtung nicht bewahrheiten, daß unser Patient auf derselben schiefen Ebene angelangt sei, von der der unglückliche Zöllner den Rückweg zur Beschäftigung mit konkreten wissenschaftlichen Aufgaben nicht mehr gefunden hat! Je mehr ich über diese beiden Fälle nachdenke, um so mehr dringen sich mir die ähnlichen Symptome auf.

Der Vergleich mit Johann Friedrich Zöllner (ein Astronom, der mit Helmholtz im Streit lag und zum offenen Vertreter des Spiritualismus wurde) qualifiziert Cantor ab, nur weil er (für eine Veröffentlichung in einer philosophischen Zeitschrift passend) die Frage des Transfiniten in den Rahmen der geschichtlichen Diskussion der Frage der Unendlichkeit stellte. Der wirkliche Grund für die giftige Reaktion von Schwarz liegt wohl vor allem in den treffenden Attacken, die Cantor in dieser Arbeit gegen den Empirismus führt.

Die "Aussöhnung" zwischen Cantor und Kronecker

Im Sommer des Jahres 1884 konnte Cantor der Hetzkampagne Kroneckers nicht mehr standhalten. Er fiel in tiefe Depressionen und unternahm, moralisch gebrochen, einen Versöhnungsversuch:

Hochverehrter Herr Kronecker. Möchten die folgenden Zeilen eine wohlwollende Aufnahme bei Ihnen finden. In Folge einer gewissen Schärfe in der Beurteilung meiner wissenschaftlichen Arbeiten bin ich, nicht ohne meine eigene Schuld, in einen Gegensatz zu Ihnen hineingeraten, aus dem ich mich aufs Tiefste heraussehne. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß Sie mir freundlich Gelegenheit geben werden, eine Verständigung anzubahnen, die zu einer Aussöhnung führen möchte... Wenn, wie ich hoffe, es mir vergönnt sein wird, zum Schlusse der Herbstferien nach Berlin zu kommen und Sie dort anzutreffen, wird es mir vielleicht gelingen, durch genauere Erklärung meiner Arbeiten, Sie demjenigen, was ich Mengenlehre nenne, geneigter zu stimmen, so daß Sie den einen oder anderen Gedanken darin für annehmbar oder nicht ganz schlecht halten.

Die Antwort ist typisch für Kronecker:

Geehrter Herr Kollege. Ich erhalte soeben Ihren lieben Brief vom 18. hierher nachgeschickt und beeile mich, Ihnen den Empfang dankend zu bestätigen... Sie sagen in Ihrem Briefe, daß Sie "in Folge einer gewissen Schärfe der Beurteilung Ihrer Arbeiten in einen Gegensatz zu mir geraten seien, aus dem Sie sich aufs Tiefste heraussehnen." Das Letztere ist mir natürlich sehr lieb, aber ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich das erstere gar nicht wußte... Ich konnte und mußte mich also wohl wundern, da Sie plötzlich sich von irgendwelchem Mißtrauen mir gegenüber erfüllt zeigten...

Welche Scheinheiligkeit! Kronecker zeigt sich überrascht darüber, daß Cantor überhaupt einen Anlaß sieht, verärgert zu sein, und das nach den nachweisbaren Intrigen! Anschließend fügt Kronecker seinem Antwortbrief ein erkenntnistheoretisches Credo an, das seinen explizit reduktionistischen Standpunkt nochmals unterstreicht: Mathematische Wahrheit = Formeln!

Ein ganz anderes ist unsere Divergenz in einigen wissenschaftlichen Fragen! ...Was ist natürlicher, als daß ich in dieser Mathematik selbst nun mich bemüht habe, ihre Erscheinungen oder ihre Wahrheiten möglichst frei von jeglichen philosophischen Begriffsbildungen zu erkennen. Ich bin deshalb darauf ausgegangen, alles in der reinen Mathematik auf die Lehre von den ganzen Zahlen zurückzuführen, und ich glaube, daß dies durchweg gelingen wird... Einen wahren wissenschaftlichen Wert erkenne ich - auf dem Felde der Mathematik - nur in konkreten mathematischen Wahrheiten, oder schärfer ausgedrückt, "nur in mathematischen Formeln": Diese allein sind, wie die Geschichte der Mathematik zeigt, das Unvergängliche. Die verschiedenen Theorien für die Grundlagen der Mathematik (so die von Lagrange) sind von der Zeit weggeweht, aber die Lagrangesche Resolvente ist geblieben!

Auf dieser Grundlage ist natürlich eine wirkliche Aussöhnung nicht möglich. Cantor beurteilt das ganze Unternehmen kurz darauf bereits auch sehr nüchtern, wenn er Mittag-Leffler das auf Grund der "Aussöhnung" zustandegekommene Gespräch mit Kronecker beschreibt:

Sie werden sich denken können, daß ich (bei der Unterredung mit Kronecker) diplomatisch mich sehr zusammennahm und es selbst, wenn auch nur tropfenweise, an den ihm so süßen Früchten der Schmeichelei nicht fehlen ließ, so wenig ernst es mir damit ist, so amüsant erscheint es mir, zu beobachten, wie dieser Mann für so schale Kost empfänglich ist, während die Wahrheiten ihm in das eine Ohr hinein, aus dem anderen wieder herausgehen... Die sechsstündige Unterhaltung, welche ich mit ihm geführt, hat keinen einzigen neuen Gedanken seinerseits zu Tage gefördert.

Abschließend sollen nun die wesentlichen Aspekte von Cantors Ideen und wie das Konzept der Mannigfaltigkeitslehrer entstanden ist, dargestellt werden.

Riemann zur Fourieranalyse

Cantor setzte für seine Untersuchungen bei der Riemannschen Schrift "Über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe" an. In dieser Schrift entwickelt Riemann nicht nur zum erstenmal die Weiterentwicklung des Integralbegriffs zum "Riemannschen Integral", sondern er geht auf eine jahrzehntelange Geschichte der Auseinandersetzung über die Bedeutung des Funktionsbegriffs ein.

Bereits Leibniz wandte sich gegen Descartes' reduktionistischen Funktionsbegriff. Descartes bestand darauf, daß die mathematische Analyse auf eine Klasse von Funktionen beschränkt sein müsse, die sich durch geschlossene algebraische Ausdrücke wie Summen, Summen von Potenzen und Wurzeln usw., darstellen lassen. Leibniz hielt dem entgegen, daß jede Kurve, so kompliziert und willkürlich sie auch erscheinen mag, eine Gesetzmäßigkeit ausdrücke. Die Aufgabe bestehe nun gerade darin, durch die Verfeinerung und Weiterentwicklung der Methoden der Mathematik immer mehr Funktionen analysieren zu können. Wie drastisch sich im Verlauf dieses Prozesses das, was man unter "Mathematik" versteht, ändern muß, bewies er selbst durch die Entwicklung und erfolgreiche Anwendung seiner Infinitesimalrechnung. Riemann greift diese Diskussion über 150 Jahre später wieder auf und betrachtet die Fourieranalyse unter dem Gesichtspunkt der Darstellbarkeit willkürlicher Funktionen. Er schreibt:

Die von Fourier so genannten trigonometrischen Reihen, d.h. die Reihen von der Form
a1sinx + a2sin2x + a3sin3x + ... 1/2b0 + b1cosx + b2cos2x + b3cos3x +...
spielen in demjenigen Teil der Mathematik, wo ganz willkürliche Funktionen vorkommen, eine bedeutende Rolle; ja es läßt sich mit Grund behaupten, daß die wesentlichsten Fortschritte in diesem für die Physik so wichtigen Teil der Mathematik von der klareren Einsicht in der Natur dieser Reihen abhängig gewesen sind. Sogleich bei der ersten mathematischen Untersuchung, die auf die Betrachtung willkürlicher Funktionen führte, kam die Frage zur Sprache, ob sich eine solche ganz willkürliche Funktion durch eine Reihe von obiger Form ausdrücken lasse.

Es geschah dies in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Gelegenheit der schwingenden Saiten... Der erste, welcher eine allgemeine Lösung ...gab, war d'Alembert... Euler bemerkte, daß der Natur des Problems nach die Bewegung der Saite vollständig bestimmt sei, wenn für irgend einen Zeitpunkt die Form der Saite und die Geschwindigkeit jedes Punktes gegeben sei, und zeigte, daß sich, wenn man diese beiden Funktionen sich durch willkürlich gezogene Kurven bestimmt denkt, daraus stets durch eine einfache geometrische Konstruktion die d'Alembertsche Funktion finden läßt...

Gegen diese Ausdehnung seiner Methode durch Euler verwahrte sich indes d'Alembert sofort, weil seine Methode notwendig voraussetze, daß sich die Funktion (in Weg und Zeit) analytisch ausdrücken lasse... Lagrange hielt Eulers Resultate (seine geometrische Konstruktion des Schwingungsverlaufs) für richtig; aber ihm genügte die Eulersche geometrische Behandlung dieser Funktion nicht...

Fast fünfzig Jahre vergingen, ohne daß in dieser Frage über die analytische Darstellbarkeit willkürlicher Funktionen ein wesentlicher Fortschritt gemacht wurde. Da warf eine Bemerkung Fouriers ein neues Licht auf diesen Gegenstand; eine neue Epoche in der Entwicklung dieses Teils der Mathematik begann, die sich bald auch äußerlich in großartigen Erweiterungen der mathematischen Physik kundtat. Fourier bemerkte, daß in der trigonometrischen Reihe

    f(x) = a1sinx + a2sin2x + a3sin3x + ... + 1/2b0 + b1cosx + b2cos2x + b3cos3x + ...
die Koeffizienten sich durch die Formeln
    ak = 1/π  f(x) sinkx dx
    bk = 1/π  f(x) coskx dx.
bestimmen lassen. Er sah, daß diese Bestimmungsweise auch anwendbar bleibe, wenn die Funktion f(x) ganz willkürlich gegeben sei - er setzte für f(x) eine sogenannte diskontinuierliche Funktion [die Ordinate einer gebrochenen Linie für die Abszisse x] und erhielt so eine Reihe, welche in der Tat stets den Wert der Funktion gab.

Als Fourier in einer seiner ersten Arbeiten über die Wärme, die er der französischen Akademie vorlegte (21. Dezember 1807), zuerst den Satz aussprach, daß eine ganz willkürlich (graphisch) gegebene Funktion sich durch eine trigonometrische Reihe ausdrücken lasse, war diese Behauptung dem greisen Lagrange so unerwartet, daß er ihr auf das Entschiedenste entgegentrat... Der Beweis, welchen Cauchy in einer der Pariser Akademie am 27. Feb. 1826 vorgelesenen Abhandlung gab, ist unzureichend, wie Dirichlet gezeigt hat... Erst im Januar 1829 erschien im Journal von Crelle eine Abhandlung von Dirichlet, worin für Funktionen, die durchgehends eine Integration zulassen und nicht unendlich viele Maxima und Minima haben, die Frage ihrer Darstellbarkeit durch trigonometrische Reihen in aller Strenge entschieden wurde...

Die Frage über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe ist also bis jetzt nur unter den beiden Voraussetzungen entschieden, daß die Funktion durchgehend eine Integration zuläßt und nicht unendlich viele Maxima und Minima hat...

Bernhard Riemann führt die Untersuchungen Dirichlets fort. Er geht jedoch nicht mehr davon aus, daß man mit der Fourieranalyse alle willkürlichen Funktionen darstellen kann, sondern versucht, die Klasse der so darstellbaren Funktionen genauer zu erforschen. Dazu stellt er die Frage: "Wenn eine Funktion durch eine trigonometrische Reihe darstellbar ist, was folgt daraus über ihren Gang, über die Änderung ihres Wertes bei stetiger Änderung des Arguments?" Diese Reimannsche "Umkehrung" der Fragestellung eröffnet einen völlig neuen Ansatz für die Entwicklung des Funktionsbegriffs. Funktionen werden nicht als durch Ausdrücke gegeben betrachtet, sondern als topologisch bestimmt, d.h. durch die Art und Lage ihrer Singularitäten. Riemann fragt deshalb danach, welche Funktionen sich für eine bestimmte Topologie (Riemann-Fläche) konstruieren lassen. Hier nimmt Georg Cantor seine eigenen Untersuchungen auf.

Cantors frühe Beiträge zur Fourieranalyse

Cantors Arbeit "Über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen" von 1872 enthält in Keimform bereits die wichtigen Ideen, die er später in seiner Mannigfaltigkeitslehre entfaltet. Sie zeigt deutlicher als spätere Arbeiten seinen ursprünglichen Gedankengang, weil er sich hier noch nicht gezwungen sieht, seine Ideen polemisch zu verteidigen.

Zuvor war gezeigt worden, daß sich beliebige stetige Prozesse eindeutig durch eine Fourierreihe darstellen lassen. Die Frage war nun, ob es auf diese Weise auch möglich sei, Prozesse darzustellen, welche Unstetigkeitsstellen aufweisen. Die Antwort auf diese Frage ist nicht offensichtlich, da die Fourieranalyse den Prozeß auf kontinuierliche trigonometrische Funktionen zurückführt. Wie bereits Riemann in der Arbeit über die "Ausbreitung von Schallwellen in der Luft" gezeigt hat, können solche kontinuierlichen Prozesse jedoch "Stoßwellen", d.h. Singularitäten hervorbringen, an denen eine diskontinuierliche Zustandsänderung eintritt.

Entsprechend kann die Fourieranalyse auch Funktionen darstellen, welche Unstetigkeitsstellen besitzen. Cantor nun beweist sogar, das Prozesse mit unendlich vielen Unstetigkeitsstellen dargestellt werden können. Andererseits sind jedoch nicht alle Prozesse auf diese Weise darstellbar, d.h. locker ausgedrückt, es kann "zu viele" unendlich viele Unstetigkeitsstellen für die Darstellung geben. Worin besteht der Unterschied?

Cantor erkennt, daß sich Prozesse, die kontinuierlich ihr eigenes Entwicklungspotential erhöhen, sich prinzipiell darin von Prozessen unterscheiden, daß bei ihnen die unendlich vielen Unstetigkeitsstellen "dicht" liegen. In diesem Fall, so beweist er, ist der Prozeß mit den Mitteln der Fourieranalyse nicht mehr eindeutig darstellbar. Cantor führt zur Unterscheidung der beiden Spezies von Prozeßmannigfaltigkeiten den Begriff der "Gattung" ein.

Betrachten wir ein Beispiel. Wir beginnen einfach mit einer Singularität, die wir mit Null bezeichnen:

    0
Diese Singularität repräsentiere einen Prozeß, den wir (im Beispiel) durch die Folge von Singularitäten (zweiter Art) bezeichnen können:
    1, 1/2, 1/3, 1/4, ..., 1/n, ... 0
Diese Singularitäten stellen eine neue Mannigfaltigkeit dar, welche die ursprüngliche Singularität (erster Art) als "Grenzpunkt" hat. Nun setzen wir den Prozeß folgendermaßen fort:
    1/1 + 1,   1/1 + 1/2,   1/1 + 1/3,   1/1 + 1/4,   ..., 1/1 + 1/n,   →   1/1
    1/2 + 1,   1/2 + 1/2,   1/2 + 1/3,   1/2 + 1/4,   ..., 1/2 + 1/n,   →   1/2
    1/3 + 1,   1/3 + 1/2,   1/3 + 1/3,   1/3 + 1/4,   ..., 1/3 + 1/n,   →   1/3
    1/4 + 1,   1/4 + 1/2,   1/4 + 1/3,   1/4 + 1/4,   ..., 1/4 + 1/n,   →   1/4
    ...        ...          ...          ...               ...              ...
    1/n + 1,   1/n + 1/2,   1/n + 1/3,   1/n + 1/4,   ..., 1/n + 1/n,   →   1/n

Cantor bezeichnet die aus allen vor den Pfeilen stehenden Elementen bestehende Mannigfaltigkeit (der ersten Gattung) als von der "zweiten Art". Ihre "Ableitung", wie Cantor sagt, besteht gerade aus den "Grenzpunkten" oder "Hauptelementen" 1, 1/2, 1/3, 1/4, ..., 1/n, ... sie sind eine Mannigfaltigkeit "erster Art", deren Ableitung aus dem einzigen Grenzpunkt, der 0, besteht.

In einer Mannigfaltigkeit zweiter Art ist somit zumindest ein Element eine Prozeßsingularität erster Art, die selbst wiederum aus Prozeßsingularitäten (zweiter Art) entstanden ist. Für Mannigfaltigkeiten dritter Art, vierter Art usw. gilt entsprechendes.

Bei unserem Beispiel handelt es sich um Mannigfaltigkeiten der ersten Gattung. Arbeitsfunktionen, deren Charakteristikum gerade darin besteht, daß "kontinuierlich" Singularitäten erzeugt werden, haben eine weitere entscheidende Qualität. Die Grenzpunkte solcher Mannigfaltigkeiten liegen zumindest stellenweise "überall dicht", so daß man sie durch "Ableiten" nicht auf eine endliche Anzahl von Singularitäten zurückführen kann. Man könnt auch sagen, sie seien von "überunendlichster Art". Ein einfaches Beispiel für eine solche Mannigfaltigkeit, welche Cantor als von der "zweiten Gattung" bezeichnet, ist die Menge aller Bruchzahlen eines Intervalls. Die erste Ableitung enthält die reellen Zahlen des Intervalls; alle weiteren Ableitungen sind, gleich der ersten Ableitung, immer wieder die reellen Zahlen des Intervalls.

Wenn man sich die Frage stellt, wie man die Untersuchungen der Arbeitsfunktionen und ihrer Prozeßsingularitäten von immer weiter zunehmender Ordnung fortsetzen kann, findet man den Schlüssel für Cantors spätere Entwicklung des Begriffs der unendlichen ganzen Zahlen, d.h. der transfiniten Ordnungszahlen.

Die grundlegende Frage gilt der Erkenntnis des Kontinuums, welches, im Sinne des Leibnizschen Potentials, der Ort negentropischer Wirkung ist. Alle Prozeßsingularitäten, d.h. alle Grenzpunkte der Orte des Kontinuums, müssen selbst im Kontinuum negentropischer Wirkung enthalten sein. Cantor nennt später Mannigfaltigkeiten, welche alle ihre Grenzpunkte enthalten, "perfekte Mannigfaltigkeiten" und definiert das Kontinuum als zusammenhängende, perfekte Mannigfaltigkeit.

Die reellen Zahlen als Cantorsche Fundamentalreihen

In der Arbeit "Über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen" entwickelt Cantor erstmals die reellen Zahlen als "Fundamentalreihen" - wie er später sagen wird. Cantors Definition entspricht der Methode nach genau derjenigen, die er später zur Erzeugung der unendlichen ganzen Zahlen verwendet.

Wenn ich von einer Zahlengröße im weiteren Sinne rede, so geschieht es zunächst in dem Falle, daß eine durch ein Gesetz gegebene unendliche Reihe von rationalen Zahlen

    a1,a2,...an, ...(1)

vorliegt, welche die Beschaffenheit hat, daß die Differenz

    an + m - an

mit wachsendem n unendlich klein wird, was auch die positive Zahl m sei ... Diese Beschaffenheit der Reihe (1) drücke ich in Worten aus: 'Die Reihe (1) hat eine bestimmte Grenze b'.

Es haben also diese Worte zunächst keinen anderen Sinn als den eines Ausdrucks für jene Beschaffenheit der Reihe, und aus dem Umstande, daß wir mit der Reihe b verbinden, folgt, daß bei verschiedenen derartigen Reihen auch verschiedene Zeichen b, b', b'', ... zu bilden sind.

Ist eine zweite Reihe

    a'1, a'2 ,... a'n,...(1')

gegeben, welche eine bestimmte Grenze b' hat, so findet man, daß die beiden Reihen (1) und (1') eine von den folgenden 3 Beziehungen stets haben, die sich gegenseitig ausschließen: entweder erstens wird   an - a'n  unendlich klein mit wachsendem n oder zweitens   an - a'n  bleibt von einem gewissen n an stets größer als eine positive (rationale) Größe ε oder drittens   an - a'n  bleibt von einem gewissen n an stets kleiner als eine negative (rationale) Größe . Wenn die erste Beziehung stattfindet, setze ich b = b', bei der zweiten b > b', bei der dritten b < b'.

Nun stellt Cantor genau die gleichen Beziehungen der Reihe (1) zu einer rationalen Zahl a her und faßt dann die Gesamtheit der so definierten Zahlengrößen b mit den rationalen Zahlengrößen zu einer Einheit zusammen. Die Rechenregeln für diese so definierten reellen Zahlen ergeben sich offensichtlich folgendermaßen:

b + b' = b'' := lim(an + a'n - a''n) = 0,
b - b' = b'' := lim(an + a'n - a''n) = 0,
b * b' = b'' := lim(an * a'n - a''n) = 0,
b / b' = b'' := lim(an / a'n - a''n) = 0, (a' nicht 0).

Im Paragraph 9 der Grundlagen der Manngfaltigkeitslehre entwickelt Cantor dieses Konzept der reellen Zahlen als Fundamentalreihen noch ausführlicher. Eine reelle Zahl wird von Cantor als Inbegriff einer Reihe von rationalen Zahlen definiert, genau wie er später eine unendliche ganze Zahl als den Inbegriff oder die "Grenze" einer Reihe von ganzen Zahlen definieren wird. Die Grenze, hier der Begriff b, ist dabei kein formales "Symbol", sie entspricht vielmehr dem Konzept der platonischen höheren Hypothese, welche qualitativ über die Beschränkungen einer potentiell-unendlichen Reihe einfacher Hypothesen hinausgeht.

Cantors Grundlagen der Mannigfaltigkeitslehre

Der wichtigste Zweck dieser Arbeit aus dem Jahre 1883 steht sofort im ersten Satz von Paragraph 1:

Die bisherige Darstellung meiner Untersuchungen in der Mannigfaltigkeitslehre ist an einen Punkt gelangt, wo ihre Fortführung von einer Erweiterung des realen Zahlenbegriffs über die bisherigen Grenzen hinaus abhängig wird, und zwar fällt diese Entwicklung in eine Richtung, in welcher sie meines Wissens bisher von niemandem gesucht worden ist.

In der Mathematik ist der Begriff von unendlichen Zahlengrößen bisher immer in dem Sinne gebraucht worden, daß eine endlich bleibende Größe "entweder über alle Grenzen hinaus wachsend oder bis zu beliebiger Kleinheit abnehmend" aufgefaßt wird. Dieses Unendliche nennt Cantor das "Uneigentlich-Unendliche".

Daneben hat sich aber in der neueren und neuesten Zeit sowohl in der Geometrie wie auch namentlich in der Funktionentheorie eine andere ebenso berechtigte Art von Unendlichkeitsbegriff herausgebildet, wonach beispielsweise bei der Untersuchung einer analytischen Funktion einer komplexen veränderlichen Größe es notwendig und allgemein üblich geworden ist, sich in der die komplexe Variable repräsentierenden Ebene einen einzigen im Unendlichen liegenden, d.h. unendlich entfernten, aber bestimmten Punkt zu denken... Wenn das Unendliche in solch einer bestimmten Form auftritt, so nenne ich es Eigentlich-Unendliches...

Die unendlichen realen ganzen Zahlen, welche ich im folgenden definieren will..., haben durchaus nichts gemein mit ... dem Uneigentlich-Unendlichen, dagegen ist ihnen derselbe Charakter der Bestimmtheit eigen, wie wir ihn bei dem unendlichen Punkt in der analytischen Funktionentheorie antreffen; sie gehören also zu den Formen und Affektionen des Eigentlich-Unendlichen...

Die beiden Erzeugungsprinzipien, mit deren Hilfe, wie sich zeigen wird, die neuen bestimmt unendlichen Zahlen definiert werden, sind solcher Art, daß durch ihre vereinigte Wirkung jede Schranke in der Begriffsbildung realer ganzer Zahlen durchbrochen werden kann; glücklicherweise stellt sich ihnen aber, wie wir sehen werden, ein drittes Prinzip, welches ich das Hemmungs- oder Beschränkungsprinzip nenne, entgegen, wodurch dem durchaus endlosen Bildungsprozeß sukzessive gewisse Schranken auferlegt werden, so daß wir natürliche Abschnitte in der absolut unendlichen Folge der realen ganzen Zahlen erhalten, welche Abschnitte ich Zahlenklassen nenne.

Die erste Zahlenklasse (I) ist die Menge der endlichen ganzen Zahlen 1,2,3, ...,n, ..., auf sie folgt die zweite Zahlenklasse (II), bestehend aus in bestimmter Sukzession einander folgenden unendlichen ganzen Zahlen; erst nachdem die zweite Zahlenklasse definiert ist, kommt man zur dritten, dann zur vierten usw...

Cantor untersucht nun alle bekannten Standpunkte bezüglich des Begriffs des Unendlichen, insbesondere, um sein neues Konzept der unendlichen ganzen Zahlen gegen Kroneckers Forderung, daß allein die "von Gott gegebenen natürlichen Zahlen" real seinen, zu verteidigen. In Paragraph 5 faßt Cantor zusammen:

Was ich behaupte... ist, daß es nach dem Endlichen ein Transfinitum (welches man auch Suprafinitum nennen könnte), d.i. eine unbegrenzte Stufenleiter von bestimmten Modi gibt, die ihrer Natur nach nicht endlich, sondern unendlich sind, welche aber ebenso wie das Endliche durch bestimmte, wohldefinierte und voneinander unterscheidbare Zahlen determiniert werden können. Mit den endlichen Größen ist daher meiner Überzeugung nach der Bereich der definierbaren Größen nicht abgeschlossen, und die Grenzen unserer Erkenntnis lassen sich dementsprechend weiter ausdehnen...

Man führt so oft die Endlichkeit des menschlichen Verstandes als Grund an, warum nur endliche Zahlen denkbar sind; doch sehe ich in dieser Behauptung wieder den erwähnten Zirkelschluß...

In Paragraph 9 entwickelt Cantor das Konzept der Fundamentalreihe und hat damit die Voraussetzungen, um unmittelbar danach in Paragraph 10 das Konzept des Kontinuums zu entwickeln. Dieser Paragraph 10, welcher leicht irrtümlich als eine Art Exkurs angesehen werden könnte, ist in Wirklichkeit der zentrale in dieser ganzen Arbeit. Man denke an den einführenden Satz, der betont, daß die Entwicklung der transfiniten Zahlen kein Selbstzweck ist, sondern ein notwendiger Schritt innerhalb der Mannigfaltigkeitslehre.

Cantor bestimmt das Kontinuum als "zusammenhängende, perfekte Mannigfaltigkeit". Perfekt bedeutet, daß alle möglichen Grenzpunkte der Orte des Kontinuums selbst im Kontinuum enthalten sind. Der Begriff des Kontinuums beinhaltet somit erstens, daß alle Singularitäten erster Art, zweiter Art, dritter Art usw., d.h. alle potentiellen Prozeßsingularitäten innerhalb des Kontinuums liegen, und daß zweitens die Menge dieser Prozeßsingularitäten dicht ist.

Das Kontinuum kann nicht auf eine Mannigfaltigkeit erster Art beschränkt sein, sondern die Mannigfaltigkeit der Singularitäten, aus denen diese Mannigfaltigkeit erster Art hervorging, d.h. im Beispiel die Mannigfaltigkeit zweiter Art, muß ebenfalls vom Kontinuum eingeschlossen werden. Man müßte mit der dritten Art etc. bis ins Unendliche fortfahren. Da bereits "energetische" Prozesse unendlich viele (nämlich abzählbar unendliche) Singularitäten erzeugen können, muß den qualitativ davon unterschiedenen negentropischen Arbeitsprozessen eine höhere Unendlichkeit von Prozeßsingularitäten zukommen. Das Kontinuum ist die Mannigfaltigkeit, die gegenüber der Erzeugung selbst dieser höheren Unendlichkeit von Prozeßsingularitäten invariant bleibt.

In den Paragraphen 11 und 12 werden die beiden Erzeugungsprinzipien und das Beschränkungsprinzip abgehandelt, um dann im letzten Paragraphen 13 die ersten Rechenregeln für die so gewonnenen unendlichen ganzen Zahlen darzustellen.

Cantor leitet die unendlichen Zahlen mit absoluter Strenge aus einer tiefgehenden Untersuchung des Zahlenbegriffs ab. Bereits vorher hat Cantor zwei gänzlich unterschiedliche Aspekte des Zahlenbegriffs geklärt, den der Anzahl oder Kardinalzahl, welche von der Ordinalzahl zu unterscheiden ist. Für endliche Zahlen fallen beide zusammen, bei unendlichen jedoch nicht. Die Anzahl einer Mannigfaltigkeit, welche Cantor auch die Mächtigkeit nennt, ergibt sich, wenn man völlig von allen individuellen Eigenschaften ihrer Elemente abstrahiert. Zwei Mannigfaltigkeiten besitzen die gleiche Mächtigkeit, wenn man jedem Elemente der einen ein Element der anderen zuordnen kann. Cantor zeigt z.B., daß die Mannigfaltigkeit der Bruchzahlen und die der natürlichen Zahlen gleiche Mächtigkeit haben. Man kann nämlich die Brüche abzählen. Das wird einsichtig, wenn man die Brüche folgendermaßen anordnet:

    1/1,    1/2,    1/3,    1/4,    1/5,    1/6, ...
    2/1,    2/2,    2/3,    2/4,    2/5,    2/6, ...
    3/1,    3/2,    3/3,    3/4,    3/5,    3/6, ...
    4/1,    4/2,    4/3,    4/4,    4/5,    4/6, ...
    5/1,    5/2,    5/3,    5/4,    5/5,    5/6, ...
    6/1,    6/2,    6/3,    6/4,    6/5,    6/6, ...

Diese Brüche werden dann "diagonal" abgezählt:

    1/1,
    1/2, 2/1,
    3/1, 2/2, 1/3,
    1/4, 2/3, 3/2, 4/1,
    5/1, 4/2, 3/3, 2/4, 1/5,
    1/6, 2/5, 3/4, 4/3, 5/2, 6/1,
    7/1, 6/2, ... usw.

Man sieht also, daß im Unendlichen echte Teile die gleiche Mächtigkeit haben können wie die Menge, in der sie enthalten sind. Der Satz: "Das Ganze ist immer größer als die Teile" stimmt für unendliche Mannigfaltigkeiten nicht mehr.

Man könnte nun auf den Gedanken kommen, daß auch die Menge der reellen Zahlen abzählbar unendlich ist. Das ist jedoch nicht der Fall, und Cantor beweist, daß die durch die Fundamentalreihen definierte Menge der reellen Zahlen (im Gegensatz zu den Bruchzahlen) nicht mehr abzählbar ist. Man hat hier also ein einfaches Beispiel von zwei Mengen, die beide unendlich sind und von denen die eine "größer" - Cantor schafft dafür den Ausdruck "mächtiger" - als die andere ist.

Zu Ordnungszahlen kommt man, wenn man von allen Eigenschaften der Elemente einer Mannigfaltigkeit abstrahiert, außer von ihrer Ordnung (falls eine solche vorhanden ist). Bei endlichen Zahlen ist der Ordnungszustand einfach. Vor dem Zweiten kommt der Erste, davor keiner; nach dem Zweiten der Dritte, der Vierte, usw. Bei Mannigfaltigkeiten von unendlicher Mächtigkeit sind mehrere Ordnungstypen möglich. Betrachtet man z.B. die geometrische Fläche, so kann man hier durch den Abstand von einem fixierten Punkt (Nullpunkt) eine Ordnung herstellen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, z.B. Ordnungsbeziehungen durch Projektion auf die Achsen eines eingeführten Koordinatensystems. Cantor bezeichnet zwei Mannigfaltigkeiten gleicher Mächtigkeit als "ähnlich", wenn eine eindeutige Zuordnung möglich ist, bei der die in den Mannigfaltigkeiten bestehenden Ordnungen ineinander übergehen.

In Paragraph 11 entwickelt Cantor nun einen weiteren Punkt. Eine Zahl ist erstens "Ausdruck aufeinanderfolgender Setzungen"! Das ist das Wesen des ersten Erzeugungsprinzips. Sie ist zweitens "Vereinigung der gesetzten Einheiten zu einem Ganzen"! Dieses wird mit dem zweiten Erzeugungsprinzip realisiert. Cantor sagt:

Es beruht somit die Bildung der endlichen ganzen realen Zahlen auf dem Prinzip der Hinzufügung einer Einheit zu einer vorhandenen, schon gebildeten Zahl... Die Anzahl der so zu bildenden Zahlen n der Klasse (I) ist unendlich, und es gibt unter ihnen keine größte. So widerspruchsvoll es daher wäre, von einer größten Zahl der Klasse (I) zu reden, hat es doch andererseits nichts Anstößiges, sich eine neue Zahl, wir wollen sie (II) nennen, zu denken, welche der Ausdruck dafür sein soll, daß der ganze Inbegriff (I) in seiner natürlichen Sukzession dem Gesetze nach gegeben sei. Nachdem also das zweite Erzeugungsprinzip zu ω geführt hat, kann mit dem ersten fortgefahren werden:
    ω + 1, ω + 2, ... Und nach weiterer Anwendung des zweiten: ω2, ω2 + 1, ... usw.

Nun stellt Cantor fest, daß alle bisher definierten unendlichen Zahlen eine Bedingung erfüllen, nämlich diejenige, "daß die Menge der dieser Zahl in der Zahlenfolge vorausgehenden Zahlen von der Mächtigkeit der ersten Zahlenklasse (I) ist." Dieses verwendet Cantor nun, um eine zweite Zahlenklasse abzugrenzen. "Wir definieren daher die zweite Zahlenklasse '?' als den Inbegriff aller mit Hilfe der beiden Erzeugungsprinzipien bildbaren, in bestimmter Sukzession fortschreitenden Zahlen, welche der Bedingung unterworfen sind, daß alle der Zahl voraufgehende Zahlen, von 1 an, eine Menge von der Mächtigkeit der Zahlenklasse (I) bilden." Entsprechend können dann die weiteren Zahlenklassen gebildet werden.

Schlußbemerkung

Cantor entwickelte den Begriff der Mannigfaltigkeit oder Menge aus Fragen, die für die Weiterentwicklung des Leibnizschen Funktionsbegriffs und der dazu notwendigen Präzisierung der Idee des Kontinuums entstammen. Seine Mengenlehre, die von den Vertretern der "Sekte der Skeptiker" später herabwürdigend als "naiv" bezeichnet wurde, ist nur von diesem Standpunkt aus zu verstehen.

Übrigens sind die sogenannten Russellschen Antinomien der Mengenlehre, welche Cantors Mengenlehre das herabsetzende Prädikat "naiv" einbrachte, lediglich eine Kopie der Argumentationsweise, die bereits Kant in seinen berühmten Antinomien vorexerzierte. Cantor sagte bezüglich Kants Antinomien der reinen Vernunft: "Es dürfte kaum jemals... mehr zur Diskreditierung der menschlichen Vernunft und ihrer Fähigkeit geschehen sein, als mit diesem Abschnitt der 'kritischen Transzendentalphilosophie'." Und Kurt Gödel zeigte später, daß die Russellschen Antinomien nur entstehen, wenn man versucht, Cantors Mengenlehre zu formalisieren, denn es ist der Formalismus, der unvollständig und widersprüchlich ist, nicht Cantors Konzept.


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