Die Eurasische Landbrücke aus der Sicht von Leibniz
Die Eurasische Landbrücke aus der Sicht von Leibniz
Christine Bierre ist Chefredakteurin der Zeitung „Nouvelle
Solidarieté“, sie sprach bei der Pariser Konferenz des Schiller-Instituts über
die Beziehungen des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zu China und
Rußland.
Meine Damen und Herren,
dieser Abschnitt der Konferenz wird sich mit großen Infrastrukturprojekten
befassen, die im Mittelpunkt der BRICS-Strategie stehen, und in diesem
Zusammenhang werde ich über das „Grand Design“ der eurasischen Entwicklung
sprechen, das im 17. Jahrhundert vom großen deutschen Philosophen,
Wissenschaftler und Politiker Gottfried Wilhelm Leibniz vorgeschlagen wurde
und das ein wunderbares Modell für heute ist.
Aber bevor ich darauf komme, noch ein paar Bemerkungen zur Frage der großen
Infrastrukturprojekte. Diese bilden tatsächlich die Grundlage für die
industrielle Entwicklung einer Nation. Ohne moderne Verkehrs-, Energie- und
Wasserinfrastruktur ist kein Fortschritt möglich.
Es wäre jedoch falsch, diese Projekte nur für sich alleine zu betrachten,
weil man dann Gefahr läuft, in die Fehler der keynesianischen Ökonomen zu
verfallen, denen es nur darum geht, für irgendwelche wirtschaftliche Aktivität
zu sorgen, egal in welchem Bereich - selbst wenn man bloß Löcher gräbt und
wieder zuschüttet!
Das wichtige an der BRICS-Strategie ist, daß diese Infrastrukturen und die
Lastwagen, Kräne und Bagger, die man bei ihrem Bau einsetzt, nur der konkrete
Ausdruck des schöpferischen menschlichen Geistes und des menschlichen Willens
sind, die enormen Herausforderungen der Natur zu meistern, um die menschliche
Gesellschaft zu transformieren.
Vor dem Erbauen dieser Objekte steht das Menschenbild des Menschen als
Schöpfer, im Gegensatz zur Vorstellung des Menschen als Räuber, wie sie heute
infolge der verschiedenen extremen Formen des Liberalismus vorherrschend ist,
den die westlichen Finanzzentren, die Londoner City und die Wall Street,
weltweit verbreitet haben.
Die BRICS-Strategie wird auch genährt von einer nobleren Vision der
menschlichen Zivilisation - vom Willen, eine Welt zu schaffen, in der alle
Nationen, unabhängig von ihrer Größe und ihrem Reichtum, das Recht auf eine
umfassende Entwicklung haben: eine Welt im Geist des Westfälischen Friedens,
in der alle Nationen souverän entscheiden können, Bündnisse mit den Partnern
ihrer Wahl einzugehen, und nicht gezwungen sind, sich diesem oder jenem
ideologischen Block zu unterwerfen oder Vasallen dieses oder jenes Imperiums
zu werden. Herr Kadyschew hat dieses Prinzip in seiner Rede heute vormittag
bekräftigt. Chinas Präsident Xi Jinping handelt jeden Tag mit kleinen und
großen Nationen „Win-Win“-Verträge aus.
Dieses Menschenbild ist leider aus dem transatlantischen Bereich
verschwunden, an seine Stelle traten das Menschenbild des Räubers und die
Rückkehr zu Imperien. Die Geier sind überall: im Finanzbereich, in den
Regierungen, wo sie den öffentlichen Besitz und die Schwächsten unter uns
plündern, und im Krieg, wo sie ihre ungezügelte Grausamkeit entfesseln, wie im
Nahen Osten.
Frankreich hatte das Glück, daß es einen Charles de Gaulle gab, der zu
seiner Zeit den Geist der BRICS verkörperte. Aber heute ist es in schändliche,
opportunistische Bündnisse verstrickt, wo es sich für eine Handvoll Dollars
vom dekadenten amerikanischen Empire den rückständigsten Ölmonarchien
zuwendet, ohne jedoch die Tür zu den BRICS ganz zu verschließen - schließlich
weiß man ja nie, wer am Ende gewinnt!
Erinnern wir uns an das wahre Frankreich, an den 30. Januar 1964, als
Charles de Gaulle, der Präsident eines Frankreichs, das seine Souveränität
gerade erst wieder zurückerlangt hatte, mit dem anglo-amerikanischen Block
brach und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit einer anderen
souveränen Nation bekanntgab, mit China. Denn auch wenn er das damalige
chinesische Regime nicht guthieß, setzte er darauf, wie er sagte, daß „man in
der ungeheuren Evolution der Welt durch die Vermehrung der Beziehungen
zwischen den Völkern der Sache der Menschheit, d.h. der Weisheit, dem
Fortschritt und dem Frieden, dienen kann... und so können sich alle Seelen, wo
immer auf der Erde sie sein mögen, schneller vereinen zu dem Rendezvous, das
Frankreich vor 175 Jahren vorgegeben hat: dem von Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit.“ Nach dieser Entscheidung trat Frankreich 1966 aus dem
gemeinsamen Kommando [der NATO] aus und nahm auch Beziehungen zur Sowjetunion
auf.
Und weil ich fest davon überzeugt bin, daß Frankreich seine Souveränität
zurückgewinnen kann und mit einem westlichen Block, den die Finanzkrise und
der Weltreichanspruch in einen Weltkrieg gegen Rußland und China treiben,
brechen kann, so daß auch andere europäische Länder inspiriert sein können,
das gleiche zu tun, will ich ihnen hier das gewaltige eurasische Projekt
vorstellen, das Leibniz im 17. Jahrhundert vorgeschlagen hat.
Ein weiterer Grund ist, daß dieses Projekt einen sehr hohen Maßstab setzt,
und daß alle, die die BRICS schaffen, heute für diese neue Welt kämpfen und
dieses schöne Ideal hegen müssen, wenn wir mit unserem Tun Erfolg haben
sollen.
Leibnizens eurasisches Grand Design
Leibniz (ein Zeitgenosse Colberts, der mit ihm zusammenarbeitete) wollte
das durch irrationale Kriege verheerte und zur Geisel der bösen Geister des
religiösen Fanatismus gewordene Europa von Grund auf verändern, und kämpfte
deshalb dafür, auf dem gesamten eurasischen Kontinent die Voraussetzungen für
Frieden und Entwicklung zu schaffen.
Was ist sein Grand Design, sein großer Entwurf? Ein Bündnis zwischen Europa
und China, den entwickeltsten Gebieten der damaligen Welt, und Fortschritt für
das dazwischen gelegene Rußland durch die Verstärkung des kulturellen und
wirtschaftlichen Austauschs zwischen den beiden. Die Beziehungen zwischen den
Nationen sind heute andere, aber das Prinzip ist das gleiche.
Diesen Entwurf stellt Leibniz in poetischer Weise im Vorwort zu seinem Werk
Novissima Sinica - „Neuigkeiten aus China” - vor. Er sagt:
„Durch einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es
dahin gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation
der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres
Kontinents, in Europa und China, das gleichsam wie ein Europa des Ostens das
entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die höchste
Vorsehung dabei das Ziel - während die zivilisierten und gleichzeitig am
weitesten voneinander entfernten Völker sich die Arme entgegenstrecken -
alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßen Leben
zu führen.“
Und Leibniz fügt hinzu, Zar Peter der Große sei diesem Projekt geneigt und
werde darin vom orthodoxen Patriarchen unterstützt.
Leibniz hatte das große Glück, daß sich damals sowohl Zar Peter der Große
als auch der chinesische Kaiser Kangxi Europa öffneten und einen „großen Eifer
zeigen, ihren Ländern die Kenntnis der Wissenschaften und der europäischen
Kultur zu bringen“.
Nachdem er sich über Jahre ein privilegiertes Verhältnis zu diesen beiden
Staatsoberhäuptern erarbeitet hatte, versuchte Leibniz in seiner Funktion als
Fürstenberater den Gang der Geschichte zu verändern. Er traf dreimal (1711,
1712, 1716) mit Peter dem Großen zusammen und wurde dessen Berater. Der Zar
hatte ihn um Hilfe gebeten, „sein Volk aus der Barbarei zu führen“.
Zu Kangxi liefen seine Beziehungen nicht direkt, sondern über eine Gruppe
jesuitischer Missionare, die seit einen Jahrhundert in China wirkten und denen
es dank ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse gelungen war, das Vertrauen der
Kaiser und insbesondere des damals regierenden Kangxi zu gewinnen. Leibniz
stand in Briefkontakt mit vielen dieser Jesuiten und regte selbst die Mission
von fünf jesuitischen Missionaren an, die 1685 nach China aufbrachen, um mit
Kangxi zusammenzuarbeiten.
Fortschritt nach Rußland bringen
Die Memoranden dieses leidenschaftlichen Dialogs zwischen Leibniz und Peter
dem Großen und dessen Beratern sind dank der gesammelten Werke von Leibniz,
die von Fouchier de Careil zusammengestellt wurden, heute vollständig
zugänglich.
Im Mittelpunkt seiner Vorschläge stand, „alle aktiven und fähigen Männer
aller Berufe heranzuziehen“, die Untertanen auszubilden, insbesondere die
Jugend, und sie zu lehren, „kreativ zu sein“, indem man die großen
Entdeckungen der Vergangenheit nachvollzieht; die Beschreibungen aller Künste
und Wissenschaften ins Russische zu übersetzen, überall Schulen zu eröffnen
und in den größten Städten wie Moskau, St. Petersburg, Kiew und Astrachan
wissenschaftliche Akademien zu gründen; überall Bibliotheken und Observatorien
einzurichten ebenso wie Laboratorien, um Maschinen zu bauen.
Schon ein Jahrhundert vor den Briten riet Leibniz, der die Bemühungen der
Pariser Akademie der Wissenschaften zur Entwicklung von Dampfmaschinen
unterstützte, den Russen, ein Laboratorium zu schaffen, in dem gute Chemiker
und Pyrotechniker den Gebrauch des Feuers für die Arbeit in den Minen, für die
Metallverarbeitung, Gießereien, Glasfabriken und sogar für die Artillerie
studieren sollten. Wie ein moderner Prometheus sagte er: „Das Feuer ist als
der mächtigste Schlüssel zu den Körpern zu betrachten.“
In Bezug auf die Infrastruktur riet er ihnen, darüber nachzudenken, was man
für die bessere Nutzung der Flüsse und für die Landschaftsplanung tun könne:
die Wolga (man könnte sie durch einen Kanal mit dem Don verbinden) und
Verbesserung der Schiffbarkeit des Dnjepr und des Irtysch, außerdem der Bau
von Kanälen sowohl als Verkehrswege als auch zur Trockenlegung der Sümpfe.
Ein „Austausch des Lichts“ mit China
Leibniz’ Arbeit mit China ist auch ein schönes Beispiel für eine
Zusammenarbeit zwischen Nationen, welche gegenseitig die besten Traditionen
respektieren. Davon könnten die Zauberlehrlinge der „Farbenrevolutionen“ im
Westen viel lernen.
In Novissima Sinica vergleicht er die relativen Verdienste der
chinesischen und der europäischen Kultur und stellt sie ungefähr auf eine
Stufe. Er sagt: „China ist ein großes Reich, das dem kultivierten Europa an
Ausdehnung nicht nachsteht und es an Einwohnern und guter politischer Ordnung
sogar übertrifft.“
Europa hingegen sei überlegen hinsichtlich der Kenntnis von Formen, welche
den Geist von der Materie unterscheiden, wie etwa die Metaphysik und die
Geometrie. Die Jesuiten arbeiteten daran, diesen Rückstand zu beheben, indem
sie Geometrie, Astronomie und Mechanik unterrichteten - ein Beispiel dafür ist
das von Pater Verbiest, dem Lehrer des jungen Kangxi, erfundene Dampffahrzeug
- und indem sie bei großen Bauprojekten halfen.
Vor allem aber war Leibniz beeindruckt von der allgemeinen Lebensweisheit
der Chinesen:
„Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den
theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich
unterlegen - was zu bekennen ich mich beinahe schäme - auf dem Gebiet der
praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die
auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet
sind.“ Ganz zu schweigen von der wunderbaren Ordnung, die den Gesetzen anderer
Nationen überlegen sei und nach denen sich die Chinesen in allen Dingen um der
öffentlichen Ruhe und der Beziehungen zwischen den Menschen willen
richten.
Diese Kultur der Weisheit und der Harmonie zwischen dem täglichen Leben,
dem politischen Leben und dem Kosmos war das Erbe der Philosophie des
Konfuzius (551-479 v. Chr.), bereichert durch andere philosophische
Traditionen. Erinnern wir uns, daß die Chinesen schon im 11. Jahrhundert die
Perspektive entdeckten und daß der große Kunsthistoriker Guo Ruoxu im Jahr
1074 schrieb:
„Wenn der geistige Wert einer Person gehoben wird, folgt daraus, daß auch
die innere Resonanz dadurch erhoben wird und daß das Gemälde dann
notwendigerweise voller Leben und Bewegung (shendong) ist. Man kann sagen, daß
es auf den höchsten Ebenen des Geistigen mit der Quintessenz konkurrieren
kann.“
Im Gegensatz zur Mehrheit der religiösen Orden und Vikare des Papstes, die
China praktisch gewaltsam christianisieren wollten, was am Ende zum Scheitern
des Leibnizschen Projektes führte, unterstützte Leibniz den ökumenischen
Dialog der Jesuiten; und nach einem gründlichen Studium des Konfuzianismus kam
er zu dem Schluß, daß ein Dialog auf Augenhöhe zwischen der natürlichen
Theologie des Konfuzius und der christlichen Metaphysik - aber nicht dem
geoffenbarten Christentum - organisiert werden könne.
Die Mission der französischen jesuitischen Mathematiker
Da man diejenigen, die uns regieren, nicht oft genug an die besten
Traditionen unserer Außenpolitik erinnern kann, kommen wir zum Schluß auf die
Mission der fünf jesuitischen Missionare zurück, die 1688 nach China
aufbrachen, was dazu beigetragen hat, schon vor 300 Jahren die besondere
Partnerschaft Frankreichs zu diesem Land zu gründen.
Diese Jesuiten waren die Gesandten einer Arbeitsgruppe, die Jean Baptiste
Colbert an der Akademie der Wissenschaften in Paris um den Direktor des
Pariser Observatoriums Jean Dominique Cassini gebildet hatte. Das Ziel dieser
Gruppe war es, mit Hilfe der Astronomie exakte geographische Karten zu
erstellen und das große wissenschaftliche und praktische Unternehmen jener
Zeit, nämlich die Längenbestimmung für die Hochseeschiffahrt, zu
bewältigen.
Für diese Untersuchungen mußte man Wissenschaftler in verschiedene Teile
der Welt entsenden, um so viele Daten wie möglich zu sammeln. Die Mission der
fünf französischen Jesuiten in China diente der Ergänzung der Reisen der
Akademiemitglieder Jean Picard nach Uraniborg in Dänemark, Jean Riché nach
Cayenne, Varin zur Gorée-Insel und den Antillen, die dem gleichen Ziel
dienten.
Leibniz und Colbert veranlaßten diese Reise für eine Frage, die Leibniz
brennend interessierte. In seiner Korrespondenz über Rußland beschreibt er
dieses wissenschaftliche Projekt im Detail und bezeichnet es als eine seiner
drei Prioritäten. Er ruft dazu auf, solche Experimente auch in Rußland
durchzuführen, insbesondere in der Nähe des Nordpols. Die Leitung dieses Teams
wurde Pater Fontaney anvertraut, der bereits mit anderen prominenten
Akademikern wie dem dänischen Wissenschaftler Ole Römer und Christian
Huyghens, der die Akademie leitete, zusammenarbeitete.
Als sie 1685 nach China segelten, führten die Jesuiten in ihren Koffern die
von Cassini erstellten Tabellen der Jupitermonde sowie etwa 30 Instrumente mit
sich. Darunter waren die modernsten ihrer Zeit, z.B. zwei Geräte von Ole
Römer: ein mechanisches Planetarium, das mit Hilfe von Spezialfedern zu jeder
gegebenen Stunde alle Bewegungen der Planeten und der Sterne anzeigen konnte,
und ein Eklipsorium, mit dem man das Jahr, den Monat oder Teil des Monats
bestimmen konnte, in dem es zu Sonnen- oder Mondfinsternissen kommen
würde.
Leibniz war über die Korruption im damaligen Europa so verzweifelt, daß er
vorschlug, „daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung
und Praxis einer natürlichen Theologie lehren könnten“ - was würde er dann
wohl über die heutige Lage sagen? Im Vergleich zu China, das gewaltige
Fortschritte gemacht hat, und Rußland, das seinen Weltmachtstatus
zurückgewonnen hat, spielt Europa heute die Rolle des kranken Mannes.
Ich denke aber, daß der Aufbau der Neuen Seidenstraße, der BRICS und der
Eurasischen Union einen Aufschwung auch in Frankreich und Europa hervorrufen
kann. Am Rande des Abgrunds, am Abgrund eines neuen Weltkrieges, muß
Frankreich seinen Traum der Freiheit schleunigst erneuern und diese
Entwicklungen als Hebel nutzen, um wieder ein Europa der Vaterländer
aufzubauen - für mehr Fortschritte in den Wissenschaften, den Küsten und für
seine Völker.
Eine solche Änderung wird davon abhängen, was wir nach dieser Konferenz
tun!