März 2006 Wirtschaft

Mit Maastricht nur immer weiter ins Chaos

Der jämmerliche Zustand, in dem die Europäische Union derzeit steckt, bestätigt die Kritiker, die - wie diese Zeitung - von Anfang an vor den katastrophalen Folgen des Maastrichter Systems für Europa gewarnt haben. Das monetaristische "Maastricht-Europa" - insbesondere das Zusammenspiel seiner verschiedenen Institutionen - funktioniert nicht. Gerade in den letzten Wochen machen sich geradezu chaotische Verhältnisse in der EU breit.

Nach der Ablehnung sowohl der Hafenrichtlinie wie des EU-Haushalts für 2007-2012 im Januar durch eine Zweidrittelmehrheit des Europaparlaments wurden von der EU-Kommission keine Anstrengungen gescheut, durch einige Konzessionen ein weiteres Debakel bei der Abstimmung über die "Dienstleistungsrichtlinie" (Bolkestein-Direktive) im Februar zu vermeiden. Der hierzu gefundene faule Kompromiß trifft aber nicht nur EU-weit bei der Linken ("zu wenig Kompromiß") und den Neokonservativen ("zu viel Kompromiß") auf Widerstand, sondern auch bei der Regierung Polens und weiterer zehn EU-Mitgliedstaaten vor allem im Osten, die der aus ihrer Sicht "verwässerten Richtlinie" nicht zustimmen wollen. Eine Zustimmung aller Regierungen in der EU ist aber notwendig.

Haben schon diese Themen dazu beigetragen, daß die Autorität der EU-Kommission ziemlich stark gelitten hat, so droht die Kommission nun wegen ihres panischen Versuchs, dies durch besonders scharfes Vorgehen gegen einige Mitgliedsländer wie Frankreich, Deutschland, Italien oder Spanien wieder wettzumachen, völlig gegen die Wand zu fahren: Auf der einen Seite will die Kommission die Entflechtung der großen nationalen Energiekonzerne aus Gründen des "Wettbewerbs auf dem europäischen Binnenmarkt" erheblich beschleunigen; auf der anderen Seite stellt sie sich wieder auf die Seite ebendieser Großunternehmen, um deren grenzüberschreitende Übernahmepläne in Europa vor dem Eingreifen nationaler Regierungen zu schützen.

Die deutsche E.on hatte ja vor, den spanischen Energiekonzern Endesa zu schlucken, aber die Regierung von Spanien blockierte das mit Hinweis auf das besondere Interesse an nationaler Kontrolle über den Energiesektor. Spanien beruft sich auf ein vor kurzem verabschiedetes Gesetz zur Abwehr von Übernahmen aus dem Ausland.

In Frankreich hat sich eine ähnliche Situation entwickelt, als die führende italienische Energiefirma Enel den zweitgrößten französischen Gaskonzern Suez übernehmen wollte und von der französischen Regierung, die ihrerseits Suez mit dem nationalen Branchenführer Gaz de France verschmelzen will, daran gehindert wurde.

Die EU-Kommission will die Regierungen Spaniens und Frankreichs wegen Verstoßes gegen die EU-Wettbewerbsregeln verklagen, aber in Madrid und Paris reagiert man allergisch gegen die Drohungen aus Brüssel. Selbst die Flut offenbar von der Kommission inspirierter Artikel in europäischen Zeitungen, in denen vor dem "neuen Nationalismus" und vor "Protektionismus" gewarnt wird, hat eher eine gegenteilige Wirkung. In Spanien und Frankreich geht man nur noch mehr auf Distanz zu Brüssel. In Italien meldete sich Vizepremier Giulio Tremonti empört über die Franzosen und über die relative Machtlosigkeit der Kommission mit der drastischen Warnung zu Wort, Europa drohe der Marsch in nationalistische Irrwege, ja ein "neues 1914".

Der Hinweis auf "1914" ist sicher reichlich überspitzt. Tremonti hätte besser darauf hinweisen sollen, daß die EU-Kommission als das Ausführungsorgan der supranationalen, synarchistischen Finanzoligarchie hinter "Maastricht-Europa" eine klare Absicht verfolgt: Man will keine "nationalen Champions", bei denen die nationalen Regierungen noch ein Wort mitzureden haben. Stattdessen will man rein private, EU-weite Kartelle außerhalb jeden Regierungseinflusses. Tremonti hätte auch besser seinen (2004 leider abgelehnten) Vorschlag für ein europäisches Investitionsprogramm in die Infrastruktur wieder hervorholen und in die Debatte einbringen sollen.

Tatsache ist, daß "Maastricht-Europa" die Realwirtschaft in seinen Mitgliedsstaaten nicht nur abwürgt, sondern die Bevölkerung der EU-Staaten zunehmend verarmen läßt - nirgends so sichtbar wie in Deutschland, wo das Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer seit 1992 und insbesondere seit Einführung des Euro im Januar 2002 beständig sinkt. Angesichts der Schrumpfung des verfügbaren Einkommens der Arbeitnehmer und der Steuereinnahmen der Staaten nimmt innerhalb "Maastricht-Europas" der Hang rasant zu, nur noch das eigene Hemd retten zu wollen und dafür die Nachbarn zu verprellen. Machtprobe in Polen Der weitaus härteste Schlagabtausch findet derzeit aber zwischen Brüssel und der polnischen Regierung statt, und dies auf gleich mehreren Feldern. Die Regierung in Warschau blockiert seit Wochen die Übernahme der Bank PEKAO durch die italienische Gruppe Unicredito/Hypovereinsbank, während die polnische Zentralbank unter ihrem notorisch neoliberalen Chef Balcerowicz die Übernahme befürwortet. Die Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) sieht sich in ihrer auch aus etlichen anderen Gründen gespeisten Haltung gegen die Zentralbank bekräftigt und will im Parlament einen Untersuchungsausschuß gegen Balcerowicz durchbringen. Thema des Ausschusses wären die "unpatriotischen" Aktivitäten der Zentralbank, die ihre Politik ausschließlich auf den freien Markt und den Monetarismus der Europäischen Zentralbank begründet.

Ministerpräsident Marcinkiewicz will das bisherige Monopol der Zentralbank bei der allgemeinen Finanzaufsicht durch eine neue Institution beseitigen, die der Regierung und dem Parlament gegenüber verantwortlich ist. Damit sollen auch unerwünschte Übernahmen als national wichtig eingestufter Wirtschaftsbereiche durch nichtpolnische Firmen oder Fonds verhindert werden. Im Gegenzug zitierte Balcerowicz den Finanzminister Cezary Merch vor eine Zentralbanksitzung mit der Begründung, dieser sei bezüglich der erwähnten Bankenfusion "zu einseitig ausgerichtet". Die Europäische Zentralbank ihrerseits schickte der polnischen Regierung eine Beschwerde wegen deren Angriffs auf die angebliche Unantastbarkeit der polnischen Zentralbank. EZB-Chef Trichet höchstpersönlich sprach von einem "sehr, sehr schwerwiegenden" Vorgang, der die "Unabhängigkeit" der polnischen Zentralbank bedrohe und das "Funktionieren" der EU gefährde.

In diese Konflikte spielt auch hinein, daß die polnische Regierung und die Mehrheit des Parlaments in Warschau deutlich gemacht haben, daß sie vorerst kein Interesse daran haben, den Euro als Währung zu übernehmen. Zwischen Brüssel und Warschau läuft im Augenblick fast nichts mehr. Wer meint, hier gehe es nur um "polnischen Nationalismus", der schaue nach Tschechien oder Ungarn.

Widerstand in Ungarn und Tschechien

Im laufenden ungarischen Wahlkampf sagte der frühere Ministerpräsident Viktor Orban, Spitzenkandidat der "liberalen" FIDESZ-Opposition: Wegen der sehr hohen Arbeitslosigkeit, dem Verfall des Gesundheitswesens und der sehr hohen Sterberate in Ungarn werde er bei seiner Wahl zum neuen Ministerpräsidenten einen "patriotischen Wirtschaftskurs" steuern. Es werde dabei weniger auf Maastrichter Haushaltsregeln und dafür mehr auf staatliche Investitionen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geachtet werden. Der jetzige Zustand, in dem immer mehr Ungarn mehrere Jobs brauchen, um den Lebensstandard einigermaßen zu halten, sei unwürdig und könne so nicht bleiben, findet Orban.

Auch der tschechische Präsident Vaclav Klaus nimmt bei seiner Kritik an den manischen Eingriffen der EU-Kommission in die nationale Politik der EU-Mitgliedstaaten kein Blatt vor den Mund. "Es sind Hunderte von Beschlüssen, die uns jeden Tag aus der EU-Zentrale erreichen... Diese Leute [in Brüssel] erlangen immer mehr Gewicht, während die Bedeutung nationaler Parlamente immer mehr abnimmt", sagte er dem Spiegel. Das erinnere ihn "an Breschnews Zeiten".

Da hat Klaus recht. So kann es nicht bleiben, denn "Maastricht" macht Europa kaputt. Jeder, der sehen will, sieht es auch - und man fängt an, es auch laut zu sagen. Die "alten" Kernstaaten der EU sollten das aufgreifen, was jetzt in Polen, Ungarn oder Tschechien gerade heraus gesagt wird, und zugleich die Debatte erweitern, mit dem Ziel, eine tragfähige Alternative zu Niedergang und Chaos à la "Maastricht" auszuarbeiten, die 2007 oder besser noch eher an dessen Stelle treten müßte. Und das betrifft zuallererst die Deutschen: Die Bundesregierung wird ihr groß angekündigtes "Konjunkturprogramm" gar nicht mehr in Gang bringen können, weil sie bereits jetzt, ohne daß bisher ein einziger Euro investiert wurde, sicherstellen will, daß ab 2007 die "Maastrichter Kriterien" wieder voll erfüllt werden.

Die Vorschläge der BüSo für ein neues Abkommen eines "Europas der souveränen Nationen" - Aufkündigung des Maastrichter Vertrages, Rückkehr zu nationalen Währungen bei Beibehaltung des Euro als Verrechnungseinheit und Auflegen eines umfassenden staatlichen Investitionsprogramms in Infrastruktur und Hochtechnologie - liegen in den Schubladen zahlreicher führender Politiker in Europa. Dort haben sie lange genug geschlummert, jetzt ist es an der Zeit, sie auf den Tisch zu legen und in die Diskussion zu bringen.

Rainer Apel