August 2005 Wirtschaft

Zurück zur D-Mark für eine zielgerechte Wachstumspolitik!

In Deutschland muß die Wirtschaft wieder wachsen!
Für eine neue gerechte Weltwirtschaftsordnung!

Von Helga Zepp-LaRouche, Vorsitzende des Schiller-Instituts,
Kanzlerkandidatin der Bürgerrechtsbewegung Solidarität

Liebe Wähler!

Deutschland befindet sich in einer existentiellen Krise. Wir haben nicht fünf, sondern in Wirklichkeit eher neun Millionen Arbeitslose, und den Langzeitarbeitslosen und ihren Familien droht der Absturz in die Armut. Im Osten Deutschlands gibt es immer weniger Arbeitsplätze und demzufolge kaum noch junge Leute. Aber auch im Westen kämpfen viele mittelständische Betriebe gegen wettbewerbsverzerrende Bedingungen, von Basel II bis zur Billigproduktion in den neuen EU-Mitgliedstaaten. Die Binnenwirtschaft kollabiert immer mehr. Die Menschen haben das Gefühl, daß es niemanden gibt, der sich um sie kümmert. Das politische Establishment und die Manager der Wirtschaft haben das Vertrauen der Bevölkerung so gut wie vollkommen verspielt, weil sie nachhaltig den Eindruck erwecken, daß es ihnen nur um den eigenen Vorteil, aber nicht um das Gemeinwohl geht.

Es muß sich etwas Grundsätzliches in Deutschland ändern. Wir brauchen eine völlig andere Politik, die sich ausschließlich am Gemeinwohl orientiert, die den Menschen und nicht das Geld in den Mittelpunkt der Politik stellt. Deshalb bitte ich Sie, meine Kanzlerkandidatur und den Wahlkampf der BüSo aktiv zu unterstützen.

Solange Deutschland im System des Maastrichter Vertrages, des Stabilitätspakts und des Euro bleibt, gibt es keine Rettung, sondern nur eine massive Verschärfung der Krise bis hin zum Chaos. Denn diese Verträge berauben uns der Möglichkeit, wirksame Maßnahmen zur Überwindung der Krise zu ergreifen, weil wir damit die Rechtshoheit für den Bereich der Wirtschaft und Finanzen an die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank abgegeben haben. Diese Verträge verbieten genau die Schritte, die die Überwindung der Krise ermöglichen.

Deshalb muß Deutschland - und das ist das Programm, für das ich stehe - sofort einseitig den Maastrichter Vertrag und die Europäische Währungsunion aufkündigen und zur D-Mark als nationaler Währung zurückkehren, um eine wohldefinierte Wachstumspolitik verwirklichen zu können. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 muß aktiviert werden, um den "Zustand des gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts", der angesichts der Arbeitslosenzahl von rund neun Millionen zweifellos gegeben ist, durch ein staatliches Investitionsprogramm für produktive Vollbeschäftigung zu überwinden. Der Euro soll in Zukunft lediglich als Verrechnungseinheit genutzt werden - wie der ECU im Europäischen Währungssystem vor 1992.

Völkerrechtlich ist ein solcher Austritt aus den Verträgen von Maastricht und Amsterdam gerechtfertigt, weil die Geschäftsgrundlage, daß sie dem Nutzen Deutschlands dienen müssen, nicht gegeben ist. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die Verträge ruinieren Deutschland.

Eine solche souveräne Rückkehr zur Währungshoheit der D-Mark muß Teil eines ganzen Maßnahmenpakets sein, die ich im folgenden erläutern werde.

Die globale Systemkrise überwinden durch ein "Neues Bretton Woods"!

Der wichtigste Punkt, der von keiner der im Bundestag vertretenen Parteien - und auch nicht von der sogenannten neuen Linkspartei - angesprochen wird, ist die Tatsache, daß das mit der Globalisierung verbundene System der freien Marktwirtschaft hoffnungslos bankrott ist und sich in der Endphase seines systemischen Kollapses befindet. Der Niedergang des amerikanischen Automobilsektors, die dadurch ausgelösten Hedgefonds-Verluste und der unmittelbar bevorstehende Einbruch der globalen Immobilienmärkte sind nur einige der dramatischsten Aspekte dieser Systemkrise, die sich sehr bald in einem Superkrach entladen kann. Dies wird die Frage auf die Tagesordnung bringen, welches Instrumentarium die Regierung zur Verfügung hat, um die Interessen der Bevölkerung und des Gemeinwohls zu verteidigen. "Die Bevölkerung zuerst, und dann erst die Banken!" So, und nicht umgekehrt, muß die Devise lauten.

Eine Lösung für die globale Wirtschafts- und Finanzkrise kann es natürlich nur geben, wenn - möglichst unter der Mitwirkung einer überparteilichen Allianz im amerikanischen Kongreß - eine internationale Reorganisation des Weltfinanzsystems durchgeführt wird. In beiden amerikanischen Kongreßkammern, im Repräsentantenhaus und Senat, findet vor allem bei den Demokraten derzeit eine intensive Debatte darüber statt, daß man zu Franklin D. Roosevelt, zum New Deal und zum Währungssystem von Bretton Woods zurückzukehren müsse. Eine Gruppe moderater Republikaner sieht durchaus die existentielle Notwendigkeit, die amerikanischen Industriekapazitäten nicht nur des Automobilsektors durch eine solche Politik zu verteidigen. Die fortlaufenden Untersuchungen über die Lügen, die vor dem Irakkrieg systematisch verbreitet wurden, um den Kongreß zur Zustimmung zu diesem Krieg zu übertölpeln, haben längst Watergate-Wolken über Washington aufziehen lassen. Das könnte eine baldige Verbesserung in der amerikanischen Politik bewirken.

In jedem Fall wird es sehr bald - möglicherweise sogar noch vor dem geplanten Wahltermin am 18. September, auf keinen Fall aber sehr lange danach - zu einer so zugespitzten Krise des Weltfinanzsystems kommen, daß umgehend eine Notkonferenz einberufen werden muß. Dann müssen führende Nationen der Welt - hoffentlich ausgehend von einer positiven Initiative der USA - ein Neues Bretton Woods-System beschließen, das sich an den besten Aspekten des Bretton Woods-Systems von 1944 orientiert, aber darüber hinaus bei der Festlegung des Wertes der Währungen wissenschaftliche Kriterien der physischen Ökonomie zugrundelegt.

Die vollkommen aus dem Ruder gelaufene Derivatspekulation, über die gegenwärtig weder eine Regierung noch eine Zentralbank irgendeinen Überblick oder irgendeine Kontrolle hat, muß im wesentlichen durch Abkommen zwischen den Regierungen abgeschafft werden. Sie nur durch eine Tobin-Steuer oder ähnliches zu besteuern, würde das Problem der Finanzblasenwirtschaft nur fortsetzen. Es muß eine weitgehende Reorganisation der Schulden erfolgen, von denen der größte Teil ohnehin niemals bezahlt werden kann. Dabei müssen kurzfristige Schulden mit hohen Zinsraten in langfristige Kredite mit niedrigen Zinsen verwandelt und einige Kategorien illegitimer Schulden ganz gestrichen werden. Es müssen sofort wieder feste Wechselkurse beschlossen werden, da Spekulation gegen Währungen keinerlei Berechtigung hat und kriminellerweise Volksvermögen zerstört. Langfristige Investitionen auf internationaler Ebene z.B. in Infrastruktur sind ohne feste Wechselkurse nicht möglich.

Das Recht auf Kreditschöpfung, das sich jetzt in der Hand von Privatinteressen befindet, muß unter die souveräne Kontrolle der Regierungen und Parlamente gebracht werden, weil es nur so eine Rechenschaftspflicht geben kann. Da die Europäische Zentralbank nur eine Tochter der nationalen Zentralbanken ist, und diese ja noch fortbestehen, ist eine Rückführung der Währungshoheit unter die Kontrolle der souveränen Regierungen kein Problem. Die Nationalbanken müssen dann neue Kreditlinien ausgeben, um zielgerichtete Investitionen in Bereiche des Gemeinwohls zu ermöglichen, mit denen ein realer Kapitalwert geschaffen wird, und die deshalb nicht inflationär wirken. Für binnenwirtschaftliche Investitionen kann dabei auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) nach dem Vorbild des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt werden.

In einer ersten Annäherung müssen dabei jährlich in Deutschland zunächst rund 400 Milliarden D-Mark an produktiven Krediten zur Verfügung gestellt werden, um so schnell wie möglich zu einer produktiven Vollbeschäftigung zu gelangen. In den anderen Nationen sollten an deren Bedingungen angepaßte Kredite für ebenfalls wohldefinierte Projekte bereitgestellt werden. Dabei müssen in den USA schätzungsweise jährlich 1000 Milliarden Dollar für produktive Investitionen durch die Nationalbank und in Europa vergleichbare Kredite vom Gegenwert von rund 1000 Milliarden Euro ausgegeben werden. Es handelt sich hier um grundsätzlich die gleiche Politik, die Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal verwirklichte, mit dem er Amerika aus der tiefen Depression der dreißiger Jahre herausführte und in die führende Industrienation der Welt verwandelte.

Wie kam es überhaupt zur Europäischen Währungsunion?

Auch wenn sich einige Regierungsvertreter weigern, dies zur Kenntnis zu nehmen: Eigentlich ist mit dem Nein der Franzosen und Niederländer beim Referendum zum Europäischen Verfassungsvertrag auch der Europäischen Währungsunion der Boden entzogen. Trotzdem halten sie noch am Ratifizierungsprozeß fest. Die vor der politischen Union Europas vorgezogene Währungsunion hat sich als genauso problematisch erwiesen, wie es Ende 1989 auch Helmut Kohl eingeschätzt hatte. Jetzt drängen die zehn neuen osteuropäischen EU-Mitglieder darauf, auch Mitglied der Eurozone zu werden, was die Verzerrung der Rahmenbedingungen der Mitgliedsländer für die sogenannten Hochlohnländer noch unerträglicher machen würde. Selbst das EU-Establishment realisiert dieser Tage, daß die übereilte Europäische Währungsunion eine Sackgasse war, und die Aufnahme von zehn weiteren Mitgliedern in die Eurozone die Streitigkeiten nur noch viel schlimmer machen würde.

Erinnern wir uns kurz, wie es überhaupt zum Euro gekommen war. Nach dem Fall der Mauer 1989 war die Regierung Kohl nach eigenen Aussagen von der Perspektive der unmittelbaren Wiedervereinigung überrascht, weil sie kein brauchbares Konzept für diese Eventualität vorbereitet hatte. In seinem Zehn-Punkte-Programm schlug Kohl am 28. November in einer Rede im Bundestag eine Konföderation - noch keine Wiedervereinigung - zwischen den beiden deutschen Staaten vor. Aber die Reaktion der meisten Verbündeten war offene bis verstecke Ablehnung. Margaret Thatcher versuchte, sogar eine solche Lösung - vor allen Dingen aber eine Wiedervereinigung Deutschlands - mit allen Mitteln zu verhindern und lancierte die "Viertes-Reich-Kampagne". D.h. sie erhob den absurden Vorwurf, Deutschland strebe erneut die Vorherrschaft über Europa an.

Mitterrand knüpfte ultimativ die Zustimmung Frankreichs zur Konföderation - also ebenfalls noch nicht einmal zur Wiedervereinigung - an die Zustimmung Kohls zur vorgezogenen Europäischen Währungsunion und zur Aufgabe der harten D-Mark. Bush sen. war ursprünglich auch nicht für eine Konföderation oder die Wiedervereinigung, wurde dann aber von seinen Beratern überzeugt, daß die USA jeglichen Einfluß in Europa verlören, wenn sie eine offene Politik gegen die Wiedervereinigung verfolgten. Und so unterstützte die Regierung Bush sen. eine Politik der "Eindämmung Deutschlands durch Selbsteindämmung", d.h. eine Politik, mit der Deutschland seine Souveränität an supranationale europäische Institutionen abgab, wie es im Maastrichter und Amsterdamer Vertrag festgelegt wurde.

Mitterrand insistierte, daß Kohl der Währungsunion schon beim Straßburger Gipfel des Europäischen Rates am 8.-9. Dezember 1989 zustimmte, also schon einen Monat nach dem Fall der Mauer. Kohls Bedenken, welche Auswirkungen die Europäische Währungsunion auf die Stabilität der Wirtschaft haben werde, qualifizierte Mitterrand als "Allgemeinplätze" ab. Unter dem Druck der Umstände - er sprach später davon, er habe in Straßburg "mit die dunkelsten Stunden" seines Lebens durchgemacht - stimmte Kohl der Währungsunion zum von Mitterrand gewünschten Datum zu.

Ich selber schlug bereits im November 1989 in einem Flugblatt mit dem Titel "Weiter so, geliebtes Deutschland" ein ganz anderes Programm vor, das dann im Januar 1990 als Programm des "Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien", als Wirtschaftsaufbauprogramm für die späteren neuen Bundesländer und Osteuropa auf dem Tisch lag. Wäre dieses Programm verwirklicht worden, hätte das wiedervereinte Deutschland als Kernstück der zusammenhängenden Wirtschaftsregion Paris-Berlin-Wien zum Motor einer wirklichen Entwicklung des Ostens werden können. Die Ermordung Alfred Herrhausens, der für die Entwicklung Polens ein ganz ähnliches Konzept vorlegte, und die Ermordung Rohwedders zwei Jahre später sollten stattdessen die Weichen für den wirtschaftlichen Kahlschlag des Ostens stellen.

Warum funktioniert Europa so nicht?

Durch die Verträge von Maastricht (Währungsunion) und Amsterdam (Stabilitätspakt) hat Deutschland verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte und die Souveränität über die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik abgegeben. Und solange Deutschland in diese Verträge eingebunden ist, kann die Regierung absolut nichts tun, um die sozialen Auswirkungen der Globalisierung, aber auch des Euro zu beheben. Ja, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Euro, den gestiegenen Preisen, der Arbeitslosigkeit und der Krise des Sozialsystems. Vor der Einführung des Euro strömte ausländisches Investitivkapital nach Deutschland, obwohl es ein Land mit hohen Löhnen, hohen Sozialabgaben und hohen Steuern war. Die Gründe dafür waren die stabile harte D-Mark und die hohe Standortattraktivität aufgrund der hohen Produktivität von Produktionsanlagen und Arbeitskräften. Deshalb war Deutschland attraktiver als Länder mit niedrigeren Kosten, aber höherem Währungsrisiko, schlechter ausgebildeten Arbeitskräften und geringerer Infrastruktur.

Nach der Einführung des Euro verarmte Deutschland ebenso wie andere europäische Hochlohnländer, weil vor allem das Großkapital in sogenannte Billigproduktionsländer abwanderte, die im übrigen deshalb billig sind, weil die Bevölkerung dort arm ist, geringe Löhne erhält und die Sozialversorgung niedrig ist. Unter diesen Bedingungen werden die hohen Lohn- und Sozialkosten in Deutschland jetzt zum Nachteil. Selbst mittelständische Unternehmen sehen sich zur Verlagerung der Produktion in diese Länder genötigt und müssen hochqualifizierte Arbeitskräfte bei uns entlassen. Gleichzeitig bewirken Arbeitskräfte, die aus den Billigproduktionsländern dahin strömen, wo es - bis jetzt noch - höhere Löhne gibt, ein Lohndumping in den Hochlohnländern, das die Tarifverträge untergräbt.

Die vermeintlichen Vorteile, welche die bisher ärmeren Länder, wie z.B. Griechenland, Irland, oder Spanien durch den Euro erreicht haben, stellen sich zum großen Teil als inflationäre Finanzblasen - siehe u.a. der Immobiliensektor in Spanien - heraus, ein Prozeß, der durch die einheitliche Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) noch verstärkt wird. Inflation in den Nachholländern und Deflation in den Hochlohnländern ist die Folge - einmal ganz davon abgesehen, daß ganz Europa nicht funktionieren kann, wenn die deutsche Wirtschaft in die Depression abstürzt.

In Deutschland sei viel zu wenig über die Konsequenzen der Europäischen Währungsunion für die deutsche Wirtschaft diskutiert worden, schrieb der schwedische neoliberale Ökonom Lars Calmfors vor einem Jahr in der deutschen Ausgabe der Financial Times. Seine Schlußfolgerung aus diesem unbestreitbaren Tatbestand war allerdings nicht, daß die deutsche Wirtschaft ein System abschaffen muß, das sie ruiniert, sondern daß die deutsche Wirtschaft sich diesem System noch stärker unterwerfen solle. Konkret schlug er eine sogenannte "interne Abwertung" vor, also eine Absenkung der Reallöhne durch Erhöhung der Mehrwertsteuer und Verlagerung der Sozialabgaben auf die Lohnempfänger. Klingt das nicht genau wie das neue Wahlprogramm von Frau Merkel?

Das sogenannte "skandinavische Modell", das jetzt u.a. von der CDU/CSU vorgeschlagen wird, ist nichts anderes als die Verabreichung von Essigessenz mit ein wenig Süßstoff, damit die Opfer das Saure nicht so merkeln. Von wirtschaftlichem Verstand zeugt dieser Vorschlag nicht. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist nicht mangelnde Konkurrenzfähigkeit, wie die Wachstumsraten beim Export zeigen. Aber die Binnenwirtschaft kollabiert, was bei drastischer Senkung der Kaufkraft durch Reallohnsenkung noch viel schlimmer würde.

Feudalismus oder Gemeinwohl?

Es gibt derzeit in Deutschland einen ganzen Chor von Forderungen, die Rolle des Staates zu beschneiden oder abzuschaffen. Das reicht von der "Föderalismusreform", wie die CDU/CSU sie fordert, über die allgemeine "Verschlankung" des Staates bis hin zur weitreichenden Privatisierung, wie die Liberalen sie wollen. Und dann gibt es noch die Radikalangriffe auf den Sozialstaat und das Grundgesetz von Konservativrevolutionären wie Meinhard Miegel, Arnulf Baring oder Hans Tietmeyer, die alle nur Varianten derselben Politik propagieren. Wenn man von den Etiketten einmal absieht und den Inhalt der Packung betrachtet, dann verbirgt sich hinter den exzessiven Forderungen nach Privatisierung und Reduzierung der Rolle des Staates in Wirklichkeit die Forderung einer Rückkehr zum Feudalismus, bei dem auch alles "privatisiert" war.

Bis zur Herausbildung des modernen souveränen Nationalstaates im 15. Jahrhundert lagen alle Privilegien bei "privaten" Interessen der Adelsschicht, deren Herrschaftsanspruch gerade darauf basierte, daß die Masse der Bevölkerung in relativer Unfreiheit, Armut und Rückständigkeit gehalten wurde. Dieses oligarchische System gründete sich darauf, daß nur der Adel angeblich gottgegebene Rechte hatte, während die Masse der Bevölkerung keinen größeren Wert besaß als menschliches Vieh, dessen Anzahl zur Not auch reduziert werden konnte, wenn es den Herrschenden so gefiel. Erst mit der italienischen Renaissance, den Schriften von Nikolaus von Kues und der Regierung Ludwigs XI. in Frankreich setzte sich die Vorstellung durch, daß eine Regierung nur dann legitim ist, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Diese Orientierung am Gemeinwohl drückte sich dadurch aus, daß die Regierung durch die Förderung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts und eine bessere Bildung der Bevölkerung den Lebensstandard anhob. Gleichzeitig begann sich auch das repräsentative republikanische System durchzusetzen, das dem Einzelnen zum ersten Mal die Teilnahme an der Regierung ermöglichte. Die Regierung und die gewählten Volksvertreter waren nunmehr den Bürgern Rechenschaft schuldig.

Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die die unveräußerlichen Menschenrechte aller Menschen zum ersten Mal im Kontext des Kampfes um eine Verfassung proklamierte, und der amerikanischen Verfassung selbst, errang dieses Prinzip den ersten wirklichen Durchbruch. Die Unabhängigkeitserklärung und die Präambel der amerikanischen Verfassung begründen ganz eindeutig, daß eine Regierung nur dann Legitimität besitzt, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Es ist dort zudem sehr klar niedergelegt, daß die Bevölkerung das Recht auf Widerstand hat, wenn eine Regierung oder andere Kräfte versuchen, das Gemeinwohl auszuhebeln.

Mit der amerikanischen Verfassung wurde auch das souveräne Recht der Regierung auf die Währungshoheit und die Kontrolle über die Kreditschöpfung erkämpft, die der erste amerikanische Finanzminister, Alexander Hamilton dann in der Form einer Nationalbank umsetzte. Damit waren eine Wirtschafts- und Kreditpolitik möglich, die sich am Konzept der physischen Ökonomie orientierte, wie sie von Gottfried Wilhelm Leibniz zum ersten Mal definiert wurde. Der deutsche Ökonom Friedrich List, der Mitbegründer des Zollvereins, lebte mehrere Jahre in Amerika und gab diesem am Gemeinwohl orientierten System den Namen "Amerikanisches System", das er vom "Englischen System" des Freihandels grundsätzlich unterschied.

Es ist diese auf die Renaissance, auf Leibniz und die amerikanische Revolution zurückgehende Tradition, die den Menschen und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Politik und des Staatswesens stellt, die zum Glück auch in unserem deutschen Grundgesetz, und vor allem im Artikel 20, ausgedrückt ist. Im Artikel 20, Absatz 1 heißt es: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Und Absatz 4 lautet: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Um diesen Sozialstaat, so wie er sich in Deutschland seit den Sozialgesetzen Bismarcks entwickelt hat, geht es. Ihn müssen wir gegen alle die verteidigen, die ihn abschaffen und stattdessen zum Feudalismus zurückkehren wollen - egal wie sie heißen. Dazu haben wir das verfassungsmäßige Recht auf Widerstand!

Produktive Vollbeschäftigung ist möglich!

Wer behauptet, daß es in Deutschland nie wieder Vollbeschäftigung auf einem hohen Produktivitätsniveau geben wird, hat einfach von Wirtschaft keine Ahnung und sollte sich aus der Politik zurückziehen. Wie konnte Deutschland überhaupt seinen hohen Lebensstandard erreichen? Wir verfügen ebenso wie Japan über so gut wie keine eigenen Rohstoffe, haben aber trotzdem eine Spitzenposition unter den Industrienationen der Welt erreicht. Wieso? Dafür waren im wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich. Seit den Bismarckschen Industrie- und Sozialreformen war es das Kennzeichen der deutschen Wirtschaft, daß eine sehr hohe Rate wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts die wirtschaftliche Produktivität immer auf das höchste Niveau brachte. In dieser hohen Qualität lag auch der Grund für den Exporterfolg, für unsere hohe Exportrate von bis zu 40 Prozent. Und so lange die Betonung auf diesen beiden Faktoren lag, funktionierte unsere Wirtschaft, und wir konnten uns einen hohen Lebensstandard leisten. Dazu gehörte eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, eines der besten an Wilhelm von Humboldt orientierten Bildungssysteme, ein funktionierendes Rentenwesen und Sozialversorgung usw.

Wenn wir diesen hervorragenden Sozialstaat wieder bezahlen können wollen, müssen wir - neben der schon erwähnten Korrektur der wettbewerbsverzerrenden Bedingungen der Europäischen Währungsunion - wieder Exzellenz bei der Ausbildung erreichen, damit das kreative Potential vor allem der Jugendlichen auf die bestmögliche Weise gefördert wird. Wir müssen außerdem die Technologiefeindlichkeit aufgeben, die mit dem Wertewandel seit der 68er Revolution und der Drogen-, Rock-, Sex-Gegenkultur um sich gegriffen hat, zum Studium der großen wissenschaftlichen Entdeckungen zurückkehren und der Grundlagenforschung eine zentrale Rolle in der Wirtschaft geben. Der deutsche Maschinenbausektor, in den ja laufend alle wissenschaftlichen und technologischen Entdeckungen einfließen, gehört nach wie vor zu einem der hervorragendsten Potentiale der Weltwirtschaft. Wenn wir vor allem den Mittelstand durch entsprechende Gesetze und eine vorteilhafte Steuer- und Kreditpolitik darin unterstützen, wieder Weltspitzenqualität zu produzieren, sind hohe Exportraten auch auf Dauer gewiß.

Die Eurasische Landbrücke

Die natürlichen Exportmärkte für Deutschland sind heute die expandierenden Märkte der bevölkerungsreichen Regionen Asiens: China, Indien, Rußland und Südostasien. Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ist es offensichtlich, da wieder anzuknüpfen, wo die Ereignisse des 20. Jahrhunderts (Erster Weltkrieg, Versailler Vertrag, Zweiter Weltkrieg, Jalta-Abkommen) die Entwicklung der wirtschaftlichen Integration Eurasiens unterbrochen haben. Der Bau der Transibirischen Eisenbahn und der Bau der Eisenbahn von Berlin nach Bagdad waren damals der Beginn der infrastrukturellen Erschließung Eurasiens.

Heute ist das Programm der Eurasischen Landbrücke, für das ich mich seit der Desintegration der Sowjetunion 1991 als eine der Hauptarchitektinnen einsetze, die naheliegende Vision für das 21. Jahrhundert. Wir müssen auf Regierungsebene ein gesamteurasisches Verkehrswegenetz beschließen, das ganz Eurasien durch sogenannte Entwicklungskorridore auf 25 bis 50 Jahre - also zwei Generationen - entwickelt. Dabei sollen Europa und Asien durch ein integriertes System von Magnetschwebebahnen, Schnellbahnsystemen, Autobahnen, Wasserwegen und computerisierten Bahnhöfen miteinander verbunden werden. Entlang dieser Verkehrslinien werden sogenannte Entwicklungskorridore von je rund hundert Kilometer Breite gebaut, in denen Energieproduktion und -verteilung sowie Kommunikationssysteme angesiedelt werden, und damit ideale Standortbedingungen für die Neuansiedlung von Industrie und Landwirtschaft geschaffen. Damit erhalten die landeingeschlossenen Regionen Eurasiens die gleichen Vorteile, wie sie bisher nur Gebiete haben, die an Ozeanen oder Flüssen liegen.

Wir müssen uns dabei natürlich von der geldgierigen Mentalität der Shareholder Value-Gesellschaft verabschieden. Es geht vielmehr darum, die Produktivität und den Lebensstandard der Bevölkerung Eurasiens über ein oder zwei Generationen zu entwickeln. Es ist aber in unserem ureigensten Interesse als Exportnation, daß wir den asiatischen Nationen dabei helfen, die armen und unentwickelten Teile ihrer Bevölkerung auf einen menschenwürdigen Entwicklungsstand zu bringen. So leben in China z.B. immer noch über 70 Prozent der Menschen in den westlichen und inneren Regionen des Landes in Armut. Eine ähnliche Situation existiert in Indien und anderen asiatischen Staaten.

Viele der von mir vor Jahren vorgeschlagenen Infrastrukturprojekte in Eurasien werden inzwischen von den verschiedenen Regierungen verwirklicht, die längst erkannt haben, daß diese Kooperation nicht nur im beidseitigen wirtschaftlichen Interesse ist, sondern daß in dem gemeinsamen wirtschaftlichen Vorteil auch eine Friedensperspektive liegt. Was ich aber über die jetzt schon stattfindende bilaterale Kooperation von Nationen hinaus vorschlage, ist ein Abkommen über ein auf 50 Jahre konzipiertes gesamteurasisches Entwicklungsprogramm, das von allen beteiligten souveränen Regierungen durch ein multilaterales Vertragswerk beschlossen wird. Ziel eines solchen Abkommens ist es, Unterschiede des Entwicklungsstandes zwischen den verschiedenen Ländern langfristig durch multilaterale Kooperation auszugleichen. Werde ich zur Bundeskanzlerin gewählt, werde ich umgehend ein solches Programm auf die internationale Tagesordnung setzen. Ich weiß schon jetzt, daß die absolute Mehrheit der Nationen dieser Welt froh wäre, wenn eine solche Initiative von Deutschland ausginge.

Es ist einfach nur Zweckpropaganda der globalen Finanzinteressen, wenn sie immer wieder behaupten, daß es zur Globalisierung keine Alternative gäbe. Bei der Kooperation zwischen souveränen Regierungen beim Ausbau der Eurasischen Landbrücke - die dann auch nach Afrika und die Amerikas ausgedehnt werden soll - geht es konkret um die Verwirklichung einer gerechten neuen Weltwirtschaftsordnung, die allen Nationen dieser Erde das Recht auf Entwicklung und allen Menschen ein menschenwürdiges Leben garantieren soll. Dabei ist die infrastrukturelle Erschließung der Nationen und Kontinente genauso die Voraussetzung für landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung, wie das bei der Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert der Fall war.

Wir brauchen eine mutige Vision für die Zukunft der Menschheit, wenn wir aus der gegenwärtigen globalen Systemkrise herauskommen wollen. Es geht dabei um die Frage des Menschenbildes, und es geht auch um die Frage, ob wir als kognitive Wesen in der Lage sind, uns eine politische und wirtschaftliche Ordnung zu geben, die der Würde des Menschen entspricht. Wir müssen von der Liebe zur Menschheit erfüllt sein, damit dieses Ideal verwirklicht wird.

Für eine kulturelle Renaissance

Da wir mit der Weimarer Klassik schon einmal bewiesen haben, daß unserer Kultur auf der Grundlage eines humanistischen kulturoptimistischen Menschenbildes große klassische Kunstwerke schaffen kann, die dann die Weltkultur bereichert haben, gibt es keinen Grund, warum wir nicht wieder eine Renaissance der klassischen Kultur hervorbringen können. Genau wie Italien es geschafft hat, aus dem finsteren Zeitalter des 14. Jahrhunderts herauszukommen, indem es zunächst den Geist des klassischen Griechenland neu belebte und daraus dann die Goldene Renaissance des 15. Jahrhunderts schuf, können wir heute das gleiche tun. Wir müssen nur die großen Dichter, Denker und Entdecker der letzten zweieinhalbtausend Jahre in den Köpfen von Jung und Alt wieder lebendig machen.

Natürlich spricht der Zeitgeist gegen eine solche Idee. Aber wir wären schließlich nicht in der anfangs erwähnten existentiellen Krise, wenn der Zeitgeist in Ordnung wäre. Natürlich scheinen heute Egoismus, Korruption, moralische Indifferenz und Vergnügen an banaler Unterhaltung zu dominieren. Aber vielleicht bietet die jetzt offensichtlich werdende Krise auch die Gelegenheit, zu hinterfragen, wieso der Zeitgeist auf ein solch verkommenes Niveau herabsinken konnte und wieso wir uns so weit von den hohen Idealen Schillers oder Beethovens haben entfernen können.

Auch wenn sicherlich die politischen Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts zu vielerlei Attacken auf den hohen Standard der Klassik geführt haben, der wirklich systematische Angriff auf die Klassik wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg von der Frankfurter Schule und dem Congress for Cultural Freedom (CCF) geführt. Der CCF setzte es sich als Organ der kulturellen Kriegsführung im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion zur Aufgabe, die Bevölkerung von der klassischen Kunst abzutrennen, und stattdessen Irrationalität und Existentialismus in modernistischen Kunstformen in den Dienst des "American Way of Life" zu stellen. Dieser Kriegführung haben wir nicht zuletzt das Regietheater und damit die Tatsache zu verdanken, daß es in Deutschland seit Jahrzehnten keine werkgetreuen klassischen Theateraufführungen und seit einiger Zeit auch kaum mehr unverhunzte Opernaufführungen gibt.

Die Brandtsche Bildungsreform der siebziger Jahre, die den "Bildungsbalast" von 2500 Jahren europäischer Geschichte bewußt aus dem Fenster warf, tat das ihrige, um dafür zu sorgen, daß die Schüler seitdem kaum mehr die Namen der Klassiker kennen, geschweige denn ihre Werke. Die schockierenden Ergebnisse der sogenannten PISA-Studien kamen so überraschend nicht, denn die Mittelmäßigkeit war in dieses Schulkonzept mit eingebaut. Wenn man eine Generation nach der anderen von den geistigen Wurzeln ihrer eigenen Kultur abschneidet, ist es kein Wunder, wenn das Resultat ein mageres ist. Es ist ein gewisses Glück, daß die Menschen in den neuen Bundesländern eine sehr viel bessere Ausbildung in der klassischen Kultur erhalten haben und erst nach 1989 von diesen negativen Einflüssen erfaßt wurden.

Lassen Sie uns jetzt die von den allermeisten Menschen als existentiell empfundene Krise zum Anlaß nehmen, uns wieder den Schätzen der klassischen Kultur zuzuwenden, in denen wir genau die Methode des Denkens finden, die wir heute brauchen, um die Krise zu meistern. "Platon veraltet? Bach unmodern? Schiller verstaubt?" Keineswegs! Die Jugendlichen der LaRouche-Jugendbewegung und der BüSo werden Ihnen in diesem Wahlkampf mit großer Wahrscheinlichkeit begegnen, und Sie werden einen lebendigen Eindruck davon bekommen, daß es heute sehr wohl Jugendliche gibt, welche sich die besten Ideen der Universalgeschichte in Wissenschaft und Kunst zu eigen machen, damit daraus eine neue Renaissance erwächst.

Als Bundeskanzlerin würde ich nicht nur die Weichen für ein neues Wirtschaftswunder stellen, sondern die Menschen in unserem Land zu einer Renaissance der klassischen Kultur inspirieren. Trotz aller Erfahrungen der letzten Zeit: Schenken Sie mir Ihr vertrauen. Ich weiß, was zu tun ist.

Ihre Helga Zepp-LaRouche