Trotz Rekordernte: Reserven so niedrig wie noch nie
Selbst eine deutlich höhere weltweite Weizenernte in diesem Jahr kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die derzeitige Nahrungsmittelerzeugung weit unter dem tatsächlichen Bedarf liegt.
Auf der Nordhalbkugel hat die Hauptweizenernte (des im
letzten Herbst gesäten Winterweizens) begonnen. Die weltweite Weizenernte für
2008/09 (das „Weizenjahr“ läuft jeweils vom 1. Juli bis 30. Juni) wird
wahrscheinlich 7% höher ausfallen als 2007/08. Nach Zahlen des
US-Landwirtschaftsministeriums erwartet man 2008 für sämtliche Weizenarten
zusammengenommen eine Rekordernte im Bereich von 664 Mio. t, verglichen mit 611
Mio. t 2007. Eine vom Hamburger Marktforscher F.O. Licht am 9. Juli abgegebene
Schätzung geht von 652,3 Mio. t gegenüber 604,2 Mio. t für das Kalenderjahr
2007 aus.
Aber selbst ein solches Rekordergebnis läge noch weit unter
dem tatsächlichen Bedarf. „Da wir mit sehr niedrigen weltweiten Weizenvorräten
in das Jahr gegangen sind - die niedrigsten seit 30 Jahren für die Welt, seit
60 Jahren für die USA -, müssen wir diese Vorräte, den Liefernachschub und die
Weizenreserven vieler Länder erst wieder auffüllen“, meinte am 9. Juli der
Ökonom Mike Woolverton von der Kansas State University, die in einer der
wichtigsten Weizenregionen der Welt liegt. Er betonte, ganz gleichgültig, wie
gut die Ernte sei, es werde im Verhältnis zum Bedarf einfach zu wenig erzeugt.
Es gibt einfach nicht genug Weizen. Hunderte Millionen
Menschen leiden unter erheblichen Versorgungsengpässen und ausufernden Preisen
für Grundnahrungsmittel wie Brot, japanische Nudeln, Couscous, Pasta, Tortilla
usw.
Wenn selbst eine Rekordernte bei weitem nicht reicht, wird
daran deutlich, daß weltweite Anstrengungen zur Steigerung der
Getreideerzeugung notwendig sind.
1. Die Winteraussaat von Weizen auf der Nordhalbkugel muß
maximiert werden, aber das gilt auch für den entsprechenden Saat- und
Erntekreislauf in der südlichen Hemisphäre, besonders in Argentinien,
Australien und Südafrika. Weizen macht etwa 30% der gesamten
Weltgetreideerträge sämtlicher Sorten aus (Reis, Mais, Hirse, Gerste, Hafer
usw.)
2. Gleichzeitig muß die Nutzung von Getreide und Ölsaaten
für die Herstellung von Biotreibstoffen sofort und bedingungslos eingestellt
werden. In Kanada etwa, wo nun der im Frühjahr ausgesäte Weizen eingebracht wird,
saugen Weizen-Äthanol-Anlagen die knappen Bestände auf, und die Regierung
unterstützt das nach Kräften.
3. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln - sowie mit
Kraftstoffen und anderen wirtschaftlich notwendigen Gütern - muß verboten
werden. Die Getreidebörsen in Chikago, Minneapolis und Kansas sind keine
Handelsplätze mehr, sie haben sich in wilde Spielkasinos verwandelt.
Länder, die von Weizenimporten abhängig sind, befinden sich
bereits in akuter Notlage. So sind in Südkorea die Einfuhrpreise für Weizen innerhalb
eines Jahres bis Juli um 127,2% gestiegen.
Im Mai hat die Vorsitzende des internationalen
Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, zu einer weltweiten Mobilisierung
aufgerufen, um in kürzestmöglicher Zeit die Weltnahrungsmittelproduktion zu
verdoppeln und die Welthandelsorganisation (WTO), deren
Globalisierungspraktiken direkt für die heutige Krise verantwortlich sind,
abzuschaffen. Der Aufruf richtete sich besonders an den Ernährungsgipfel der
FAO Anfang Juni in Rom, doch die Konferenz war außerstande, entsprechende
Beschlüsse zu fassen. Glücklicherweise scheiterte nun in Genf der Vorstoß, mit
der Doha-Runde die Freihandelspolitik der WTO noch auszuweiten.
Auf dem G8-Treffen Anfang Juli in Japan rief der russische
Präsident Dmitri Medwedjew zu einem Weltgetreidegipfel in Moskau auf.
Landwirtschaftsminister Alexej Gordejew hatte schon im Mai ein Programm zur
Ausweitung der Agrarproduktion vorgelegt, um Rußlands Abhängigkeit von
Nahrungsmittelimporten zu beenden. Er rechnet damit, daß Rußland die Getreideproduktion
in den kommenden 5-7 Jahren um 50% steigern kann. Bereits in diesem Frühjahr
wurde in Rußland 30% mehr Getreide als im Vorjahr ausgesät, so daß die
diesjährige Ernte wahrscheinlich 54 Mio. t betragen dürfte, deutlich mehr als
die 49,4 Mio. t 2007 und die 44,9 Mio.t. 2006.
Am 11. Juli wurde auf einem Treffen mit Gordejew, dem
Präsidenten des russischen Getreiderats Arkady Slochewskij und anderen der
Termin für den Moskauer Getreidegipfel vorläufig auf Juni 2009 festgelegt, was
angesichts der akuten Krise jedoch viel zu spät ist.
Nichts mehr auf Lager
Die derzeitige Unterproduktion bewirkt zudem, daß die
mächtigen Getreideverarbeitungs- und -handelskartelle noch mehr Einfluß darauf
bekommen, wer etwas zu essen bekommt und wer nicht. Hedgefonds und
Großspekulanten wie George Soros mischen dabei kräftig mit. Im Juni gab ein
Soros-Konsortium die Übernahme die Agrarmarketing-Abteilung des
Nahrungsmittelriesen ConAgra in Nordamerika bekannt.
Ein Lichtblick war in dem Zusammenhang am 10. Juli eine
Razzia in den italienischen Geschäftsstellen von Cargill Ltd. und Bunge Ltd.,
zwei der ganz Großen im globalen Getreidekartell. Fahnder der EU und
italienischer Behörden suchten nach Beweisen für Preisabsprachen bei
Getreideprodukten, vor allem für Durum- und Semolina-Hartweizenmehl für Pasta
sowie für andere Produkte wie Tierfutter. Cargill hat einen großen Anteil an
einem der führenden italienischen Mühlenbetriebe für Pastamehl, Grandi Molini
Italiani SpA.
In den letzten Jahren gingen von der jährlichen Produktion
von etwa 620 Mio. t Weizen zwischen 110 und 118 Mio. t in den Welthandel. Den
Großteil dieses Handels beherrschen in der Ära von GATT/WTO wenige ausgewählte
Kartelle wie Cargill, ADM, Bunge und Louis Dreyfus.
Die Hauptherkunftsländer des Weizens sind (entsprechend
ihres Exportvolumens 2007/08 in Mio. t, nach Angaben des USDA):
Vereinigte Staaten:
|
34,5
|
Kanada:
|
16,6
|
EU:
|
11
|
Argentinien:
|
10
|
Kasachstan:
|
8,5
|
Australien:
|
7
|
Die großen Weizeneinfuhrländer leiden immer mehr unter der
Krise. Die größten Importeure sind (entsprechend ihrer Einfuhrmenge in Mio. t
nach USDA-Angaben): Nordafrika (20,6 an Ägypten, Algerien, Marokko, Tunesien
und Libyen), Naher Osten (9,4 an Libanon, Israel, Jordanien, Saudi-Arabien,
Jemen, Kuwait, Irak, Iran, VAE, Oman), Südostasien (10 an Thailand, Vietnam,
Indonesien, Malaysia, Philippinen) und Brasilien (7).
Verzweiflungsmaßnahmen
Viele vom Weizenimport abhängige Nationen suchen angesichts
fehlender Initiativen zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nach
Notmaßnahmen zur Überwindung der Krise. Im folgenden seien nur einige Beispiele
genannt, welche Überlegungen in armen und reichen Weizeneinfuhrländern auf
allen Kontinenten angestellt werden.
In Bangladesch, das jährlich 2,5-3 Mio. t Getreide -
überwiegend Weizen - einführt, fand Mitte Juli in der Hauptstadt Dhaka ein
Seminar mit dem Titel „Globale Ernährungskrise: Ursachen, Folgen und politische
Optionen“ statt. Der Weltbank-Ökonom Dr. Hassan Zaman hielt die Hauptrede, und
obwohl die Freihandelspolitik der Weltbank den Kartellen gedient und der
Landwirtschaft geschadet hat, benannte er einige Aspekte der Krise durchaus
zutreffend: „Ein veränderter Landbau aufgrund zunehmender Verwendung von Mais
und Ölsaaten für Biotreibstoffe führte zu einem geringeren Anbau von Weizen,
einer anschließenden Abnahme der Weltweizenreserven auf Rekordtiefs und einem
Anziehen der Weizenpreise...“
In Jamaika hat der Landwirtschaftsminister ein
Programm zur Steigerung des Maniokanbaus als Alternative zu importiertem Weizen
eingeleitet.
In Kenia hat die Regierung die Weizeneinfuhrsteuer
von 35% auf 10% gesenkt und die 35%ige Importabgabe auf Mais ganz gestrichen.
Gleichzeitig wurde kein Mindestpreis für das Getreide kenianischer Bauern
festgesetzt. Ende Juni veranstalteten deshalb 2000 Bauern nahe der Stadt Narok
eine Protestversammlung und blockierten Lastwagen, die den geernteten Weizen von
den Feldern in die Lagerhäuser transportierten.
In Japan gibt es Pläne, die Eigenversorgung mit
Nahrungsmitteln von jetzt 45% auf über 50% anzuheben, wie
Landwirtschaftsminister Masatoshi Wakabayashi nach einem Treffen mit
Ministerpräsident Fukuda mitteilte. Erwogen werden Subventionen an die Bauern,
wenn diese nicht mehr Reis, der reichlich vorhanden ist, sondern vermehrt
Weizen und Soja anbauen.
Marcia Merry Baker
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