Die Fabeldichtung stand im 18. Jahrhundert in hohem Ansehen und fand in den verschiedenen "Moralischen Wochenschriften" und anderen Almanachen und "gelehrten Abhandlungen" weite Verbreitung. Lessing geht es in seinen Untersuchungen nicht um die äußeren Regeln, die man benötigt, um Fabeln schreiben zu können, wie man es in zahlreichen zeitgenössischen Fabellehren findet. Ebensowenig ist für ihn die Fabel eine Methode der literarischen Übung. In der Vorrede sagt er: "Ich hatte mich bei keiner Gattung von Gedichten länger verweilet als bei der Fabel. Es gefiel mir auf diesem gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral." Nach anfänglicher Bewunderung wendet sich Lessing gegen die La Fontainesche Fabel, der er "lustige Schwatzhaftigkeit" vorwirft und behauptet, daß eine Fabel nur so viel sagen darf, wie sie muß, um den Lehrsatz überzeugend zu motivieren. Der Lehrsatz hingegen muß auf eine klar formulierbare Form beschränkt sein. Deswegen braucht die Fabel auch kein befriedigendes Ende, sondern eines, das die Moral deutlich macht.
"In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemeiner moralischer Satz nicht unter die Allegorie einer Handlung, sondern auf einen einzelnen Fall, nicht versteckt oder verkleidet, sondern so zurückgeführet, daß ich nicht bloß einige Ähnlichkeiten mit dem moralischen Satze in ihm entdecke, sondern diesen ganz anschauend darin erkenne" (Hervorhebungen von Lessing). Und später definiert er: "Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel."
In seinen drei Fabelbüchern bezieht sich Lessing oft auf antike Vorbilder, aber besonders bestechend ist Lessings Stil der Weiterverarbeitung der antiken Fabeln im Sinne einer Fortsetzung. Viele Fabeln des Zweiten Buches sind ohne die Kenntnis der antiken Vorbilder kaum oder gar nicht verständlich. Dies will ich im folgendem an einem Beispiel zeigen.
"Der Wolf und das Lamm" - vier Versionen
Beginnen wir mit Äsops Urfassung:
"Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus einem Fluß trank, und wollte es unter dem Vorwand einer glaubhaften Beschuldigung auffressen. Deshalb stellte er sich flußaufwärts hin und warf ihm vor, es mache das Wasser schlammig und lasse ihn nicht trinken. Das Lamm antwortete, es trinke nur mit gespitzten Lippen und es sei überhaupt nicht möglich, von unten her das Wasser oben aufzuwühlen. Da der Wolf mit diesem Vorwand also nicht durchkam, sagte er: 'Aber im letzten Jahr hast du schlecht über meinen Vater geredet.' Als das Lamm antwortete, es sei noch nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf: 'Wenn du auch immer Entschuldigungen hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen?'
Die Fabel zeigt, daß bei denen, die fest vorhaben, Unrecht zu tun, auch eine triftige Verteidigung nichts gilt."2
Die Moral dieser Fabel besagt, jemanden, der sich in seinem Handeln nicht von der Frage der Moral und der Rechtmäßigkeit leiten läßt, wird auch der Nachweis, daß er Unrecht tut oder beabsichtigt, nicht beeindrucken. Äsop zeigt, daß eine gerechte Sache sich nur dann durchsetzt, wenn diejenigen, welche die Macht haben, das Gerechte nicht nur erkennen, sondern auch wollen. Die Auffassung des Wolfes ("das Recht des Stärkeren") wurde im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert vor allem von den Sophisten vertreten. Mit am deutlichsten formuliert das Kallikles in Platons Dialog Gorgias. Dort argumentiert er, Gerechtigkeit sei im Grunde widernatürlich. Und mit der Forderung nach Gerechtigkeit wolle der Schwache den Stärkeren nur um seine natürlichen Vorrechte bringen (482ff.). Bei Äsop bleibt unbeantwortet, warum überhaupt der Wolf die Tötung seines Opfers begründen will.
Phädrus setzt in der Fabel einen etwas anderen Akzent:
"Zum selben Bach gekommen waren Wolf und Lamm,
vom Durst getrieben, und stromaufwärts stand der Wolf,
weit unterhalb das Lamm. Da ließ sein böser Schlund
den Räuber einen Vorwand suchen sich zum Streit.
Er sprach: ,Warum hast du das Wasser mir getrübt
beim Trinken?' Ängstlich sprach der Wolleträger drauf:
'Wie kann ich, bitte, tun, was du mir vorwirfst, Wolf,
das Wasser fließt von dir zu meiner Tränke ja.'
Der sprach, da ihn die Macht der Wahrheit widerlegt:
'Du hast mich vor sechs Monaten verflucht.' -
'Da war ich ja noch nicht geboren', sprach das Lamm. -
'Dann war's bei Gott dein Vater, der verflucht mich hat,'
und packte und zeriß es, ob's auch schuldlos war.
Diese Fabel ist auf Menschen abgezielt, die Unschuld
unterdrücken mit gefälschtem Grund."3
Bei Phädrus kommt der Aspekt hinzu, daß der Wolf mit seinen Anschuldigungen kein moralisches Alibi sucht, sondern sie bewußt einsetzt, um eine Beute zur Strecke zu bringen - "ficta causa = falsche Anklagen", heißt es im Epimythion. Schließlich hatte Phädrus am eigenen Leibe die Folgen eines korrupten Gerichtswesens zu spüren bekommen.
Die gleiche Fabel nun von Jean de La Fontaine:
"Des Stärkeren Recht ist stets das beste Recht gewesen -
Ihr sollt's in dieser Fabel lesen.
Ein Lamm löscht' einst an Baches Rand
Den Durst in dessen klarer Welle.
Ein Wolf, ganz nüchtern noch, kommt an dieselbe Stelle,
Des gier'ger Sinn nach guter Beute stand.
'Wie kannst du meinen Trank zu trüben dich erfrechen?',
Begann der Wüterich zu sprechen -
'Die Unverschämtheit sollst du büßen und sogleich!'
'Eu'r Hoheit brauchte', sagt das Lamm, vor Schrecken bleich,
'Darum sich nicht so aufzuregen!
Wollt doch nur gütigst überlegen, daß an dem Platz, den ich erwählt,
Von euch gezählt,
ich zwanzig Schritt stromabwärts stehe;
Daß folglich Euren Trank, seht Euch den Ort nur an - ,
Ich ganz unmöglich trüben kann.'
'Du trübst ihn dennoch!', spricht der Wilde, ,wie ich sehe,
Bist du's auch, der auf mich geschimpft im vor'gen Jahr!'
'Wie? Ich, geschimpft, da ich noch nicht geboren war?
Noch säugt die Mutter mich, fragt nach im Stalle.'
'Dein Bruder war's in diesem Falle.'
'Den hab ich nicht' - ,Dann war's dein Vetter und
Ihr hetzt und verfolgt mich alle,
Ihr, euer Hirt und euer Hund.
Ja, rächen muß ich mich, wie alle sagen.' -
Er packt's, zum Walde schleppt er's drauf,
Und ohne nach dem Recht zu fragen,
Frißt er das arme Lämmlein auf."4
In dieser Fassung geht La Fontaine noch einen Schritt weiter. Recht ist nunmehr allein das, was der Stärkere für Recht erklärt, ein unübersehbarer Hinweis auf die Rechtsauffassung des Absolutismus und besonders Ludwigs XIV., ("Wie der König will, so will es das Gesetz"). Dabei ist klar, daß das Recht des Stärkeren kein wirkliches Recht ist. Aber unvorsichtigerweise beharrt der Wolf auf der Schuld des Lammes und bringt vier verschiedene Anklagepunkte vor (bei Äsop waren es zwei, bei Phädrus drei).
Lessings Fassung gibt nun der Geschichte eine völlig andere Richtung:
"Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß; eine gleiche Ursache führte auf der anderen Seite einen Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: ,Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an, habe ich dir nicht vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.' Der Wolf verstand die Spötterei, er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es ist dein Glück, antwortete er, daß wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben; und ging mit stolzen Schritten weiter."
Wie bei seinen Vorgängern treibt der Durst die beiden Tiere an den Fluß, aber Beute und Jäger befinden sich diesmal auf dem jeweils anderen Ufer. Und damit nimmt die Geschichte eine ganz andere Wendung. Viele andere Fabeln, die Phädrus oder La Fontaine bearbeitet haben, kann man lesen und verstehen, ohne das klassische Vorbild zu kennen. Lessings Fassung der Fabel vom Wolf und vom Lamm wirkt unvollständig und unverständlich, wenn man das Vorbild nicht kennt. Warum sollte ein Schaf den Wolf mit der Frage reizen, ob es ihm nicht das Wasser trübe, wenn es nicht wüßte, daß der Wolf schon einmal diesen Vorwand benutzt hatte? Auch der Wolf erinnert sich offenbar daran, denn er versteht den Spott, wie Lessing deutlich macht. Der Wolf kann seine körperliche Stärke nicht ausspielen, und im Wortstreit mit dem Schaf ist er der Unterlegene, versucht aber seinen ohnmächtigen Abgang noch als Nachsicht zu maskieren.
Tillmann Müchler
Anmerkungen
1. Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 5. Bd., Carl Hanser Verlag, München, 1973, S. 352ff.
2. Zit. nach Äsop: Fabeln (Griechisch/Deutsch), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Thomas Voskuhl, RUB 18297, Stuttgart 2005.
3. Zit. nach Fabeln der Antike, herausgegeben und übersetzt von Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, Düsseldorf/Zürich 1997.
4. Zit. nach Jean de la Fontaine, Sämtliche Fabeln, übersetzt von Ernst Dohm, ergänzt durch Gustav Fabricius, Düsseldorf/Zürich 2003.
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