September 2006 Wirtschaft

Bahnwesen ist Gemeinwohlaufgabe

Von Rainer Apel

Die Bahnreform-Runde der Regierung (Ministerien für Verkehr, Wirtschaft und Finanzen) und der Verkehrsexperten der beiden Koalitionsfraktionen am 29. August endete mit der Empfehlung von CDU/CSU und SPD, den geplanten Börsengang der Bahn ohne Netz durchzuführen. Das ist eine persönliche Niederlage für Bahnchef Mehdorn, der Bahn und Infrastruktur zusammen an Privatinvestoren verkaufen wollte. Bis Ende Oktober sollen jetzt Details ausgearbeitet werden, wie der Börsengang vonstatten gehen soll.

Die Tatsache, daß die Fraktionen darauf bestehen, daß Gleise und die übrige Infrastruktur der Bahn im Bundesbesitz verbleiben, heißt, daß es auf absehbare Zeit keine Bundestagsmehrheit für den Versuch gibt, die Verantwortlichkeit des Bundes laut Art. 87e des Grundgesetzes ganz zu streichen. Eine vollständige Privatisierung der Bahn ist somit nicht möglich, der Bund kann also nur 49 Prozent der Deutschen Bahn an die Börse bringen. Allerdings, das muß dazugesagt werden, sind über 90 Prozent des Bundestags für die Privatisierung. In der Bevölkerung, unter den Bahnreisenden, die zu Recht fürchten, die Gewinnerwartungen künftiger Privateigner der Bahn über erhöhte Fahrkartenpreise finanzieren zu müssen, lehnen jedoch 72 Prozent die Privatisierung ab.

Englische Zustände

Vor allem Bundesbürger, die im Rahmen einer Englandreise selbst miterlebt haben, in welch schrecklichem Zustand das Bahnwesen auf der Insel nach zwölf Jahren Privatisierung ist, haben allen Grund, eine Privatisierung der Deutschen Bahn abzulehnen. Da fahren Uraltzüge auf wackeligen Gleisen, im Winter ohne Heizung, mit ramponierten Sitzen. Das Wildwuchergestrüpp der zahlreichen privaten Bahngesellschaften ist für den Reisenden oft unentwirrlich, oft funktionieren die Anschlüsse von Zügen einer Gesellschaft zu denen einer anderen nicht - was vor allem auf dem verkehrsmäßig ausgedünnten Lande unangenehm ist und zu Zwangsübernachtungen führen kann, weil die nächste Verbindung erst am nächsten Tag verfügbar ist.

Auch ist das "flexible" Preissystem für Bahnkarten für alle Reisenden, die nicht die Zeit haben, alle Preiskategorien durchzusuchen, undurchsichtig; es kommt dann in der Regel doch zum Kauf des teuren Standardtickets. Da erhöhte Preise allein nicht die von den Privateignern erhoffte Rendite erwirtschaften, wird Geld vor allem durch Einsparungen bei Personal, Wartung und Investitionen gemacht.

Nach mehr als 20 schweren und schwersten Unfällen und einer Vielzahl mittlerer und kleiner Unfälle übernahm die britische Regierung unter dem Druck breiter öffentlicher Empörung 2001 wieder die Kontrolle über das Gleisnetz. Da die Regierung aber wenig investiert, haben sich die Zustände nur in geringem Maße gebessert: zumindest die Zahl größerer Pannen und Unfälle ist gesunken. Wer längere Strecken per Bahn zurücklegen will, muß in England nach wie vor viel Zeit mitbringen.

Während gegen Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre eine Mehrheit der konservativen Wähler für die Privatisierung waren, ist die Stimmung mittlerweile umgekippt, so daß eine deutliche Mehrheit von über 80 Prozent der Bevölkerung heute für die Renationalisierung des Bahnwesens sind. Das ist ziemlich genau der Prozentsatz, den die Privatisierungsgegner in der Bundesbevölkerung haben. Die Leiden der englischen Reisenden aus zwölf Jahren Bahnprivatisierung kann man den Deutschen ersparen.

Deutsche Bahnpolitik

Ersparen sollen hätte man den Deutschen schon die bisherige Bahnreform, die seit 1994 unter dem ständigen Einspardruck gemäß des Mottos "fit für die Börse machen" gestanden hat. Die Neuinvestitionen der Bahn ins Netz sind fast auf die Hälfte gesenkt worden, das Gleisnetz und die Eisenbahnbrücken sind, so unabhängige Experten, in einem schlechten Zustand, dringliche Wartungen an Gleisen, Signalen und Brücken werden lange aufgeschoben. Züge können auf manchen Streckenabschnitten oft nur 30 bis 60 km/h fahren, aber das wird hinter "angepaßten" Fahrplänen kaschiert. Ob das Gleisnetz nun im Bundesbesitz bleibt oder in private Hände übergeht, macht da eigentlich wenig Unterschied, solange man in der Regierung am Einsparkurs festhält und die Zuschüsse (bis zu 12 Milliarden Euro jährlich) knapp hält.

Interessanterweise sieht es in Frankreich, wo eine Privatisierung nicht betrieben wird und Bahn und Infrastruktur lediglich in zwei staatlich gelenkte unabhängige Unternehmen getrennt wurden, nicht anders aus: Auch dort ist etwa die Hälfte des Gleisnetzes in einem so maroden Zustand, daß es in 10 oder 15 Jahren nicht mehr befahren werden könnte, so daß der Staat aus "Kostengründen" eingesparte Investitionen der letzten Jahre nun dringend nachholen muß. Selbst auf Prestigestrecken der TGV-Züge sind umfangreiche Erneuerungen in den kommenden Jahren nötig.

Die Empfehlung der Verkehrspolitiker von CDU/CSU und SPD, das Netz in der Bundesverantwortung zu belassen, ist eine Sache, mit der künftige Privateigner der Bahn leben könnten: Sie hätten mit der Kontrolle über das rollende Material und den Grundbesitz der Bahn die Mittel in der Hand, ihre kurzfristigen Gewinnpläne zu verfolgen, während der Bund für die Investitionen ins Netz, die auf langfristigen Nutzen abgestellt sind, sorgen müßte. Das wäre etwa der Status, in dem sich das englische Bahnwesen derzeit befindet, wenn auch die Deutsche Bahn wegen der Investitionen in neue Züge und Bahnhöfe (noch) in besserem materiellen Zustand ist. Der Hauptleidtragende auch einer "gemäßigten" Privatisierung wäre stets der Steuerzahler und der Bahnkunde.

Das Bahnwesen ist und bleibt eine vorrangige Aufgabe des Gemeinwohls, es ist einer der Kernbereiche, mit denen moderne Staaten wie Deutschland zusammengehalten werden. Wer nicht in die vorstaatliche Ära der privaten, oft sehr bald bankrotten Eisenbahnen des 19. Jh., die außerdem nur einem geringen Teil der Bevölkerung zugänglich waren, zurück will, muß auch gegen Teilprivatisierung sein. Was die große Mehrheit der Bundesbürger aus gutem Grund nicht will, sollte auch nicht der Wille der Mehrheit des Bundestages sein. Der Börsengang der Bahn gehört abgeblasen.