Januar 2006 Wirtschaft

WTO: Der Mißerfolg von Hongkong

Das Ergebnis der Konferenz der Welthandelsorganisation in Hongkong bedeutet: Die ärmsten Länder werden ihre eigene Bevölkerung hungern lassen, um ihre Schulden zurückzahlen zu können. Die selbständigen Landwirte bei uns hat man abgeschrieben.

Die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die Mitte Dezember in Hongkong stattfand, wurde "erfolgreich" abgeschlossen, heißt es. Erfolgreich, weil sich die Delegationen auf eine Abschlußerklärung einigen konnten und nicht, wie zwei Jahre zuvor im mexikanischen Cancun geschehen, im Streit abgereist sind. Tatsächlich jedoch war diese Konferenz ein weiterer Schritt in den wirtschaftlichen und sozialpolitischen Abgrund.

Den Globalisierern ist es gelungen, die Industrie- und Entwicklungsländer gegeneinander aufzubringen, wobei sie von den Nicht-Regierungsorganisationen, die doch angeblich gegen die Globalisierung sind, tatkräftig unterstützt wurden. Oder wurden sie von ihnen sogar in diese Falle gelockt? Denn es ist geradezu tragisch, wenn die armen Länder alles daransetzen, das Wenige, was sie an Nahrung erzeugen können, in die reichen Länder exportieren zu können, und das auch noch zu Preisen, die sie eigentlich nur noch ärmer machen werden, anstatt den Schulterschluß mit den Produzenten zu suchen und die Kartelle in die Defensive zu treiben.

Der Mißerfolg

Von den 149 Staaten, die der WTO angehören, bilden die Entwicklungsländer die mit Abstand größte Gruppe. Trotzdem spielten sie bis zu den Gipfelgesprächen in Cancun im September 2003 nur eine geringe Rolle. In Cancun trat zum ersten Mal die G-20, eine Gruppe von Entwicklungs- und Schwellenländer aus Asien, Lateinamerika und Afrika, denen wirtschaftliche Schwergewichte wie China, Brasilien, Indien und Südafrika angehören, auf und ließ die Gespräche scheitern. Schon im Vorfeld der Konferenz in Hongkong schoß sich die G-20 unter Führung Brasiliens auf die Landwirtschaft ein. Sie fordert von den USA, der EU und Japan, ihre Schutzzölle und Agrarsubventionen ganz abzubauen. Obwohl auch die Themen Dienstleistungen und Industriezölle kontrovers sind, hat man sich in Hongkong gleich wieder in die Landwirtschaft verbissen.

Die EU-Kommission bildete sich ein, mit ihren drei Agrarreformen und der Reform des Zuckermarktes eine Position der Stärke aufgebaut zu haben, das Gegenteil war der Fall. Brasilien verbündete sich mit den USA gegen die EU und drohte, die Verhandlungen platzen zu lassen, wenn Europa seine Agrarhilfen nicht drastisch abbaue. Just um diese Frage wird auch innerhalb der Union bekanntlich hart gefochten. Großbritannien, das zum Zeitpunkt des WTO-Gipfels die EU-Präsidentschaft innehatte, vertritt seit Jahren die Position der Freihändler, während Frankreich drohte, die Zerstörung seiner Landwirtschaft notfalls sogar mit einem Veto zu verhindern.

Ein Scheitern der Verhandlungen wäre für die EU eine Katastrophe gewesen, denn sie hätte für all ihre Reformen, die sie in vorauseilendem Gehorsam durchgepeitscht hatte, keine Gegenleistung erhalten, ja wäre gar unter Druck geraten, ihre Agrarpolitik noch weiter dem freien Markt zu öffnen. Brasilien forderte, daß die EU ihre Exporterstattungen um 54% senke, die EU bot 39% an. Schließlich einigte man sich darauf, daß die EU ihre Exporterstattungen für Agrarexporte bis zum Jahr 2013 auslaufen läßt. Wobei die anderen wichtigen Exportländer wie Kanada, USA, Australien lediglich vage zusicherten, ihre Exportsubventionen "anzugleichen". Tun sie das nicht, würden sie - und nicht die Entwicklungsländer - von dem Vakuum, das die vielen bankrotten Landwirte in der EU hinterlassen, profitieren.

Alle Industrieländer akzeptierten die europäische Initiative "Alles außer Waffen", die den 49 ärmsten Entwicklungsländern gestattet, alles außer Waffen zollfrei und in unbegrenzten Mengen in die EU einführen zu können. Die anderen Industrieländer wollen die gleichen Maßnahmen für 97% der Produkte dieser Entwicklungsländer anwenden. Dadurch werden die Ausfuhrerlöse der ärmsten Länder um 5,3 Mrd. Dollar im Jahr steigen, errechnete die UNO - welch ein Fortschritt! Die ärmsten Länder werden ihre eigene Bevölkerung hungern lassen, um ihre Schulden bei der Weltbank und anderen internationalen Institutionen zurückzahlen zu können.

Von einem neuen Selbstbewußtsein der Entwicklungsländer ist die Rede. Tatsächlich solidarisierten sich die Entwicklungsländer in Hongkong und traten geschlossen gegen die Industrieländer auf. Sie scheinen entschlossen, es den Industrieländern heimzuzahlen. Ihr habt uns mit Exportsubventionen zerstört, nun zerstören wir euch mit Marktzugang, scheint die Devise. Auf der Strecke bleiben die Bauern, hier wie dort, die lachenden Dritten sind die Kartelle.

Refeudalisierung der Welt

Die WTO ist der willige Helfer der Kartelle, der multinationalen Banken und Konzerne, der die neoliberale Ordnung rücksichtslos durchsetzt. Die Entwicklungsländer brauchen nicht Handel, sondern Entwicklung. Genau das aber wird ihnen immer mehr unmöglich gemacht. Je mehr der Handel zunimmt, desto größer wird die Armut. Der neue Weltkinderbericht von UNICEF belegt das mit Zahlen: Jedes zweite Kind, das im Entwicklungssektor geboren wird, wird nicht registriert. 50 Mio. Kinder im Jahr erhalten damit nicht einmal die Anerkennung als Bürger, sie sind für die Öffentlichkeit gar nicht existent. 171 Mio. Kinder arbeiten unter sklaven-ähnlichen Bedingungen; 8 Mio. Kinder verdingen sich als Prostituierte; zig Millionen leben als Straßenkinder, dazu gehören auch Kinder in deutschen Großstädten. 100 000 Menschen sterben täglich an Hunger und seinen unmittelbaren Folgen, die Hälfte davon sind Kinder unter fünf Jahren.

Die Liberalisierung zerstört funktionierende wirtschaftliche Einheiten und etabliert Abhängigkeit, wo bisher Selbständigkeit herrschte. Der Beschluß von Hongkong wird Millionen von Bauern auf der Welt ihre zwar oft bescheidene, aber eben doch unabhängige Existenz kosten. An die Stelle des in freier Selbstverantwortung wirtschaftenden Landwirts tritt der Landarbeiter, der seinen Rücken wieder vor einer Obrigkeit - sei sie nun blaublütig oder geldadlig - krumm machen muß. Scheinbar so demokratische Organisationen wie die WTO betreiben die Refeudalisierung der Welt, in der einige wenige nach den Reichtümern der Welt greifen und sogar die Politik privatisiert wird.

Die WTO ist für die internationale Finanzoligarchie das Instrument, die Welt durch Verelendung zu beherrschen. Nicht Handel, sondern kostendeckende Erzeugerpreise sind der Schlüssel für die Entwicklung der Welt. Die WTO steht dem im Weg, sie muß aufgelöst werden.

Rosa Tennenbaum