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"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Paris, Juni 2015   

Tödliche Schulden oder die Illusion der Unabhängigkeit afrikanischer Nationen

Von Diogène Senny

Diogène Senny ist Generalsekretär der Panafrikanischen Liga UMOJA (LP-U).

Liebe Kameraden,

Wir haben uns hier erneut versammelt, so wie bereits im Oktober 2014 in Frankfurt in Deutschland, dank der Kameraden des Schiller-Instituts, denen wir für ihr unablässiges Engagement danken und gratulieren möchten. Wir danken euch allen für eure unermüdlichen Bemühungen, die Verbindung zu uns zu erhalten.

Und schließlich möchte ich auch unsere Freunde vom CADTM grüßen, dem Komitee für einen Schuldenerlaß für die Dritte Welt, darunter Professor Eric Toussaint und Damien Millet, die seit sehr vielen Jahren kämpfen und den ungeheuren Skandal der bösartigen und unrechtmäßigen Schulden anprangern.

I. Einleitung

Liebe Kameraden,

Unser Beitrag trägt den Titel, „Tödliche Schulden oder die Illusion der Unabhängigkeit afrikanischer Nationen“.

Um das Problem der tödlichen Schulden zu verstehen, das den afrikanischen Kontinent plagt, muß man zu den Ursprüngen zurückgehen, zu den Gründen, die zu ihrer Entstehung geführt haben. Sobald man nachgewiesen hat, daß Afrikas Schulden ein clever inszenierter Plan der neokolonialen Kräfte für eine Rückeroberung sind, wird es jedem von uns ein Leichtes sein, sie als bösartig und illegitim zu beschreiben.

Folglich ist ihre Streichung keine Bitte um Großzügigkeit der Gläubiger, sondern eine Reparation und ein Akt der Gerechtigkeit für das betrogene Volk.

II. Ursprünge und Ursachen der Schulden Afrikas

Nachdem afrikanische Nationen in den 1960er Jahren in die Unabhängigkeit entlassen worden waren, verfolgten die ehemaligen Kolonialmächte zwei wesentliche Ziele: mit allen Mitteln verhindern, daß in den ehemaligen Kolonien irgendwo eine Regierung mit nationalistisch-panafrikanischer Tendenz an die Macht gelangt, und - im Kontext des Kalten Krieges und mit Hilfe der Vereinigten Staaten - verhindern, daß die Sowjetunion irgendwelche Verbündeten in Afrika findet und damit Zugang zu den Rohstoffen erhält, was bis dahin das ausschließliche Privileg der Westmächte gewesen war.

Allgemein gelang es dem Westen, die Nationalisten auszuschalten - entweder durch Mord, wie im Falle Lumumbas im Kongo 1961, oder durch Kriege und Massaker im großen Stil, wie im Falle der Führer der UPC (Union der Völker Kameruns), oder durch verschiedene Tricks, mit denen die Gegner ins Gefängnis gesperrt oder ins Exil gezwungen wurden, wie im Falle von Abel Goumba in der Zentralafrikanischen Republik 1964 nach dem mysteriösen tödlichen Unfall von Barthélémy Boganda im März 1959.

In den wenigen Ländern, deren Regierungen mit der Sowjetunion verbündet waren, erhielt der Westen trotz allem eine Präsenz aufrecht und nutzte die kleinste Gelegenheit, die Machthaber zu stürzen, um sie durch Regime zu ersetzen, die ihren Interessen mehr nutzten und unterwürfiger waren; dafür ist beispielsweise der Sturz und die Ermordung von Thomas Sankara die beste Veranschaulichung.

Der Westen tat alles in seiner Macht stehende, um die ehemaligen Kolonien unter seiner Fuchtel zu behalten. Eine der Waffen, die er dazu einsetzte, waren die Schulden, wobei als offizieller Vorwand diente, den Erfolg des Marshall-Plans in Afrika zu wiederholen, während der eigentliche Grund war, einen strategisch-geopolitischen Machtzugriff und Zugang zu den Rohstoffen wie in den alten Kolonialzeiten aufrecht zu erhalten. Damit bewahrheitet sich vollkommen der Spruch: Wer über die Finanzen eines Landes herrscht, der braucht keine totale Kontrolle über die innenpolitische Macht, um der wahre Boß zu sein - er muß nur aus dem Hintergrund die Fäden ziehen.

Mindestens drei historische Phänomene lieferten dem Westen die finanziellen Mittel, um den afrikanischen Kontinent unter seine Fuchtel zu bekommen.

Erstens: Zur Zeit der Entlassung in die Unabhängigkeit in den 60er Jahren verfügten die westlichen Privatbanken über einen enormen Überschuß an Euro-Dollars aus den Krediten, die die Vereinigten Staaten den Europäern im Kontext des Marshall-Plans für den Wiederaufbau in den 50er Jahren gegeben hatten.

Um einen massiven Rückfluß dieser Eurodollars in die Vereinigten Staaten zu vermeiden - nicht nur wegen der hohen Inflation, die das in der US-Wirtschaft auslösen würde, sondern auch wegen des Risikos eines Abschmelzens der amerikanischen Goldvorräte, weil die geltenden Verträge das Eintauschen von US-Dollars aus dem Ausland gegen Gold vorschrieben -, ermutigten die westlichen Regierungen ihre Banken, den neuen, nominell unabhängigen afrikanischen Ländern große Kredite zu sehr günstigen Konditionen zu gewähren.

Natürlich waren die afrikanischen Regierungen, deren Loyalität sich die westlichen Mächte versichert hatten, sehr interessiert an diesen Krediten, an diesen Geldzuflüssen, vor allem zu ihrer eigenen Verwendung.

Das zweite historische Phänomen, das die explosionsartige Schuldenvermehrung erklären kann, ist der Ölschock 1973, der durch eine plötzliche Vervierfachung des Ölpreises ausgelöst wurde. Die Scheichs der Golfstaaten legten dann diese enormen Dollarmengen aus den Profiten der Ölverkäufe in den westlichen Banken an. Das ist das Phänomen der sogenannten Petrodollars.

Diese Petrodollars, zusätzlich zu den Eurodollars im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau eines vom Krieg verheerten europäischen Kontinents, strömten wieder nach Afrika. So schoß der private Teil der Schulden der Dritten Welt innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren, von 1960 bis 1980, in die Höhe. Von fast null Anfang der 60er Jahre stieg er bis 1970 auf 2,5 Mrd.$ und bis 1980 auf 38 Mrd.$.

Das dritte Phänomen im Zusammenhang mit der Schuldenexplosion ist schließlich die an bestimmte Bedingungen gebundene sogenannte bilaterale Entwicklungshilfe, d.h. sie wird direkt zwischen Staaten gewährt. Diese „Entwicklungshilfe mit Bedingungen“ ist eine Art indirekte Subvention für die westlichen Unternehmen, für deren Interessen die Afrikaner nützlich sind. Diese Praxis geht auf die Krise zurück, die Europa 1973-75 traf, die man als das Ende der „30 glorreichen Jahre“ (oder des „Wirtschaftswunders“) bezeichnet, also die 30 Jahre starken Wachstums, die hauptsächlich dem im Rahmen des Marshall-Plans investierten Kapitals zu verdanken waren.

Um Märkte zu öffnen für Produkte, die wegen der sinkenden Kaufkraft in der westlichen Welt nicht mehr verkauft werden konnten, war nun die Idee, Kredite zu vergeben, die ausschließlich dazu benutzt wurden, im kreditgebenden Land hergestellte Produkte zu erwerben, selbst wenn sie teurer waren oder nicht dem Entwicklungsplan des Käuferlandes entsprachen. Die bilaterale Hilfe schoß von 6 Mrd.$ 1970 bis 1980 auf 36 Mrd.$ in die Höhe.

Also, liebe Freunde:

Wer diese Erklärung und die Gründe für den Schuldenberg Afrikas genau verfolgt, der sich als fatal und mörderisch für das afrikanische Volk erweisen wird, der wird mit uns zu der Schlußfolgerung gelangen, daß alle diese Initiativen nichts mit Großzügigkeit und Begeisterung für die Entwicklung des Kontinents zu tun haben - um so mehr, als die auf den Westen und andere Nutznießer dieser riesigen Transfers ausgerichteten afrikanischen Regimes als despotisch, korrupt und käuflich gelten.

Der Kalte Krieg, der Zugriff auf die Rohstoffe und die einseitige „Entwicklungshilfe“ dienten als Rechtfertigung für die finanzielle und sogar militärische Unterstützung verbrecherischer Diktatoren, die eine Gefahr für ihr eigenes Volk waren. Von Idi Amin in Uganda über Mobutu in Zaire, Mengistu in Äthiopien, Samuel Doe in Liberia bis zu Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik - sie alle wetteiferten miteinander in Hinsicht auf ihre Brutalität, ihre Verschwendungssucht und ihre absolute Gleichgültigkeit gegenüber den elementarsten Grundbedürfnissen der Bevölkerung.

Wir erinnern uns noch an die Inthronisation Bokassas zum Kaiser mit dem Segen des Vatikans 1977 - ein Bewunderer Napoleons und ein enger Freund des damaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing: Sie kostete ein Fünftel des jährlichen Staatshaushalts der Zentralafrikanischen Republik, umgerechnet 22 Millionen Euro. Die ungeheuren Unterschlagungen, die Mobutu beging und auf westlichen Bankkonten anlegte, beliefen sich auf fast 8 Milliarden Dollar, während die Staatsschulden Zaires zum Zeitpunkt seines Sturzes 1996 bei 12 Milliarden Dollar standen.

Zusätzlich zu den beiden oben erwähnten Methoden der Schuldenfinanzierung - den westlichen Banken für den privaten Teil und die westlichen Staaten für die bilateralen „Entwicklungskredite“ - muß man auch das Duo IWF-Weltbank für den multilateralen Teil der Schulden erwähnen. Von null zu Beginn der 60er Jahre stieg der multilaterale Teil der afrikanischen Schulden bis 1970 auf 1,2 Mrd.$ und bis 1980 auf 15,5 Mrd.$.

Private Schulden, bilaterale Schulden, multilaterale Schulden: alles in allem lasteten 1980 auf dem afrikanischen Kontinent 89 Mrd.$ Schulden. Es wurde verhindert, daß Afrika ein funktionierendes Gesundheitswesen, gute Infrastruktur und ein Bildungswesen bekam, und die Not nahm immer mehr zu.

Was ist aus den 89 Mrd.$ geworden, die unsere Regierungen geliehen hatten? Wo blieb die humane Entwicklung?

Erinnern wir uns, 1980 waren Afrikas Schulden in Dollars ausgewiesen, in französischen Francs, in D-Mark, in Pfund Sterling und in japanischen Yen, daher mußten die afrikanischen Länder für starke Währungen sorgen, um die Kredite zu bedienen.

Jahrein, jahraus zahlte der afrikanische Kontinent weiter für die Schulden. Aber wegen der kombinierten Wirkung des Preisverfalls von Rohstoffen und des steilen Anstiegs der Zinsen auf Dollar oder Pfund Anfang der 80er Jahre waren die afrikanischen Länder genauso wie der Rest der Dritten Welt nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu bedienen. So wurde die Schuldenkrise geboren, mit dem Auftauchen der Schocktherapie und der bitteren Medizin, die das IWF-Weltbank-Duo, der Pariser Club, der Londoner Club etc. verordneten.

III. Die Schuldenkrise und die Schocktherapie von IWF und Weltbank

Wie Mexiko, das im August 1982 öffentlich angekündigt hatte, daß es wegen des Preisverfalls der Rohstoffe und des Hochschießens der Zinsen seine Schulden nicht zahlen konnte, so erklärten auch die meisten afrikanischen Länder, sie seien nicht in der Lage, die Schulden zu zahlen.

Diese Krise führte zur Strangulierung dieser Länder, um so mehr, als die westlichen Banken neue Kredite verweigerten, solange die alten Schulden ausstanden. Die Welt marschierte auf eine Kettenreaktion eines Schuldenbankrotts von historischen Dimensionen zu.

Um diese sich andeutende Kette von Bankinsolvenzen zu verhindern, vergaben der IWF und die Industrieländer neue Kredite, um die privaten Banken über Wasser zu halten. Dieses Schneeballsystem bestand darin, neue Kredite aufzunehmen, um die alten umzuschulden.

Aber die neuen Kredite waren an die Bedingung geknüpft, sich „Strukturanpassungsplänen“ zu unterwerfen, was zu einem völligen Verlust der Souveränität in der Wirtschaftspolitik führte.

Seit den 80er Jahren, auch nach der Rückkehr zum Mehrparteiensystem Anfang der 90er Jahre, führten die Strukturanpassungsprogramme inzwischen unter dem Banner der „Entschuldungsinitiative“ (HIPC) zu massiven Einkommensverlusten, rücksichtslosem Einstellungsstopp, Abschaffung von Subventionen für die Grundversorgung (Gesundheit, Strom, Wasserversorgung, Bildung usw.), Privatisierung öffentlicher Unternehmen und massiven Entlassungen.

Alles sieht so aus, als müßten die Afrikaner eine doppelte Strafe erleiden. Nach den Qualen diktatorischer Regime werden sie nun regelmäßig geopfert, um bösartige und illegitime Schulden zu zahlen, die ebendiese ungerechten Regime mit zwielichtigen Gläubigern als Komplizen aufgenommen haben.

Der Gipfel des Zynismus ist es, wenn die Bevölkerung die Folgen dafür erleiden muß, daß Schulden bedient werden müssen, mit denen Rüstungsgüter gekauft wurden, die in der Abfolge von Konflikten auf dem Kontinent Tausende von Toten verursacht haben.

Nach Angaben der UNCTAD erhielt Afrika zwischen 1970 und 2002 Kredite über 540 Milliarden Dollar. 550 Milliarden wurden zurückgezahlt, trotzdem betragen die Schulden heute 295 Mrd.$. Laut den Untersuchungen des CADTM für Afrika südlich der Sahara ist der Geldabfluß durch Schuldendienst und Repatriierung von Gewinnen transnationaler Unternehmen etwa gleich hoch wie der Geldzufluß in Verbindung mit Entwicklungshilfe und dem, was Afrikaner aus dem Ausland nach Hause schicken. Der Abfluß ist sogar 1 Mrd.$ höher als der Zufluß. 2012 entsprachen die Gewinne, die aus diesem ärmsten Teil der Welt herausgezogen wurden, 5% seines Wirtschaftsprodukts, die Entwicklungshilfe dagegen nur 1%.

Hier muß man fragen: Wer hilft da wem?

IV: Wir fordern eine unabhängige Prüfung der afrikanischen Schulden

Deshalb ist eine unabhängige Prüfung der afrikanischen Schulden ein Muß.

Als ein Instrument der Souveränität soll eine unabhängige Prüfung die Kreditmethoden der verantwortlichen Machthaber kritisch analysieren und viele Fragen beantworten.

Zum Beispiel: Warum hat die Regierung ständig mehr Schulden aufgenommen? Für welche politischen Prioritäten und welche sozialen Interessen wurden die Schulden aufgenommen? Wer hat davon profitiert? Hätte es andere Möglichkeiten gegeben? Wieviel Zinsen wurden bezahlt, welcher Zinssatz, wieviel von der Hauptschuld wurde schon getilgt? Wie wurden aus privaten Schulden „öffentliche“?

Die Drohung, vor der internationalen Gemeinschaft geächtet zu werden, ist nur ein Weg, Staatsvertreter davon abzuhalten, solche Methoden weiter zu praktizieren. Denn entgegen der allgemeinen Meinung zählte man laut den jüngsten Arbeiten der beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff von 1946 bis 2008 insgesamt 169 Zahlungsausfälle von Staaten, die durchschnittlich drei Jahre dauerten.

Aber als politische Organisation weiß unsere Bewegung, die Panafrikanische Liga UMOJA, daß die Frage der Schulden Afrikas vor allem eine politische ist. Es genügt nicht, eine Prüfung der Schulden zu wünschen oder zu fordern, denn man muß das Machtgefüge soweit verschieben, daß die afrikanischen Staaten diesen Weg beschreiten können.

Darum ist angesichts der unter dem Banner von IWF und Weltbank versammelten Gläubiger eine Einheitsfront gegen die Schulden auch ein panafrikanisches Ziel.