"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  August 2008 Nahrungsmittel für den Frieden

Trotz Rekordernte: Reserven so niedrig wie noch nie

Selbst eine deutlich höhere weltweite Weizenernte in diesem Jahr kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die derzeitige Nahrungsmittelerzeugung weit unter dem tatsächlichen Bedarf liegt.

Auf der Nordhalbkugel hat die Hauptweizenernte (des im letzten Herbst gesäten Winterweizens) begonnen. Die weltweite Weizenernte für 2008/09 (das „Weizenjahr“ läuft jeweils vom 1. Juli bis 30. Juni) wird wahrscheinlich 7% höher ausfallen als 2007/08. Nach Zahlen des US-Landwirtschaftsministeriums erwartet man 2008 für sämtliche Weizenarten zusammengenommen eine Rekordernte im Bereich von 664 Mio. t, verglichen mit 611 Mio. t 2007. Eine vom Hamburger Marktforscher F.O. Licht am 9. Juli abgegebene Schätzung geht von 652,3 Mio. t gegenüber 604,2 Mio. t für das Kalenderjahr 2007 aus.

Aber selbst ein solches Rekordergebnis läge noch weit unter dem tatsächlichen Bedarf. „Da wir mit sehr niedrigen weltweiten Weizenvorräten in das Jahr gegangen sind - die niedrigsten seit 30 Jahren für die Welt, seit 60 Jahren für die USA -, müssen wir diese Vorräte, den Liefernachschub und die Weizenreserven vieler Länder erst wieder auffüllen“, meinte am 9. Juli der Ökonom Mike Woolverton von der Kansas State University, die in einer der wichtigsten Weizenregionen der Welt liegt. Er betonte, ganz gleichgültig, wie gut die Ernte sei, es werde im Verhältnis zum Bedarf einfach zu wenig erzeugt.

Es gibt einfach nicht genug Weizen. Hunderte Millionen Menschen leiden unter erheblichen Versorgungsengpässen und ausufernden Preisen für Grundnahrungsmittel wie Brot, japanische Nudeln, Couscous, Pasta, Tortilla usw.

Wenn selbst eine Rekordernte bei weitem nicht reicht, wird daran deutlich, daß weltweite Anstrengungen zur Steigerung der Getreideerzeugung notwendig sind.

1. Die Winteraussaat von Weizen auf der Nordhalbkugel muß maximiert werden, aber das gilt auch für den entsprechenden Saat- und Erntekreislauf in der südlichen Hemisphäre, besonders in Argentinien, Australien und Südafrika. Weizen macht etwa 30% der gesamten Weltgetreideerträge sämtlicher Sorten aus (Reis, Mais, Hirse, Gerste, Hafer usw.)

2. Gleichzeitig muß die Nutzung von Getreide und Ölsaaten für die Herstellung von Biotreibstoffen sofort und bedingungslos eingestellt werden. In Kanada etwa, wo nun der im Frühjahr ausgesäte Weizen eingebracht wird, saugen Weizen-Äthanol-Anlagen die knappen Bestände auf, und die Regierung unterstützt das nach Kräften.

3. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln - sowie mit Kraftstoffen und anderen wirtschaftlich notwendigen Gütern - muß verboten werden. Die Getreidebörsen in Chikago, Minneapolis und Kansas sind keine Handelsplätze mehr, sie haben sich in wilde Spielkasinos verwandelt.

Länder, die von Weizenimporten abhängig sind, befinden sich bereits in akuter Notlage. So sind in Südkorea die Einfuhrpreise für Weizen innerhalb eines Jahres bis Juli um 127,2% gestiegen.

Im Mai hat die Vorsitzende des internationalen Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, zu einer weltweiten Mobilisierung aufgerufen, um in kürzestmöglicher Zeit die Weltnahrungsmittelproduktion zu verdoppeln und die Welthandelsorganisation (WTO), deren Globalisierungspraktiken direkt für die heutige Krise verantwortlich sind, abzuschaffen. Der Aufruf richtete sich besonders an den Ernährungsgipfel der FAO Anfang Juni in Rom, doch die Konferenz war außerstande, entsprechende Beschlüsse zu fassen. Glücklicherweise scheiterte nun in Genf der Vorstoß, mit der Doha-Runde die Freihandelspolitik der WTO noch auszuweiten.

Auf dem G8-Treffen Anfang Juli in Japan rief der russische Präsident Dmitri Medwedjew zu einem Weltgetreidegipfel in Moskau auf. Landwirtschaftsminister Alexej Gordejew hatte schon im Mai ein Programm zur Ausweitung der Agrarproduktion vorgelegt, um Rußlands Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu beenden. Er rechnet damit, daß Rußland die Getreideproduktion in den kommenden 5-7 Jahren um 50% steigern kann. Bereits in diesem Frühjahr wurde in Rußland 30% mehr Getreide als im Vorjahr ausgesät, so daß die diesjährige Ernte wahrscheinlich 54 Mio. t betragen dürfte, deutlich mehr als die 49,4 Mio. t 2007 und die 44,9 Mio.t. 2006.

Am 11. Juli wurde auf einem Treffen mit Gordejew, dem Präsidenten des russischen Getreiderats Arkady Slochewskij und anderen der Termin für den Moskauer Getreidegipfel vorläufig auf Juni 2009 festgelegt, was angesichts der akuten Krise jedoch viel zu spät ist.

Nichts mehr auf Lager

Die derzeitige Unterproduktion bewirkt zudem, daß die mächtigen Getreideverarbeitungs- und -handelskartelle noch mehr Einfluß darauf bekommen, wer etwas zu essen bekommt und wer nicht. Hedgefonds und Großspekulanten wie George Soros mischen dabei kräftig mit. Im Juni gab ein Soros-Konsortium die Übernahme die Agrarmarketing-Abteilung des Nahrungsmittelriesen ConAgra in Nordamerika bekannt.

Ein Lichtblick war in dem Zusammenhang am 10. Juli eine Razzia in den italienischen Geschäftsstellen von Cargill Ltd. und Bunge Ltd., zwei der ganz Großen im globalen Getreidekartell. Fahnder der EU und italienischer Behörden suchten nach Beweisen für Preisabsprachen bei Getreideprodukten, vor allem für Durum- und Semolina-Hartweizenmehl für Pasta sowie für andere Produkte wie Tierfutter. Cargill hat einen großen Anteil an einem der führenden italienischen Mühlenbetriebe für Pastamehl, Grandi Molini Italiani SpA.

In den letzten Jahren gingen von der jährlichen Produktion von etwa 620 Mio. t Weizen zwischen 110 und 118 Mio. t in den Welthandel. Den Großteil dieses Handels beherrschen in der Ära von GATT/WTO wenige ausgewählte Kartelle wie Cargill, ADM, Bunge und Louis Dreyfus.

Die Hauptherkunftsländer des Weizens sind (entsprechend ihres Exportvolumens 2007/08 in Mio. t, nach Angaben des USDA):

    Vereinigte Staaten:

    34,5

    Kanada:

    16,6

    EU:

    11

    Argentinien:

    10

    Kasachstan:

    8,5

    Australien:

    7



Die großen Weizeneinfuhrländer leiden immer mehr unter der Krise. Die größten Importeure sind (entsprechend ihrer Einfuhrmenge in Mio. t nach USDA-Angaben): Nordafrika (20,6 an Ägypten, Algerien, Marokko, Tunesien und Libyen), Naher Osten (9,4 an Libanon, Israel, Jordanien, Saudi-Arabien, Jemen, Kuwait, Irak, Iran, VAE, Oman), Südostasien (10 an Thailand, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Philippinen) und Brasilien (7).

Verzweiflungsmaßnahmen

Viele vom Weizenimport abhängige Nationen suchen angesichts fehlender Initiativen zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nach Notmaßnahmen zur Überwindung der Krise. Im folgenden seien nur einige Beispiele genannt, welche Überlegungen in armen und reichen Weizeneinfuhrländern auf allen Kontinenten angestellt werden.

In Bangladesch, das jährlich 2,5-3 Mio. t Getreide - überwiegend Weizen - einführt, fand Mitte Juli in der Hauptstadt Dhaka ein Seminar mit dem Titel „Globale Ernährungskrise: Ursachen, Folgen und politische Optionen“ statt. Der Weltbank-Ökonom Dr. Hassan Zaman hielt die Hauptrede, und obwohl die Freihandelspolitik der Weltbank den Kartellen gedient und der Landwirtschaft geschadet hat, benannte er einige Aspekte der Krise durchaus zutreffend: „Ein veränderter Landbau aufgrund zunehmender Verwendung von Mais und Ölsaaten für Biotreibstoffe führte zu einem geringeren Anbau von Weizen, einer anschließenden Abnahme der Weltweizenreserven auf Rekordtiefs und einem Anziehen der Weizenpreise...“

In Jamaika hat der Landwirtschaftsminister ein Programm zur Steigerung des Maniokanbaus als Alternative zu importiertem Weizen eingeleitet.

In Kenia hat die Regierung die Weizeneinfuhrsteuer von 35% auf 10% gesenkt und die 35%ige Importabgabe auf Mais ganz gestrichen. Gleichzeitig wurde kein Mindestpreis für das Getreide kenianischer Bauern festgesetzt. Ende Juni veranstalteten deshalb 2000 Bauern nahe der Stadt Narok eine Protestversammlung und blockierten Lastwagen, die den geernteten Weizen von den Feldern in die Lagerhäuser transportierten.

In Japan gibt es Pläne, die Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln von jetzt 45% auf über 50% anzuheben, wie Landwirtschaftsminister Masatoshi Wakabayashi nach einem Treffen mit Ministerpräsident Fukuda mitteilte. Erwogen werden Subventionen an die Bauern, wenn diese nicht mehr Reis, der reichlich vorhanden ist, sondern vermehrt Weizen und Soja anbauen.

Marcia Merry Baker