März 2005 Neues Bretton Woods

Neues Bretton Woods muß Realwirtschaft wieder in Gang setzen

Der Abgeordnete Mario Lettieri vom oppositionellen Mitte-Links-Bündnis "Margherita" begründete seinen Antrag für die "Einberufung einer neuen internationalen Konferenz für ein neues Währungs- und Finanzsystem" vor der italienischen Deputiertenkammer am 14. März mit der folgenden Rede.

Letztes Jahr war bekanntlich der [60.] Jahrestag der Gründung des Bretton-Woods-Systems im Jahre 1944, womit die Wirtschafts- und Finanzstruktur der Welt geplant wurde. Ungeachtet gewisser monetaristischer Vorstellungen war Bretton Woods in erster Linie als System zum wirtschaftlichen Wiederaufbau gedacht, wofür sich vor allem der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin Delano Roosevelt, einsetzte.

Das Ziel war die Entwicklung der Realwirtschaft der Nationen, die vom Geld- und Kreditwesen unterstützt und gefördert werden sollte. Leider kam es nicht dazu, wenigstens nicht immer: Seit Roosevelts Tod unterminierte die internationale Hochfinanz diesen Geist des Wachstums, der nicht nur den Kolonialismus überwinden, sondern auch Elend und Unterentwicklung der Länder der Dritten und Vierten Welt besiegen sollte.

Die Wirklichkeit ist leider eine ganz andere. Die Daten sind dramatisch, besonders wenn wir die Länder Afrikas und Asiens betrachten. Dort herrscht immer noch Krieg, Elend, Krankheit und Tod. Ich will Ihnen die Zahlen ersparen, sie sind in der Fachpresse wie in anderen Medien ausgiebig veröffentlicht.

1971 ordnete Nixon das Ende des Bretton Woods-Systems an, und das öffnete der Spekulation im großen Stil und großen Finanzblasen die Tür. In den letzten Jahren ist es sogar so weit gekommen, daß die Menschen glauben, Reichtum entstehe nicht mehr durch Arbeit, Industrie, Landwirtschaft und die Anwendung wissenschaftlicher und technischer Forschung auf produktive Wirtschaftsbereiche, sondern durch Börsen und Banken. Meiner Meinung nach haben wir es mit einem echten Fall von Massenwahn zu tun, den man auf internationaler Ebene heilen muß.

Inzwischen beginnt das Nachdenken über diese Frage, und das nicht nur in unserem Land. Ich denke vor allem an den wichtigen Ökonomen und demokratischen Politiker Lyndon LaRouche in den Vereinigten Staaten von Amerika, der eine internationale Kampagne anführt; sie nennt sich "Für ein neues Bretton Woods - die Alternative zum weltweiten Finanzkrach: große eurasische Infrastrukturprojekte". Ein Neues Bretton Woods muß also auf ein System abzielen, das die Entwicklung der Realwirtschaft der Nationen wieder in Gang setzt und dadurch insbesondere den Rückstand der Entwicklungsländer verkleinert. Dafür ist das Kreditsystem wesentlich; man muß langfristige Kredite zu niedrigen Zinsen vergeben, um große Projekte, Infrastrukturnetze und produktive Investitionen in Forschung, Bildung und Gesundheit zu fördern. Dies ist das Szenario, von dem der vor einem Jahr eingebrachte Antrag ausgeht.

Aber ein Jahr später finden wir nicht nur bestätigt, was wir geschrieben hatten und was ich in meinem ersten Antrag darstellte, wir müssen leider auch beobachten, daß die systemische Finanzkrise in immer schwerwiegenderer und negativerer Weise Schocks auf den Märkten auslöst, mit immer schwereren und weniger kontrollierbaren Folgen, die offensichtlich weit über Italien hinausgehen.

Ausmaß und Wachstum der Derivate

Die Kluft zwischen der Realwirtschaft und der Wirtschaft, die auf Finanzspekulation beruht, hat fast unvorstellbare Ausmaße. Neben den Gesamtzahlen ist das exponentielle Wachstum dieser Werte ein weiterer Grund zur Sorge. In dem Antrag zitieren wir den offiziellen Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) - der berühmten "Zentralbank der Zentralbanken" - mit dem Titel "OTC-(außerbörsliche)-Derivatmarktaktivitäten im ersten Halbjahr 2003". Das sind diejenigen Geschäfte, die außerhalb der offiziellen Märkte ausgehandelt werden und deshalb nicht registriert sind. In diesem Bericht vom 12. November 2003 werden die folgenden Nennwerte für OTC-Derivate angegeben - der Gesamtstand der offenen Verträge in Milliarden Dollar: Juni 2002: 127 500, Dezember 2002: 141 700, Juni 2003: 169 700 - also ein Anstieg um 42 Bio.$ in nur zwölf Monaten!

Der jüngste verfügbare Bericht der BIZ über Derivate Ende Dezember 2004 bringt das Gesamtvolumen der offenen Verträge Ende Juni auf über 220 000 Mrd.$, ein gewaltiger, erschreckender Betrag, der einen Anstieg um weitere 50 000 Milliarden in zwölf Monaten belegt!

Es ist wichtig zu betonen, daß sich die OTC-Derivate Ende Juni 2001 den offiziellen Berichten der BIZ zufolge auf 100 000 Mrd.$ beliefen. Innerhalb von drei Jahren gab es also einen Anstieg um 120 000 Mrd.$, das entspricht dem Dreifachen des BIP der Welt!

Wer jetzt sagt, Derivate seien einfach nur Operationen zur Absicherung von Risiken, ist mit Sicherheit auf dem Holzweg: Derivate sind das größte Risiko für das ganze Finanzsystem, und für Italien selbst, im Umfang beschränkt, enthüllte kürzlich eine Untersuchung des Finanzausschusses, daß in den letzten Jahren etwa 100 000 kleine und mittlere Unternehmen Opfer der Derivatmärkte geworden sind, ganz zu schweigen von gewissen kommunalen Einrichtungen - aber darüber zu diskutieren werden wir Zeit haben, wenn der Ausschuß seine Ermittlungen abgeschlossen hat.

Im April 2004 war es wiederum die BIZ, die Daten sammelte, welche ihr 52 Zentralbanken zur Verfügung stellten, und das Ergebnis einer dreijährigen Untersuchung der Devisen- und Derivatmärkte durch die Zentralbanken veröffentlichte. Hier ist das offizielle Ergebnis und die Veränderung innerhalb von drei Jahren: Das tägliche Volumen der Devisenmärkte wuchs um 57% auf 1800 Mrd.$, das tägliche Volumen der (nicht gemeldeten) OTC-Finanztransaktionen wuchs um 112% auf 1200 Mrd.$.

Der wichtigste Markt ist natürlich London, er ist doppelt so groß wie der amerikanische. Die BIZ erklärte, sie sei ziemlich besorgt, weil die spekulativen Fonds, die sog. Hedgefonds, bei diesen Operationen immer wichtiger werden, so sehr, daß bei 43% der Geschäfte keine Bank, sondern ein Hedgefonds oder eine Versicherung als Vertragspartner beteiligt ist. Das ist Grund zur Sorge, weil Banken, auch wenn man sie kritisieren kann und sie transparenter werden müssen, anders als diese Fonds immer noch ein Mindestmaß an Sicherheiten bieten.

Ein weiterer Bericht der BIZ vom 8. März 2004 zeigt, daß der Gesamtumsatz 2003 auf 874 000 Mrd. gewachsen ist - ein Anstieg um 26% gegenüber dem Vorjahr.

Abhilfe gegen Spekulationsblasen

Mir ist klar, daß es eine bestimmte Wirkung hat, wenn man mich über alle diese Tausende von Milliarden reden hört - es führt wahrscheinlich dazu, daß die Menschen die Bedeutung dieser wahrhaft enormen Summen gar nicht richtig einordnen können. Aber dies sind die Zahlen, über die wir alle, und insbesondere die Währungsbehörden und Regierungen, nachdenken sollten.

Man denke daran, was mit bestimmten Großbanken geschehen ist. So vergrößerte z.B. allein Morgan Chase ihre Derivatanlagen um rund 10 000 Mrd.$, das ist beinahe der Umfang des amerikanischen BIP. Der Gesamtwert der ausstehenden Derivate ist größer als das BIP der Welt. Die Lage ist also die: Wenn es zu Krisen käme, die zu einem Finanzkrach führen, dann gäbe es einen weltweiten finanziellen Zusammenbruch mit verheerenden Folgen für Wirtschaft, Wohlstand und Leben vieler Länder. Man kann also sehen, daß die Analysen, die ich eben zitiert habe, in Wirklichkeit dazu dienen sollen, die wahre Gefahr zu verharmlosen, wenn sie das Nettorisiko aller dieser Geschäfte mit nur 804 Mrd.$ angeben.

Ich möchte keine weiteren Statistiken zitieren, sie sind alle in den offiziellen Schriften einzelner Banken und auch der Zentralbanken wiedergegeben. Der eingebrachte Antrag, den ich und etwa 50 Kollegen aus allen Fraktionen unterzeichnet haben, zielt im Kern darauf ab, unsere Regierung zu verpflichten, auf internationaler Ebene zu handeln, damit eine neue Phase eingeleitet wird - sozusagen ein Neues Bretton Woods, das vor allem darauf abzielt, Wirtschaftswachstum und produktive Wirtschaftstätigkeit wieder in Gang zu setzen, die Armut in den Ländern, die immer noch unter ihr leiden, zu besiegen und allen Staaten wirtschaftliche Stabilität zu garantieren; denn sonst besteht mit der "Finanzialisierung" der Wirtschaft wirklich das Risiko, daß Nationen in Armut stürzen, die Lebensbedingungen sich verschlechtern und die Bürger der Dritten Welt offensichtlich zu noch mehr Armut und Not verurteilt werden.

Denken Sie an die Vorfälle, von denen etwa eine Million italienische Kleinanleger drastisch betroffen waren - ich meine Parmalat, Cirio, Giacomelli und die Vorgänge um die Banca 121 und die Besitzer argentinischer Staatsanleihen. Die Tatsache, daß ein souveräner Staat wie Argentinien die Zahlungsunfähigkeit erklärt hat, sagt viel darüber aus, was vor sich geht. Wieviele andere Länder sind noch in dieser Gefahr? Das ist eine Frage, die uns beunruhigen und Sorge bereiten sollte. Wir sind keine glückliche, einsame Insel, und Europa und der Westen müssen Abhilfe gegen die Politik der Spekulation und Spekulationsblasen schaffen, die sich ständig wiederholen und am Ende mit Sicherheit die Realwirtschaft schädigen.

Krieg gegen die Armut

Deshalb kann ein Neues Bretton Woods nicht anders als mit einem Arbeitstreffen der Regierungen der entwickeltsten Nationen beginnen. Nicht nur die G-8-Staaten, es wäre angemessen, diese Diskussion auch anderen zu öffnen. Dazu ist zu erwähnen, daß wichtige Länder wie China und Indien machtvoll auf der internationalen Bühne aufgetreten sind und etwas zu diesem Thema und zu Fragen des Handels zu sagen haben werden.

Auch wenn es bei diesem Problem darum geht, die Regeln des globalen Marktes zu überprüfen, sind Zölle sicherlich nicht notwendig. Ich finde es absurd, daß ein Minister dieser Regierung die Einführung von Zöllen vorgeschlagen hat: das bedeutet, daß er sicherlich nicht in dieser Welt lebt. In einer globalisierten Wirtschaft wie der heutigen brauchen wir keine Zölle, sondern klare Regeln, die für die Nationen und die wirtschaftlichen Teilnehmer verbindlich sind.

Ein Neues Bretton Woods sollte also dazu dienen, das ganze System nach den Regeln eines Konkursverfahrens zu reorganisieren, damit produktive Aktivitäten gegenüber spekulativen bevorzugt werden. Dazu sollte gehören, daß man Regeln für die internationalen Geldbewegungen und Kontrollen der Handelsströme einführt. Auch Steuern auf Einkommen aus reinen Geldgeschäften sollten dazugehören. Zu diesem Punkt möchte ich Sie daran erinnern, daß der Finanzausschuß über mehrere Vorschläge diskutiert, die darauf abzielen, eine Art Tobin-Steuer einzuführen. Die Besteuerung reiner Geldgeschäfte ist also ein Weg, den wir beschreiten müssen, um dieses Phänomen zu begrenzen und zu regulieren. Schließlich sollten zur Reorganisation verschiedene steuerliche Anreize zu Investitionen in Produktivität und Technologie gehören, insbesondere für mittel- und langfristige Investitionen. Man muß ein neues Bank- und Geldwesen schaffen, damit das System Entwicklung statt Spekulation fördert. Auch die italienische Regierung muß tätig werden, wenn eine solche Konferenz auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs ähnlich der von 1944 einberufen werden soll.

Leider herrscht heute in einigen Teilen der Welt immer noch Krieg, und dies schafft eine ernste Lage, die zu den Vorgaben der italienischen Verfassung im Widerspruch steht; dort wird festgehalten, daß Italien Kriege ablehnt. Ich will hier nicht gegen die Anwesenheit unserer Streitkräfte im Irak polemisieren; darüber haben wir erst kürzlich diskutiert, deshalb will ich Ihnen meine Überlegungen zu meiner entschiedenen Ablehnung in dieser Frage ersparen. Zur Zeit von Bretton Woods kamen wir aus einem Krieg. Heute haben wir die Pflicht, mit der gleichen Entschlossenheit einen anderen Krieg zu führen: einen Krieg gegen Armut und Elend in so vielen Teilen der Welt, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent und in Asien, um eine bessere Koexistenz zwischen den Völkern der Welt zu erreichen und das Recht auf angemessene Lebensqualität für alle zu sichern.

Das ist der Geist unseres Antrags. Es besteht das Risiko eines weltweiten Systemzusammenbruchs im Finanzsektor, dessen Auswirkungen schlimmer sein könnten als die nach der Depression 1929-33. Ich glaube, wir dürfen keine Zeit verlieren, und ich hoffe, daß der zur Debatte stehende Antrag, den auch Kollegen aus politischen Gruppen aus der parlamentarischen Mehrheit unterzeichnet haben, uns nicht getrennt findet - denn es geht dabei nicht um ideologische Fragen! - , sondern daß er uns darin eint, die Regierung zu verpflichten, Schritte in der angegebenen Richtung zu ergreifen, in dem Bewußtsein, daß es die richtige Richtung ist!



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