Programm zu Schillers Geburtstag 2000

Die Bestimmung des Menschen

Ein Programm von und mit Lessing, Mendelssohn und Schiller
sowie sechs Liedern von Beethoven

(Auf der Bühne ein schöner Tisch, vier Stühle)

Sprecher: Ich begrüße Sie recht herzlich zur diesjährigen Schiller-Geburtstagsfeier des Schiller-Instituts und der "Dichterpflänzchen". Es geht heute abend um Ideen der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie, um das Thema: Was ist der Mensch? Was soll er sein? Worin liegt die "Bestimmung des Menschen"? Heute haben viele das ja ganz vergessen...

Gegenwart (stellt sich neben den Sprecher): ...oder sind ganz anderer Meinung als das Schiller-Institut.

Sprecher: Was willst du denn hier? Ich moderiere doch die Veranstaltung.

Gegenwart: Ich finde die Dichterpflänzchen viel zu rückwärtsgewandt; alles, was sie rezitieren, ist mindestens 200 Jahre alt. Ich vertrete die Gegenwart, ich lebe hier und heute, und die Kunst muß sich auf die heute lebenden Menschen beziehen. Der alte Kram interessiert doch heute keinen mehr. Was heute interessiert, muß vor allem Spaß machen.

Sprecher: Für dich ist es immerhin interessant genug, hierher zu kommen. Aber gut -- vertrete du nur die Gegenwart! Hol' dir einen Stuhl und setz dich dazu! Wenn du Fragen oder Einwürfe hast, so bringe sie vor! Aber es wird nicht dazwischen geredet! (Gegenwart stellt ganz rechts einen Stuhl dazu und setzt sich)
Nun möchte ich Ihnen aber erst einmal unsere Gäste vorstellen -- Leute, die sich schon früher mit der "Bestimmung des Menschen" auseinandergesetzt haben.

(nur für Mainz:) Wie Sie an der Tür lesen konnten, sitzen wir hier im "Leibniz-Saal". Vor gut 300 Jahren arbeitete hier im Kurfürstlichen Schloß...)

(für Wiesbaden:) Vor gut 300 Jahren arbeitete drüben im Mainzer Kurfürstlichen Schloß ein junger Gelehrter namens Gottfried Wilhelm Leibniz, der eine sehr hohe Meinung von den Menschen hatte. Aber er schrieb auf lateinisch oder französisch und nur selten in einem sehr eigentümlichen Deutsch, das von lateinischen Fremdworten wimmelte. Daher haben wir heute abend einen Philosophen eingeladen, der es wunderbar verstand, die Leibnizschen Ideen nachzuempfinden und in einprägsame Worte zu fassen: Unser erster Gast ist der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn. Wer ihn nicht kennt, wird vielleicht seinen Enkel kennen: den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Dessen Großvater haben wir also heute zu Gast. Ich begrüße Sie, Moses Mendelssohn, und freue mich, daß Sie hier auch den alten Leibniz vertreten.

Mendelssohn (kommt hervor, grüßt, ihm wird der Platz neben der Gegenwart angewiesen)

Sprecher: Unser zweiter Gast ist Mendelssohns lebenslanger Freund Gotthold Ephraim Lessing: Sohn eines protestantischen Pfarrers, Theologe, Journalist und natürlich -- Dichter.

Lessing (setzt sich neben M.)

Sprecher: Und als dritte Hauptperson begrüße ich unser Geburtstagskind Friedrich Schiller, der Ihnen allen wohlbekannt sein dürfte.

Schiller (kommt, grüßt etwas lockerer, setzt sich ebenfalls)

Sprecher (setzt sich): Ich freue mich, daß Sie bei uns sind, denn wir haben eine Menge Fragen – besonders an Herrn Lessing, den wir erstmals hier zu Gast haben. Anschließend hören wir dann von Ihnen, lieber Herr Schiller. Meine erste Frage gilt jedoch Herrn Mendelssohn: Im 18. Jahrhundert nannte man Sie den "deutschen Sokrates", warum?

Mendelssohn: 1767 brachte ich meinen "Phädon" heraus, meine Neufassung von Platons Darstellung der letzten Gespräche des gefangenen Sokrates mit seinen Schülern, in denen es um die Unsterblichkeit der Seele geht. Im dritten Gespräch lege ich dem Sokrates Leibniz' Ideen -- bzw. meine eigenen Gedanken -- über die menschliche Seele in den Mund. Es kam mir nicht auf eine akademische Neuübersetzung des Platon-Textes an, vielmehr wollte ich auf meine Gegenwart Einfluß nehmen (sieht die Gegenwart an), meinen Zeitgenossen die Leibnizschen Gedanken nahebringen. -- Das Büchlein wurde zu einem, wie man heute sagt, Bestseller -- daher wohl der schmeichelhafte Titel. Dabei sind die Grundideen meines "Phädon", soweit sie nicht dem Sokrates und Platon gehören, alle schon in Leibniz' Lehre von den Monaden oder Lebensprinzipien enthalten.

Sprecher: Worum geht es denn in diesem "dritten Gespräch" des Phädon?

Mendelssohn: Wissen Sie, der alte Leibniz unterschied bei allem, was existiert, erst einmal zwischen lebendigen Wesen – Wesen mit einem gewissen "inneren Streben" -- und der unbelebten Materie. Den Pflanzen und anderen niederen Lebewesen gestand er zwar auch eine Art Wahrnehmung zu, aber nur eine sehr unbestimmte; sie leben, aber nur "wie im Traum". Die Tiere hingegen haben Gefühle, Erinnerungsvermögen und sogar einen gewissen empirischen Verstand mit dem Menschen gemeinsam. Deshalb -- so Leibniz -- besitzen Tiere eine "lebendige Seele". Die Menschen aber haben zusätzlich noch eine andere Fähigkeit, die sie grundätzlich von den Tieren unterscheidet: die Vernunft, oder die Fähigkeit zur Wissenschaft und zur "Erkenntnis ihrer selbst und Gottes". So ist die menschliche Seele, der schöpferische Geist, Abbild des Schöpfers selbst, denn die Menschen "sind fähig, das System des Universums zu erkennen und in gewissen Probestücken nachzuahmen, da -- so Leibniz wörtlich -- "jeder Geist in seinem Bereich eine kleine Gottheit ist".

Gegenwart: Und diese Ideen haben Sie als junge Leute damals interessiert und bewegt?

Mendelssohn: Vielleicht können Sie sich das heute nicht vorstellen, aber dies waren wahrhaft revolutionäre Gedanken, die meine Freunde und ich damals diskutiert haben. Mein Freund Lessing behandelte diese Dinge von ihrer heiteren Seite. Ich erinnere mich an sein Gedicht über "Die drei Reiche der Natur"...

Lessing: Ja, es erschien in der Zeitschrift "Der Naturforscher", die mein Freund Mylius herausgab. Die Naturforscher wollten damals ganz modern, aufgeklärt und unmetaphysisch sein und ließen deshalb bei Leibniz' Stufenleiter der Lebensprinzipien Gott und den Menschen kurzerhand weg. In seiner absurden Unvollständigkeit lud dies zu allerlei Späßen ein -- und mich zu dem erwähnten Gedicht.

Rezitator:

Die drei Reiche der Natur

Ich trink, und trinkend fällt mir bei,
Warum Naturreich dreifach sei.
Die Tier und Menschen trinken, lieben,
Ein jegliches nach seinen Trieben:
Delphin und Adler, Floh und Hund
Empfinden Lieb und netzt den Mund.
Was also trinkt und lieben kann,
Wird in das erste Reich getan.

Die Pflanze macht das zweite Reich,
Dem ersten nicht an Güte gleich:
Sie liebet nicht, doch kann sie trinken;
Wenn Wolken träufelnd niedersinken,
So trinkt die Zeder und der Klee,
Der Weinstock und die Aloe.
Drum, was nicht liebt, doch trinken kann,
Wird in das zweite Reich getan.

Das Steinreich macht das dritte Reich;
Und hier sind Sand und Demant gleich:
Kein Stein fühlt Durst und zarte Trieb,
Er wächset ohne Trunk und Liebe.
Draum, was nicht liebt noch trinken kann,
Wird in das letzte Reich getan.
Denn ohne Lieb und ohne Wein,
Sprich, Mensch, was bleibst du noch? - Ein Stein.


Schiller: Verzeihung, wenn ich mich in chronologischer Hinsicht verfrüht in das Gespräch einschalte: Mir fiel gerade eines meiner frühen Gedichte zu demselben Leibnizischen Thema ein. Es heißt "Die Blumen" und erschien in der "Anthologie auf das Jahr 1782".

Rezitator:
Die Blumen

Kinder der verjüngten Sonne,
Blumen der geschmückten Flur,
Euch erzog zur Lust und Wonne,
Ja euch liebte die Natur.
Schön das Kleid mit Licht gesticket,
Schön hat Flora euch geschmücket
Mit der Farben Götterpracht,
Holde Frühlingskinder klaget,
Seele hat sie euch versaget,
Und ihr selber wohnt in Nacht.

Nachtigall und Lerche singen
Euch der Liebe selig Los
Gaukelnde Sylphiden schwingen
Buhlend sich auf eurem Schoß.
Wölbte eures Kelches Krone
Nicht die Tochter der Dione
Schwellend zu der Liebe Pfühl?
Zarte Frühlingskinder weinet,
Liebe hat sie euch verneinst,
Euch das selige Gefühl.

Aber hat aus Nannis Blicken
Mich der Mutter Spruch verbannt,
Wenn euch meine Hände pflücken
Ihr zum zarten Liebespfand,
Leben, Sprache, Seelen, Herzen,
Stumme Boten süßer Schmerzen
Goß euch dies Berühren ein,
Und der mächtigste der Götter
Schließt in eure stillen Blätter
Seine hohe Gottheit ein.

Sprecher: Dankeschön. Nun aber zurück zu Ihnen, Herr Mendelssohn, und zum Hauptanliegen von Sokrates, Leibniz und uns allen heute abend: zur Bestimmung des Menschen. Was steht dazu in Ihrem "Phädon"?

Mendelssohn: Zunächst kommt es darauf an, daß der Mensch seine herausgehobene Stellung im großen Weltall erkennt -- und akzeptiert. Er ist nun einmal der "Unterherr der Schöpfung", und -- so schrieb ich (liest) -- für ihn "schmückt sich die Natur in ihrer jungfräulichen Schönheit. Ihm dient das Leblose nicht nur zur Nahrung, Kleidung, Wohnung und zum sichern Aufenthalt, sondern vornehmlich zur Ergötzung und zum Unterricht; und die erhabensten Sphären, die entferntesten Gestirne, die kaum mit dem Auge entdeckt werden können, müssen ihm in dieser Absicht nützlich sein. Wollt ihr seine Bestimmung hienieden wissen: so sehet nur, was er hienieden verrichtet. Er bringt auf diesen Schauplatz weder Fertigkeit, noch Naturtrieb, noch angebornes Geschick, weder Wehr noch Schutz mit und erscheint bei seinem ersten Auftritte dürftiger und hilfloser als das unvernünftige Tier. Aber die Bestrebung und die Fähigkeit, sich vollkommener zu machen, diese erhabensten Geschenke, deren eine erschaffene Natur fähig ist, ersetzen vielfältig den Abgang jener viehischen Triebe und Fertigkeiten, die keine Verbesserung, keinen höheren Grad der Vervollkommnung je annehmen können.

Kaum genießt er das Licht der Sonne, so arbeitet schon die gesamte Natur, ihn vollkommener zu machen; dieses schärft seine Sinne, Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen, jenes übt seine edleren Erkenntniskräfte, bearbeitet seinen Verstand, seine Vernunft, seinen Witz, seinen Scharfsinn. Das Schöne in der Natur bildet seinen Geschmack und verfeinert seine Empfindung; das Erhabene erregt seine Bewunderung und erhebt seine Begriffe gleichsam über die Sphäre dieser Vergänglichkeit hinweg...

Zwar treffen alle Züge des Gemäldes nicht den Menschen überhaupt, sondern nur wenig Edle... doch genug, daß sie alle zu derselben Klasse gehören und ihr Unterschied nur in dem Mehr oder Weniger besteht. Vom unwissendsten Menschen bis zum vollkommensten unter den erschaffenen Geistern haben alle die der Weisheit Gottes so anständige und ihren eigenen Kräften und Fähigkeiten so angemessene Bestimmung, sich und andere vollkommener zu machen."

Gegenwart: Also, das kann ich so nicht stehen lassen...

Sprecher: Gleich kannst du loslegen, aber zuerst hören wir uns noch ein Lied an.

Lied: Die Himmel rühmen...

Gegenwart: All diese Gedanken sind völlig unmodern : Gott spielt doch nur für eine Minderheit eine Rolle. "Gott ist tot!" Und was soll das heißen: "Vervollkommnung"? die nur "wenige Edle" erreichen?! Völlig undemokratisch ist das. "Seele" oder "Unsterblichkeit" -- das sind doch nur Worte, die das menschliche Gehirn erzeugt. Und das Gehirn ist ein komplizierter Computer, den wir noch nicht gut genug verstehen. Nur deswegen reden wir von Seele. Aber letzten Endes hat alles materielle Ursachen, und bald werden wir in der Lage sein, Computer zu bauen, die besser denken können als der Mensch!

Lessing: Meinen Sie etwa, diese Probleme wären neu? Was habe ich mich damals schon herumgeschlagen mit dieser falschen, mechanischen Aufklärung, mit dem Seelenleugner Voltaire oder mit diesem La Mettrie, der ein Buch mit dem Titel "L'homme machine" -- "Der Mensch als Maschine" geschrieben hatte. Als ich 20 war, hat mich dies zugegebenermaßen in einige Zweifel gestürzt. Um diese Zweifel auszuräumen, wollte ich ein langes Lehrgedicht schreiben mit dem Titel: "Die Religion". In der Vorrede hieß es:

"Die Selbsterkenntnis, war allezeit der nächste Weg zu der Religion, und ich füge hinzu, der sicherste. Man schieße einen Blick in sich selbst; man setze alles was man weiß, als wüßte man es nicht, beiseite; auf einmal ist man in einer undurchdringlichen Nacht. Man gehe auf den ersten Tag seines Lebens zurück. Was entdeckt man? Eine mit dem Viehe gemeinschaftliche Geburt; ja, unser Stolz sage was er wolle, eine noch elendere. Ganze Jahre ohne Geist, ohne Empfindung, folgen darauf, und den ersten Beweis, daß wir Menschen sind, geben wir durch Laster, die wir in uns gelegt fanden, und mächtiger in uns gelegt fanden, als die Tugenden. ... Welcher Anblick! in dem ganzen Umfange des menschlichen Herzens nichts als Laster zu finden! Und es ist von Gott? Es ist von einem allmächtigen, weisen Gott? Marternde Zweifel!
Doch vielleicht ist unser Geist desto göttlicher. Vielleicht wurden wir für die Wahrheit erschaffen, da wir es für die Tugend nicht sind. Für die Wahrheit? Wie vielfach ist sie? jeder glaubt sie zu haben, und jeder hat sie anders. Nein, nur der Irrtum ist unser Teil, und Wahn ist unsre Wissenschaft... Dieses alles verführt den zweifelnden Dichter zu schließen:
Der Mensch? Wo ist er her?
Zu schlecht für einen Gott; zu gut fürs Ungefähr.

Gegenwart: Stimmt! Genau was ich sage.

Sprecher: Es war ausgemacht, daß du hier niemanden unterbrichst. Herr Lessing, bitte führen Sie ihren Gedanken zuende.

Lessing: All diese Einwürfe, die dem Vertreter Ihrer Gegenwart so gefallen, sollten in den folgenden Gesängen widerlegt werden.Von dem ganzen Lehrgedicht wurde dann nur der erste Gesang fertig. Aber ich habe meine theologischen Gedanken später auf andere Art niedergelegt...

Sprecher:... z.B. in den 100 Paragraphen über "Die Erziehung des Menschengeschlechts". Lesen Sie uns doch daraus auch ein Stückchen vor:

Lessing: Dort behaupte ich:
"Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte... Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher..."

Ich schilderte das Alte Testament als das Elementarbuch der Menschheit, voller Allegorien und poetischer Bilder.

"Aber jedes Elemenarbuch ist nur für ein gewisses Alter... Ein beßrer Pädagog mußte kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. -- Christus kam... Der erste praktische Lehrer. -- Denn ein anders ist, die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Spekulation, vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äußern Handlungen darnach einrichten... "

"Nein; sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch... das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen..."

Gegenwart: Also ich...

Sprecher: Erst ein Lied!

Lied: Liebe des Nächsten

Gegenwart: Also ich kann dem Argument mit dem "Elementarbuch", das "bloß für gewisse Menschenalter" gilt, nur zustimmen. Religion ist sowieso nur Phantasie. Aufgeklärte Menschen wie wir brauchen solche Märchen nicht. Sie wissen, daß die Götter vom Menschen ausgedachte Phantasiebilder sind. Welcher Gott ist denn Gott? Ist es der Gott der Christen, oder Jehova, der Gott der Juden, oder Allah der Mohamedaner, um nur die drei monotheistischen Religionen zu nennen? Darin sieht man, daß es nur unterschiedliche Phantasiegebilde sind. Wenn es einen wirklichen Gott gäbe, würden ihn auch alle gleichermaßen erkennen.

Sprecher: Herr Lessing, einen Fingerzeig dazu geben Sie in der Einleitung zur "Erziehung des Menschengeschlechts". Dort sagen Sie: "Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen?" Das erinnert mich an Ihre berühmte "Ringparabel" aus "Nathan der Weise".

Rezitatorin: Der muslimische Sultan Saladin läßt den Juden Nathan zu sich kommen, um seine Weisheit auf die Probe zu stellen. Er fragt ihn, welche von den drei Religionen Christentum, Judentum und Islam wohl der "rechte Glaube" sei. Nathan besinnt sich kurz und antwortet mit einem Gleichnis.


Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Daß ihn der Mann in Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, daß dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. --

So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,
Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;
Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
Die alle drei er folglich gleich zu lieben
Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit
Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald
Der dritte, -- sowie jeder sich mit ihm
Allein befand, und sein ergießend Herz
Die andern zwei nicht teilten, -- würdiger
Des Ringes; den er denn auch einem jeden
Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen.

Das ging nun so, solang es ging. -- Allein
Es kam zum Sterben, und der gute Vater
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
Verlassen, so zu kränken. -- Was zu tun? -
Er sendet in geheim zu einem Künstler,
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
Zwei andere bestellt, und weder Kosten
Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,
Kann selbst der Vater seinen Musterring
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
Er seine Söhne, jeden insbesondre;
Gibt jedem insbesondre seinen Segen, -
Und seinen Ring, -- und stirbt. --

Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder
Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst
Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
Erweislich...

Wie gesagt: Die Söhne
Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter,
Unmittelbar aus seines Vaters Hand
Den Ring zu haben. -- Wie auch wahr! -- Nachdem
Er von ihm lange das Versprechen schon
Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu
Genießen. -- Wie nicht minder wahr! -- Der Vater,
Beteurte jeder, könne gegen ihn
Nicht falsch gewesen sein; und eh’ er dieses
Von ihm, von einem solchen lieben Vater,
Argwohnen lass': eh' müss' er seine Brüder,
So gern er sonst von ihnen nur das Beste
Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels
Bezeihen; und er wolle die Verräter
Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.

Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis' ich euch
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel
Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? -
Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
Doch das nicht können! -- Nun; wen lieben zwei
Von Euch am meisten? -- Macht, sagt an! Ihr schweigt?
Die Ringe wirken nur zurück? und nicht
Nach außen? jeder liebt sich selber nur
Am meisten? -- 0, so seid ihr alle drei
Betrogene Betrüger! Eure Ringe
Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
Vermutlich ging verloren. Den Verlust
Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
Die drei für einen machen.

Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr
Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt: Geht nur! --
Mein Rat ist aber der: ihr nehmt
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. -- Möglich; daß der Vater nun
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
In seinem Hause dulden wollen! -- Und gewiß;
Daß er euch alle drei geliebt, und gleich
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
Um einen zu begünstigen. -- Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad' ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! -- So sagte der bescheidne Richter.

Gegenwart: Ja, der Richter hat recht. Alle drei Ringe sind nicht echt.

Sprecher: Und wenn es so wäre? Verstehst du denn nicht, was der Richter sagt -- daß es darauf gar nicht ankommt?

Lessing: Ja -- die Wahrheit kann man nicht pachten, sie will gesucht werden. In der "Duplik" schrieb ich einmal (liest):

"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin alle seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: "Wähle!" Ich.fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: "Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"

Gegenwart: Dafür wurden Sie sogar von der Frankfurter Schule gelobt. Hannah Arendt schrieb 1960 über Sie:

"Was Lessing aber betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit eh und je, zum mindesten seit Parmenides und Plato so bekümmert hat, nämlich daß die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung unter Meinungen verwandelt, bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gespräches ist wie andere Gegenstände. Auch. Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings."

Lessing: Wie sagte noch mein Faust? (Ich habe nämlich auch einen geschrieben, der mir leider gestohlen wurde): Nichts ist schneller als der Übergang vom Guten zum Bösen! Als Lob verkleidet, dreht diese Hanna Arendt mir tatsächlich das Wort im Munde um.
Ich sage: Der Mensch soll nie aufhören, die Wahrheit zu suchen, obwohl er sich ihr immer nur annähern kann.
Sie sagt: Die Wahrheit gibt es nicht, es gibt nur Meinungen.
Warum soll man aber nach der Wahrheit suchen, wenn es sie gar nicht gibt? Und wer aufhört, nach der Wahrheit zu suchen, der verliert bald alle Kritierien für Gut uns Böse. Diese entsetzliche Beliebigkeit ist im Effekt genauso schlimm wie der finsterste Aberglaube.

Gegenwart: Wieso?

Lessing: Aberglaube und gedankenlose Bigotterie bedeuten nichts anderes, als daß der Mensch die Verantwortung für die eigenen Handlungen und deren Folgen auf den lieben Gott abwälzt. -- Aber Beispiele taugen oft mehr als trockene Erklärungen. Hören wir doch einmal meine gereimte Geschichte "Der über uns":

Hans Steffen stieg bei Dämmerung (und kaum
konnt er vor Näschigkeit die Dämmerung erwarten)
in seines Edelmannes Garten
und plünderte den besten Äpfelbaum.

Johann und Hanne konnten kaum
vor Liebesglut die Dämmerung erwarten,
und schlichen sich in eben diesen Garten,
von ungefähr an eben diesen Äpfelbaum.

Hans Steffen, der im Winkel oben saß
und fleißig brach und aß,
ward mäuschenstill, vor Wartung böser Dinge,
daß seine Näscherei ihm diesmal schlecht gelinge.
Doch bald vernahm er unten Dinge,
worüber er die Furcht vergaß
und immer sachte weiteraß.

Johann warf Hannen in das Graß.
"O pfui!" rief Hanne; "welch ein Spaß!
Nicht doch Johann! - Ei was?
Oh, schäme dich! - Ein andermal - o laß -
Oh, schäme dich! - Hier ist es naß." -
"Naß oder nicht; was schadet das?
Es ist ja reines Gras." -

Wie dies Gespräche weiterlief,
das weiß ich nicht. Wer braucht's zu wissen?
Sie stunden wieder auf, und Hanne seufzte tief:
"So, schöner Herr! heißt das bloß küssen?
Das Männerherz! Kein einz'ger hat Gewissen!
Sie könnten es uns so versüßen!
Wie grausam aber müssen
wir armen Mädchen öfters dafür büßen!
Wenn nun auch mir ein Unglück widerfährt -
ein Kind - ich zittre - wer ernährt
mir dann das Kind? Kannst du es mir ernähren?" -
"Ich?" sprach Johann; "die Zeit mag's lehren.
Doch wird's auch nicht von mir ernährt,
der über uns wird's schon ernähren,
dem über uns vertrau!"

Dem über uns! Dies hörte Steffen.
Was, dachte er, will das Pack mich äffen?
Der über ihnen? Ei, wie schlau!
"Nein!" schrie er; "laßt euch andre Hoffnung laben!
Der über euch ist nicht so toll!
Wenn ich ein Bankbein nähren soll:
so will ich es auch selbst gedrechselt haben!"

Wer hier erschrak und aus dem Garten rann,
das waren Hanne und Johann.
Doch gaben bei dem Edelmann
sie auch den Äpfeldieb wohl an?
Ich glaube nicht, daß sie's getan.

Gegenwart: Solche Gedichte lasse ich mir gefallen.

Sprecher: Wir hören jetzt noch ein Beethoven-Lied. Es ist übrigens das einzige heute abend nach einem Text von Lessing.

Lied: Ohne Liebe lebe wer da kann

Gegenwart: Ich habe eine Frage an Sie als Dichter. Wie wird man eigentlich Dichter? Ich stelle mir das so vor, daß man seine Gefühle individuell ausdrückt und irgendwie ansprechend darstellt...

Lessing: Vor allem muß man als Dichter Wahres sagen.

Gegenwart: Wie kann man wissen, was wahr ist? Und wenn, dann ist das doch viel zu kompliziert.

Lessing: Überhaupt nicht. Betrachten Sie zum Beispiel meine Fabeln, die kann jedes Kind verstehen.

Sprecher: Ich schlage vor, wir hören uns jetzt ein paar Fabeln von Lessing an.

2 Rezitatoren:
Der Geizige

Ich Unglücklicher! klagte ein Geizhals seinem Nachbar. Man hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben hatte, diese Nacht entwendet, und einen verdammten Stein an dessen Stelle gelegt.
Du würdest, antwortete ihm der Nachbar, deinen Schatz doch nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein Schatz; und du bist nichts ärmer.
Wäre ich auch schon nichts ärmer, erwiderte der Geizhals; ist ein andrer nicht um so viel reicher? Ein andrer um so viel reicher! Ich möchte rasend werden.

Zeus und das Pferd

Vater der Tiere und Menschen, so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des Zeus, man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heißt mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiednes an mir zu bessern sein? --
Und was meinst du denn, daß an dir zu bessern sei? Rede, ich nehme Lehre an: sprach der gute Gott und lächelte.
Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren; und das du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt.
Gut, versetzte Zeus; gedulde dich einen Augenblick! Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisierter Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne -- das häßliche -- Kamel.
Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.
Hier sind höhere und schmächtigere Beine, sprach Zeus; hier ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll?
Das Pferd zitterte noch.
Geh, fuhr Zeus fort; diesesmal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf -- Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel -- -- und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern.

Die Esel

Die Esel beklagten sich bei dem Zeus, daß die Menschen mit ihnen zu grausam umgingen. Unser starker Rücken, sagten sie, trägt ihre Lasten, unter welchen sie und jedes schwächere Tier erliegen müßten. Und doch wollen sie uns, durch unbarmherzige Schläge, zu einer Geschwindigkeit nötigen, die uns durch die Last unmöglich gemacht würde, wenn sie uns auch die Natur nicht versagt hätte. Verbiete ihnen, Zeus, so unbillig zu sein, wenn sich die Menschen anders etwas Böses verbieten lassen. Wir wollen ihnen dienen, weil es scheinet, daß du uns darzu erschaffen hast; allein geschlagen wollen wir ohne Ursach nicht sein.

Mein Geschöpf, antwortete Zeus ihrem Sprecher, die Bitte ist nicht ungerecht; aber ich sehe keine Möglichkeit, die Menschen zu überzeugen, daß eure natürliche Langsamkeit keine Faulheit sei. Und so lange sie dieses glauben, werdet ihr geschlagen werden. -- Doch ich sinne euer Schicksal zu erleichtern. --

Die Unempfindlichkeit soll von nun an euer Teil sein; eure Haut soll sich gegen die Schläge verhärten, und den Arm des Treibers ermüden.

Zeus, schien die Esel, du bist allezeit weise und gnädig! - Sie gingen erfreut von seinem Throne, als dem Throne der allgemeinen Liebe.

Der Schäfer und die Nachtigall

Du zürnest, Liebling der Musen, über die laute Menge des parnassischen Geschmeißes? -- O höre von mir, was einst die Nachtigall hören mußte.
Singe doch, liebe Nachtigall! Rief ein Schäfer der schweigenden Sängerin, an einem lieblichen Frühlingsabende, zu.
Ach! sagte die Nachtigall; die Frösche machen sich so laut, daß ich alle Lust zum Singen verliere. Hörest du sie nicht?
Ich höre sie freilich: versetzte der Schäfer. Aber nur dein Schweigen macht, daß ich sie höre.

Gegenwart: Das gefällt mir. Die Dummköpfe soll man ruhig quaken lassen.

Sprecher: Herr Lessing, Sie sind aber nicht bloß Fabeldichter, sondern auch Verfasser erfolgreicher Komödien und Tragödien. Warum sind eigentlich Tragödien so wichtig?

Gegenwart: Das habe ich mich auch immer gefragt.

Lessing: Die Tragödie, oder das Trauerspiel, geht auf eine Erfahrung zurück, die schon die alten Griechen machten: "Homer und nach ihm die Rhapsoden wählten gewisse Stücke daraus, die sie bei feierlichen Gelegenheiten, vielleicht auch vor den Türen ums Brot, abzusingen pflegten. Sie mußten die Erfahrung gar bald machen, was für Stücke von dem Volke am liebsten gehört wurden. Heldentaten hört man nur einmal mit sonderlichem Vergnügen; ihre Neuigkeit rührt am meisten. Aber tragische Begebenheiten rühren, so oft man sie hört."

Schiller: Dieses "Vergnügen an tragischen Gegenständen" kann man als Dichter mit großer Wirkung nutzen... Aber Verzeihung, ich habe Sie unterbrochen.

Lessing: Genau das habe ich damals mit Mendelssohn und Nicolai diskutiert. Ich dachte mir, "wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß... Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste...

Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie. Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen..."

Gegenwart: Schön und gut, Komödie geht ja noch, aber Tragödie ist out! Viel zu anstrengend. Unterhaltung ist gefragt. Seifenoper, Big Brother, da kann man abschalten...

Sprecher: Da sollte man abschalten.

Gegenwart: Tut aber keiner, das belegen die Einschaltquoten.

Lessing: Theater ist nicht dasselbe wie Fernsehen, und doch täten die Fernseh-Macher gut daran, ihr Publikum zu erziehen. Wir mußten uns damals ja auch ein Publikum für unser "Nationaltheater" erziehen. Das war u.a. der Zweck meiner Zeitschrift, der "Hamburgischen Dramaturgie". Manchmal wurde ich darin ziemlich deutlich (liest):

"Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine lustige oder rührende Romane gebracht, anstatt beiläufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie die sind, die sich mit Komödienschreiben abgeben, anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen, anstatt aller dieser artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken über alte bekannte Stücke, schwerfällige Untersuchungen über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte, mitunter wohl gar Erklärungen des Aristoteles.

Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich bedaure sie; sie sind gewaltig angeführt! -- Doch im Vertrauen, besser, daß Sie es sind als ich. Und ich würde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten..."

(Aufsehend, zur Gegenwart) Na, wie gefällt Ihnen das?

Gegenwart: Wieso fragen Sie? Muß mir das etwa gefallen?

Lessing: Meinen Sie nicht, man muß ein bißchen Nachtigall sein?

Gegenwart: Ich weiß nicht...

Lessing: Seien Sie kein Frosch!

Sprecher: Ich glaube, wir sollten nun noch zwei Gedichte von Lessing hören.

2 Rezitatoren:

Der Adler und die Eule

Der Adler Jupiters und Pallas' Eule stritten.
"Abscheulich Nachtgespenst!"-- "Bescheidner, darf ich bitten,
Der Himmel heget mich und dich;
Was bist du also mehr, als ich?"
Der Adler sprach: "Wahr ist's, im Himmel sind wir beide;
Doch mit dem Unterscheide:
Ich kam durch eignen Flug,
Wohin dich deine Göttin trug."

Die Sonne

Der Stern, durch den es bei euch tagt --
"Ach! Dichter, lern', wie unser einer sprechen!
"Muß man, wenn du erzählst,
"Und uns mit albern Fabeln quälst,
"Sich denkend noch den Kopf zerbrechen?"

Nun gut! Die Sonne ward gefragt:
Ob sie es nicht verdrösse,
Daß ihre unermeßne Größe
Die durch den Schein betrogne Welt
Im Durchschnitt' größer kaum, als eine Spanne, hält?

Mich, spricht sie, sollte dieses kränken?
Wer ist die Welt? Wer sind sie, die so denken?
Ein blind Gewürm! Genug, wenn jene Geister nur,
Die auf der Wahrheit dunkeln Spur,
Das Wesen von dem Scheine trennen,
Wenn diese mich nur besser kennen!

Lied: Das Geheimnis

Sprecher: Wir machen eine Viertelstunde Pause.

PAUSE

(Die fünf Hauptpersonen gehen wieder an ihren Platz)

Rezitator: Drei Sinngedichte von Lessing:

Das böse Weib

Ein einzig böses Weib lebt höchstens in der Welt:
Nur schlimm, daß jeder seins für dieses einz'ge hält.

Auf die Europa

Als Zeus Europen lieb gewann,
Nahm er, die Schöne zu besiegen, verschiedene Gestalten an,
Verschieden ihr verschiedlich anzuliegen.
Als Gott zuerst erschien er ihr;
Dann als ein Mann, und endlich als ein Tier.
Umsonst legt er, als Gott, den Himmel ihr zu Füßen:
Stolz fliehet sie vor seinen Küssen.
Umsonst fleht er, als Mann, im schmeichelhaften Ton:
Verachtung war der Liebe Lohn.
Zuletzt -- mein schön Geschlecht, gesagt zu deinen Ehren! --
Ließ sie -- vom wem? -- vom Bullen sich betören.

Faustin

Faustin, der ganze fünfzehn Jahr
Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war,
Ward, von dem Wucher reich gemacht,
Auf seinem Schiffe heimgebracht.
"Gott, seufzt der redliche Faustin,
Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern erschien,
"Gott, strafe mich nicht meiner Sünden,
"Und gib mir nicht verdienten Lohn!
"Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn
"Gesund und fröhlich wieder finden."
So seufzt Faustin, und Gott erhört den Sünder.
Er kam, und fand sein Haus in Überfluß und Ruh.
Er fand sein Weib und seine beiden Kinder,
Und -- Segen Gottes! -- zwei dazu.

Sprecher: Herr Lessing, bei so manchem Ihrer Gedichte oder Fabeln könnte man Sie für einen Weiberfeind halten?

Lessing (lacht): Als ich meine spätere Frau, Eva König, kennenlernte, hat sie auch zunächst an meinen Sinngedichten Anstoß genommen.

Rezitatorin: Eva König 1771 an Lessing, kurz vor dessen Besuch bei ihr in Hamburg:
"Machen Sie, daß Sie bald kommen, sonst kommt eine ganze Ladung Frauenzimmer, um Sie abzuholen. Ich denke, dies ist die härteste Drohung, die ich Ihnen machen kann. Denn eben lege ich Ihre Sinngedichte aus den Händen, und bin in meiner längst gehegten Meinung -- Sie seien ein Erzweiberfeind, nun völlig bestärket. Ist es aber nicht recht gottlos, daß Sie uns bei allen Gelegenheiten so heruntermachen! Sie müssen an verzweifelt böse Weiber geraten sein. Ist dieses, so verzeihe ich Ihnen; sonst aber müssen Sie wahrhaftig für alle die Bosheit, so Sie an uns ausüben, noch gestrafet werden."

Sprecher: Eva König war klug und selbständig; sie war Witwe, hatte bereits erwachsene Kinder und mußte sich um mehrere Fabriken in Hamburg und Wien kümmern, die ihr verstorbener Mann hinterlassen hatte. Lessing leitete in Wolfenbüttel die Bibliothek, um die sich schon Leibniz verdient gemacht hatte. Vor allem die schwierigen finanziellen Verhältnisse waren der Grund, warum die Hochzeit fünf Jahre lang immer wieder aufgeschoben werden mußte. Beide litten sehr unter der Trennung, In Briefen, die einen ganzen dicken Band füllen, munterten sie sich immer wieder gegenseitig.auf. Als Eva Königs Mutter starb, tröstete Lessing sie. -- Wollen Sie Ihre Briefe selbst vorlesen, Herr Lessing?

Lessing: Diese hier – ja. Ich schrieb also an Eva:
"Wollte nur der Himmel, daß Ihnen die Versicherung, bei dem allen noch eine Person in der Welt zu wissen, die Sie über alles liebt, zu einigem Trost gereichen könnte! Diese Person erwartet alle Glückseligkeit, die ihr hier noch beschieden ist, nur allein von Ihnen, und sie beschwört Sie, um dieser Glückseligkeit willen, sich allem Kummer über das Vergangene zu entreißen, und ihre Augen lediglich auf eine Zukunft zu richten, in welcher es mein einziges Bestreben sein soll, Ihnen neue Ruhe, neues, von Tag zu Tag wachsendes Vergnügen zu verschaffen. Machen Sie ja, meine Liebe, daß ich Sie nicht niedergeschlagener finde, als ich Sie verlassen habe!"

Sprecher: Und ein andermal, als Evas Wiener Geschäfte gescheitert waren und damit auch die Aussicht, gemeinsam nach Wien überzusiedeln:

Lessing: "Und alsdenn, meine Liebe, können Sie weiter keine Ausflucht haben, mir Ihr Wort zu halten. Wenn Sie -- wie Sie mir schrieben -- lieber in dem elendsten Winkel, lieber bei Wasser und Brot leben wollten, als länger in Ihrer gegenwärtigen Verwirrung, so ist Wolfenbüttel Winkels genug, und an Wasser und Brot, auch noch an etwas mehr, soll es uns gewiß nicht fehlen."

Ein Jahr später:
"Sie wissen, meine Liebe, was ich Ihnen oft gestanden habe: daß ich es auf die Länge unmöglich hier aushalten kann. Ich werde in der Einsamkeit, in der ich hier leben muß, von Tag zu Tag dümmer und schlimmer... Nicht daß ich etwa krank gewesen, ob ich mich auch schon nicht gesund befunden. Ich bin schlimmer als krank gewesen: mißvergnügt, ärgerlich, wild; wider mich und wider die ganze Welt aufgebracht, Sie allein ausgenommen..."

1776, weitere vier Jahre später:
"Gott! wann wird dieses Leben einmal aufhören! Wann werde ich einmal... Ihnen und mir selbst leben können!"

Sprecher: Doch dann wurde endlich geheiratet, und die letzten Briefe sind praktischen Inhalts. Lessings Junggesellenwohnung war im Chaos, und zudem fürchtete er, das die ihm neu zugewiesene Haus in der Nähe der Bibliothek könnte Eva nicht gefallen.

Rezitatorin: Eva König an Lessing:
"Die Wohnung mag sein, wie sie will, in noch so großer Unordnung, sie soll bald in Ordnung sein, wenn ich zugegen bin. Und was Ihr angewiesenes Haus betrifft, wenn es auf mich ankommt, so vertausche ich es mit keinem Palaste in der Stadt, wenn es auch noch so altväterlich und klein wäre. Ich würde ja bei einer solchen Entfernung die Erlaubnis verlieren, Sie in der Bibliothek besuchen zu dürfen."

Lied: Ich liebe dich

Sprecher: Ein Jahr lang waren die beiden glücklich, dann gebar Eva einen Sohn, der aber nur 24 Stunden am Leben blieb. Eva erholte sich nicht mehr und starb wenig später. Was Lessing in dieser Situation an einen Freund schrieb, lassen wir, glaube ich, lieber von einem anderen lesen.

Rezitator (während Lessing den Kopf in die Hände stützt):
Lessing an Eschenburg, den 31. Dezember 1777
"Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er; hatte so viel Verstand! so viel Verstand! Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. -- War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. -- Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen! Aber es ist mir schlecht bekommen."

Den 10. Jenner 1778
"Meine Frau ist tot; und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen, und bin ganz leicht. -- Auch tut es mir wohl, daß ich mich Ihres, und unsrer übrigen Freunde in Braunschweigs, Beileids versichert halten darf."

Sprecher: Lessing hat seine Frau nur um drei Jahre überlebt, aber noch im gleichen Jahr 1778 entstand das größte seiner Theaterwerke, das dramatische Gedicht "Nathan der Weise". Hören wir die Szene zwischen Nathan und dem Klosterbruder, der ihm vor 18 Jahren seine Pflegetochter Recha gebracht hatte:

2 Rezitatoren: (Nathan der Weise, IV,7)

KLOSTERBRUDER: ... Sagt:
Hat Euch ein Reitknecht nicht vor achtzehn Jahren
Ein Töchterchen gebracht von wenig Wochen?

NATHAN Wie das? -- Nun freilich -- allerdings -

KLOSTERBRUDER Ei, seht
Mich doch recht an! - Der Reitknecht, der bin ich.

NATHAN Seid Ihr?

KLOSTERBRUDER Der Herr, von welchem ich's Euch brachte,
War - ist mir recht - ein Herr von Filnek. - Wolf Von Filnek!

NATHAN Richtig!

KLOSTERBRUDER Weil die Mutter kurz
Vorher gestorben war; und sich der Vater
Nach - mein' ich - Gaza plötzlich werfen mußte,
Wohin das Würmchen ihm nicht folgen konnte:
So sandt' er's Euch. Und traf ich Eich damit
Nicht in Darun?

NATHAN?Ganz recht!

KLOSTERBRUDER??Es wär' kein Wunder,
Wenn mein Gedächtnis mich betrög'. Ich habe
Der braven Herrn so viel gehabt; und diesem
Hab ich nur gar zu kurze Zeit gedient.
Er blieb bald drauf bei Askalon; und war
Wohl sonst ein lieber Herr.

NATHAN Ja wohl! ja wohl!
Dem ich so viel, so viel zu danken habe!
Der mehr als einmal mich dem Schwert entrissen!

KLOSTERBRUDER 0 schön! So werd't Ihr seines Töchterchens
Euch um so lieber angenommen haben.

NATHAN Das könnt Ihr denken.

KLOSTERBRUDER Nun, wo ist es denn?
Es ist doch wohl nicht etwa gar gestorben? -
Laßt's lieber nicht gestorben sein! - Wenn sonst
Nur niemand um die Sache weiß: so hat
Es gute Wege.

NATHAN Hat es?

KLOSTERBRUDER Traut mir, Nathan!
Denn seht, ich denke so! Wenn an das Gute,
Das ich zu tun vermeine, gar zu nah
Was gar zu Schlimmes grenzt: so tu' ich lieber
Das Gute nicht; weil wir das Schlimme zwar
So ziemlich zuverlässig kennen, aber
Bei weiten nicht das Gute. - War ja wohl
Natürlich; wenn das Christentöchterlein
Recht gut von Euch erzogen werden sollte:
Daß Ihr's als Euer eigen Töchterchen
Erzögt. - Das hättet Ihr mit aller Lieb'
Und Treue nun getan, und müßtet so
Belohnet werden? Das will mir nicht ein.
Ei freilich, klüger hättet Ihr getan;
Wenn Ihr die Christin durch die zweite Hand
Als Christin auferziehen lassen: aber
So hättet Ihr das Kindchen Eures Freunds
Auch nicht geliebt. Und Kinder brauchen Liebe,
Wär's eines wilden Tieres Lieb' auch nur,
In solchen Jahren mehr, als Christentum.
Zum Christentume hat's noch immer Zeit.
Wenn nur das Mädchen sonst gesund und fromm
Vor Euern Augen aufgewachsen ist,
So blieb's vor Gottes Augen, was es war.
Und ist denn nicht das ganze Christentum
Aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft
Geärgert, hat mir Tränen g'nug gekostet,
Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten,
Daß unser Herr ja selbst ein Jude war.

NATHAN Ihr, guter Bruder, müßt mein Fürsprach sein,
Wenn Haß und Gleisnerei sich gegen mich
Erheben sollten, - wegen einer Tat -
Ah, wegen einer Tat! - Nur Ihr, Ihr sollt
Sie wissen! - Nehmt sie aber mit ins Grab!
Noch hat mich nie die Eitelkeit versucht,
Sie jemand andern zu erzählen. Euch
Allein erzähl' ich sie. Der frommen Einfalt
Allein erzähl' ich sie. Weil die allein
Versteht, was sich der gottergebne Mensch
Für Taten abgewinnen kann.

KLOSTERBRUDER Ihr seid
Gerührt, und Euer Auge steht voll Wasser?

NATHAN Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt
Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen.

KLOSTERBRUDER Allgerechter!

NATHAN Als
Ihr kamt, hatt' ich drei Tag' und Nächt' in Asch'
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. -
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß zugeschworen –

KLOSTERBRUDER Ach! Ich glaub's Euch wohl!

NATHAN Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm': "und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!" - Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, daß ich will! - Indem stiegt Ihr
Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
In Euern Mantel eingehüllt. - Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab' ich
Vergessen. Soviel weiß ich nur; ich nahm
Das Kind, trug's auf mein Lager, küßt' es, warf
Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!

KLOSTERBRUDER Nathan! Nathan!
Ihr seid ein Christ! - Bei Gott, Ihr seid ein Christ!
Ein beßrer Christ war nie!

Sprecher (zur Gegenwart): Du möchtest etwas sagen? Du hast lange geschwiegen?

Gegenwart: Also ehrlich gesagt, ich konnte gar nichts sagen. Das hat mich doch ganz schön mitgenommen. Lessing hatte doch etwas, das uns heute völlig abzugehen scheint. Was für ein Mensch muß man sein, um so etwas zu schreiben, nachdem sein ganzes Lebensglück zerbrochen ist? Verstehst du, wenn das Leben vor allem Spaß sein soll, und dann so etwas! All die Worte über Religion sind eine Sache..., aber das hat mich überzeugt. Lessing muß eine Seele gehabt haben. -- Aber ich will noch nichts zugeben, ich muß mir das noch genauer überlegen.

Sprecher: Gut, tue das, in der Zwischenzeit hören wir noch ein Lied.

Lied: Abendlied

Sprecher: Als Lessing im Februar 1781 mit nur 52 Jahren starb, hatte der 22jährige Friedrich Schiller gerade die Stuttgarter Karlsschule absolviert und sein erstes Drama "Die Räuber" herausgebracht. Das Stück enthält u.a. ein Rededuell zwischen dem evangelischen Pastor Moser und dem widerlichen Nihilisten Franz Moor, bei dem der Pastor eindeutig den Sieg davonträgt. Zwei Jahre zuvor hatte der Medizinstudent Schiller eine Dissertation über die "Philosophie der Physiologie geschrieben", deren erstes Kapitel betitelt ist: "Die Bestimmung des Menschen" -- unser Thema. Wie kamen Sie eigentlich darauf, Herr Schiller?

Schiller: Nun, das ist lange her. Auf jeden Fall gehen diese Ideen auf Leibniz zurück. Allerdings stritten sich die Germanisten lange darüber, "durch welche Kanäle" mich diese Ideen erreichten. Ein solcher "Kanal" sitzt hier vor Ihnen: Moses Mendelssohn. Sein "Phädon", in dem er Sokrates zum Leibnizianer machte, erschien 1776 bereits in vierter Auflage. Natürlich lasen wir Karlsschüler solche interessanten Dinge, wenngleich nicht im Unterricht -- genauso wie alles, was wir von Lessing, Klopstock und Goethe bekommen konnten.

Mendelssohn: Dazu möchte ich ergänzen, wie es eigentlich zum "Phädon" kam: 1748 veröffentlichte Johann Joachim Spalding eine philosophische Streitschrift gegen das Menschenbild La Mettries, daß der Mensch nur eine komplizierte Maschine sei. Sie erschien anonym unter dem Titel "Die Bestimmung des Menschen" und war noch wesentlich erfolgreicher als mein "Phädon" ; bis 1800 erlebte sie nicht weniger als 13 Auflagen.

Schiller: Dieser Buch kannten wir Karlsschüler selbstverständlich auch...

Mendelssohn: Ich hatte einen jungen Freund, Thomas Abbt, den die moderne "Aufklärung" in gewisse Zweifel gestürzt hatte, die sich auch durch Spaldings Buch nicht beruhigen ließen. Also bat er mich, über diese Frage der Bestimmung des Menschen in eine Korrespondenz mit ihm zu treten, die später unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. Es war unter den damals herrschenden feudalistischen Verhältnissen durchaus riskant, über solche brisanten Themen offen zu diskutieren. Leider ist Thomas Abbt schon in jungen Jahren gestorben, und ich verwendete die Gedanken dieses Briefwechsels im "Phädon".

Sprecher: Und was haben Sie über die Bestimmung des Menschen geschrieben, Herr Schiller?

Schiller: Meine Dissertation fing so an: (liest):
"Soviel wird, denke ich, einmal fest genug erwiesen sein, daß das Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworfen nach einem trefflichen Plane. So wie es itzt durch den allmächtigen Einfluß der göttlichen Kraft aus dem Entwurfe zur Wirklichkeit hinrann, und alle Kräfte wirken, und ineinander wirken, gleich Saiten eines Instruments tausendstimmig zusammenlautend in eine Melodie: so soll der Geist des Menschen, mit Kräften der Gottheit geadelt, aus den einzelnen Wirkungen Ursach und Absicht, aus dem Zusammenhang der Ursachen und Absichten all den großen Plan des Ganzen entdecken, aus dem Plane den Schöpfer erkennen, ihn lieben, ihn verherrlichen, oder kürzer, erhabner klingend in unseren Ohren: der Mensch ist da, daß er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit ebendem Blick umfasse die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt -- Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen. Unendlich zwar ist dies sein Ideal: aber der Geist ist ewig. Ewigkeit ist das Maß der Unendlichkeit, das heißt, er wird ewig wachsen, aber es niemals erreichen."

Gegenwart: Also, das klingt doch genau wie das, was wir vorhin von Herrn Mendelssohn und Herrn Lessing gehört haben. Tut mir leid, es ist unmodern, unzeitgemäß. Ich möchte Ihnen einmal folgendes vorlesen: einen Text, den ich kürzlich im Internet gefunden habe, und der das moderne Menschenbild viel treffender beschreibt, als das, was Sie gerade gesagt haben (liest):

"Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze."

Schiller: Diesen Text kenne ich sehr gut, er stammt aus meiner Feder und wird in meinem Stück "Die Räuber" von Franz Moor gesprochen, einem Mißmenschen des Zeitgeistes, wie er schon zu meiner Zeit "modern" war. Lesen Sie das Stück, und sehen Sie, wie kläglich dieser Franz endet. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen ist in jedem Zeitalter "modern", und es gibt immer falsche Antworten und richtige. Die richtige Antwort ist zeitlos, und unsere Aufgabe ist es, sie möglichst allen unseren Zeitgenossen verständlich zu machen. Das Theater spielt dabei eine wichtige Rolle.

Sprecher: Stichwort "Theater"! Herr Schiller, was halten Sie eigentlich von der Theatertheorie, über die Lessing und Mendelssohn vorhin erzählten? Glauben Sie, daß die Schaubühne die Zuschauer zu besseren Menschen machen kann?

Schiller: Ich habe als junger Mann darüber 1784 sogar eine Rede gehalten vor der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft in Mannheim. Dort sagte ich u.a.:
"Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren, und dieses ist -- sein Herz gegen Schwächen zu schützen. Einen großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten... Gesetz und Gewissen schützen uns oft vor Verbrechen und Lastern -- Lächerlichkeiten verlangen einen eigenen feineren Sinn... Die Schaubühne allein kann unsre Schwächen belachen, weil sie unsere Emfindlichkeit schont... Ohne rot zu werden, sehen wir unsre Larve aus ihrem Spiegel fallen, und danken insgeheim für die sanfte Ermahnung.

Ich selbst bin der Meinung, daß Molières Harpagon noch keinen Wucherer besserte, daß Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen wird... (doch wenn die Schaubühne) die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht?... Mit diesen Lasterhaften, diesen Toren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben, oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr, wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen...
So groß und vielfach ist das Verdienst der bessern Bühne um die sittliche Bildung; kein geringeres gebührt ihr um die ganze Aufklärung des Verstandes. Eben hier in dieser höhern Sphäre weiß der große Kopf, der feurige Patriot sie erst ganz zu gebrauchen.
Er wirft einen Blick durch das Menschengeschlecht, vergleicht Völker mit Völkern, Jahrhunderte mit Jahrhunderten, und findet, wie sklavisch die größere Masse des Volks an Ketten des Vorurteils und der Meinung gefangen liegt, die seiner Glückseligkeit ewig entgegenarbeiten...
Sprecher: Und trotzdem soll das Theater nicht belehren, sondern unterhalten?

Schiller: Das Theater soll erfreuen und die Seele erweitern. "Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsre einsamen Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken..., so empfängt uns die Bühne -- in dieser künstlichen Welt räumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben, unsre Empfindung erwacht... Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen... Jeder einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum -- es ist diese: ein Mensch zu sein."

Sprecher: Herr Schiller, was hielten Sie überhaupt von Lessing?

Schiller: Ich eiferte ihm nach. Mit 25 in Mannheim wollte ich selbst eine "Mannheimer Dramaturgie" herausgeben, eine Monatschrift nach dem Vorbild von Lessings "HamburgischerDramaturgie". Daraus wurde dann nichts. Aber Lessings Dramaturgie habe ich immer wieder gelesen . "Es ist doch gar keine Frage, daß Lessing unter allen Deutschen seinerzeit über das, was die Kunst betrifft, am klarsten gewesen, am schärfsten und zugleich am liberalsten darüber gedacht und das Wesentliche, worauf es ankommt, am unverrücktesten ins Auge gefaßt hat."

Seinen "Nathan" habe ich übrigens 1801 für Goethes Weimarer Theater bearbeitet und auch inszeniert. Ich schrieb damals an Goethe: "Das Stück ist so brav, gut und schön, daß ich ihm nichts zu vergleichen weiß."

Sprecher: Herr Schiller, kaum ein Dichter hat sich so umfassende Gedanken über den Stellenwert der Kunst im Menschenleben und über die "Erziehung durch Schönheit", die ästhetische Erziehung, Gedanken gemacht. 1788-89 entstand Ihr langes, wunderbares Gedicht an "Die Künstler". Wir wollen nun unser Programm mit Ausschnitten aus diesem Gedicht beschließen, und ich verabschiede mich schon einmal von unserem Gästen und von Ihnen, liebes Publikum.

Rezitator I: Schiller erinnert zu Anfang an die frühe Erzieherrolle der Kunst, in der Kindheit der Menschheit wie des einzelnen Menschen, die man über alle Errrungenschaften der Wissenschaft und Zivilisation nicht vergessen soll.

Verlerne nicht die Hand zu preisen,
Die an des Lebens ödem Strand
Den weinenden verlaßnen Waisen
Des wilden Zufalls Beute fand,
Die frühe schon der künft’gen Geisterwürde
Dein junges Herz im stillen zugekehrt,
Und die befleckende Begierde
Von deinem zarten Busen abgewehrt,
Die Gütige, die deine Jugend
In hohen Pflichten spielend unterwies
Und das Geheimnis der erhabnen Tugend
In leichten Rätseln dich erraten ließ,
Die reifer nur ihn wiederzuempfangen,
In fremde Arme ihren Liebling gab,
0 falle nicht mit ausgeartetem Verlangen
Zu ihren niedern Dienerinnen ab!
Im Fleiß kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern,
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.
Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Übt sich am Reize der Verstand.
Was bei dem Saitenklang der Musen
Mit süßem Beben dich durchdrang,
Erzog die Kraft in deinem Busen,
Die sich dereinst zum Weltgeist schwang.

Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,
Die alternde Vernunft erfand.
Lag im Symbol des Schönen und des Großen
Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.
Ihr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,
Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,
Eh noch ein Solon das Gesetz geschrieben,
Das matte Blüten langsam treibt.
Eh vor des Denkers Geist der kühne
Begriff des ew’gen Raumes stand,
Wer sah hinauf zur Sternenbühne,
Der ihn nicht ahndend schon empfand?

Die, eine Glorie von Orionen
Ums Angesicht, in hehrer Majestät,
Nur angeschaut von reineren Dämonen
Verzehrend über Sternen geht,
Geflohn auf ihrem Sonnenthrone,
Die furchtbar herrliche Urania,
Mit abgelegter Feuerkrone,
Steht sie - als Schönheit vor uns da.
Der Anmut Gürtel umgewunden,
Wird sie zum Kind, daß Kinder sie verstehn,
Was wir als Schönheit hier empfunden,
Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.
...

Rezitator II: Die Auswahl einer Blumenflur
Mit weiser Wahl in einen Strauß gebunden,
So trat die erste Kunst aus der Natur;
Jetzt werden Sträuße schon in einen Kranz gewunden,
Und eine zweite höhre Kunst erstand
Aus Schöpfungen der Menschenhand.
Das Kind der Schönheit, sich allein genug,
Vollendet schon aus eurer Hand gegangen,
Verliert die Krone, die es trug,
Sobald es Wirklichkeit empfangen.
Die Säule muß, dem Gleichmaß untertan,
An ihre Schwestern nachbarlich sich schließen,
Der Held im Heldenheer zerfließen.
Des Mäoniden Harfe stimmt voran.

Bald drängten sich die staunenden Barbaren
Zu diesen neuen Schöpfungen heran.
Seht, riefen die erfreuten Scharen,
Seht an, das hat der Mensch getan!
In lustigen geselligeren Paaren
Riß sie des Sängers Leier nach,
Der von Titanen sang und Riesenschlachten,
Und Löwentötern, die, solang der Sänger sprach,
Aus seinen Hörern Helden machten.
Zum erstenmal genießt der Geist
Erquickt von ruhigeren Freuden,
Die aus der Ferne nur ihn weiden,
Die seine Gier nicht in sein Wesen reißt,
Die im Genusse nicht verscheiden.

Jetzt wand sich von dem Sinnenschlafe
Die freie schöne Seele los,
Durch euch entfesselt, sprang der Sklave
Der Sorge in der Freude Schoß.
Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke,
Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn,
Und der erhabne Fremdling, der Gedanke,
Sprang aus dem staunenden Gehirn.
Jetzt stand der Mensch, und wies den Sternen
Das königliche Angesicht,
Schon dankte nach erhabnen Fernen
Sein sprechend Aug dem Sonnenlicht.
Das Lächeln blühte auf der Wange,
Der Stimme seelenvolles Spiel
Entfaltete sich zum Gesange,
Im feuchten Auge schwamm Gefühl,
Und Scherz mit Huld in anmutsvollem Bunde
Entquollen dem beseelten Munde...

Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen
Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift,
Und, trunken von siegrufenden Päanen,
Mit rascher Hand schon nach der Krone greift;
Wenn er mit niederm Söldnerslohne
Den edlen Führer zu entlassen glaubt;
Und neben dem geträumten Throne
Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: -
Verzeiht ihm - der Vollendung Krone
Schwebt glänzend über eurem Haupt...

Die von dem Ton, dem Stein bescheiden aufgestiegen,
Die schöpferische Kunst umschließt mit stillen Siegen
Des Geistes unermeßnes Reich.
Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen,
Entdecken Sie, ersiegen sie für euch.
Die Schätze, die der Denker aufgehäufet,
Wird er in euren Armen erst sich freun,
Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet,
Zum Kunstwerk wird geadelt sein --
Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget,
Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein,
Das malerische Tal -- auf einmal zeiget...

Rezitator I:
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!
Der Dichtung heilige Magie
Dient einem weisen Weltenplane,
Still lenke sie zum Ozeane
Der großen Harmonie!

Von ihrer Zeit verstoßen flüchte
Die ernste Wahrheit zum Gedichte,
Und finde Schutz in der Kamönen Chor.
In ihres Glanzes höchster Fülle,
Furchtbarer in des Reizes Hülle,
Erstehe sie in dem Gesange
Und räche sich mit Siegesklange
An des Verfolgers feigem Ohr.

Der freisten Mutter freie Söhne
Schwingt euch mit festem Angesicht
Zum Strahlensitz der höchsten Schöne,
Um andre Kronen buhlet nicht.
Die Schwester, die euch hier verschwunden,
Holt ihr im Schoß der Mutter ein;
Was schöne Seelen schön empfunden,
muß trefflich und vollkommen sein.
Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf;
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf.
Auf tausendfach verschlungnen Wegen
Der reichen Mannigfaltigkeit
Kommt dann umarmend euch entgegen
Am Thron der hohen Einigkeit.
Wie sich in sieben milden Strahlen
Der weiße Schimmer lieblich bricht,
Wie sieben Regenbogenstrahlen
Zerrinnen in das weiße Licht,
So spielt in tausendfacher Klarheit
Bezaubernd um den trunknen Blick,
So fließt in einen Bund der Wahrheit,
In einen Strom des Lichts zurück!

Ende