Die Schlüsselrolle des Staates bei großen Infrastrukturen
und das Scheitern der verwalteten Ökonomie in Frankreich
Von Jean Pierre Gérard
Jean Pierre Gérard ist Präsident des Clubs der führenden
Weltexporteure Frankreichs, Präsident der G21 und des Pomone-Instituts, Ökonom
und früheres Mitglied des Rates für Geldpolitik der Banque de France.
Jean Pierre Gérard ist Präsident des Clubs der führenden
Weltexporteure Frankreichs, Präsident der G21 und des Pomone-Instituts, Ökonom
und früheres Mitglied des Rates für Geldpolitik der Banque de France.
Ich befasse mich praktisch seit 1970 mit der Industrie - erst in der
Verwaltung, dann als Berichterstatter der Industriekommission des 7. Planes
und dann in großen Unternehmen. 1994 berief mich Philippe Séguin, der damalige
Präsident der Nationalversammlung, in den Rat für Geldpolitik.
Im Mittelpunkt meines Vortrages stehen drei einfache Ideen, die leider den
meisten Menschen kaum oder gar nicht bekannt sind.
1. Vor allem verschwendet der Staat durch die staatlichen Interventionen
finanzielle Mittel der Nation. Das führt zur Knappheit der Finanzmittel für
Aktivitäten, die produktiver sind, insbesondere in der Industrie und in der
Landwirtschaft.
2. Das muß uns zu einem neuen Ansatz bei Infrastrukturprogrammen
führen.
3. Wir müssen darauf abzielen, die wirtschaftliche Rentabilität der
Infrastruktur und der staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu
verbessern.
Als ich am Institut für Politische Studien Wirtschaft studierte, lernten
wir nach dem Lehrbuch von Samuelson, einem amerikanischen
Wirtschaftsprofessor, der später den Wirtschaftsnobelpreis bekam. Darin
erklärte er die Keynesianischen Prinzipien der Multiplikatoren und
Beschleuniger von Investitionen. Trotzdem war ich sehr überrascht, zu
erfahren, daß die Natur des Vorhabens, das auf diese Weise realisiert wird,
letztendlich bedeutungslos sei. Mit anderen Worten, man könne intelligente
Investitionen vornehmen oder auch einfach nur Löcher graben und wieder
zuschaufeln, die Resultate wären immer gleich.
Heute, nach mehr als 40 Jahren Erfahrung, traue ich dieser Behauptung
überhaupt nicht. Ich halte es für untragbar, daß Infrastrukturprogramme
gefördert werden können, ohne deren wahren Nutzen und ihre wirtschaftliche
Rentabilität gründlich zu messen.
Warum ist Rentabilität notwendig?
Meiner Meinung nach war Keynes’ Analyse weitgehend an die Währungssituation
seiner Zeit gebunden. Es bestand noch die Bindung an das Gold, auch wenn diese
Bindung bei den verschiedenen Währungen mit der Zeit stark gelockert werden
sollte. Somit war die Geldmenge der Welt offensichtlich begrenzt. Die Idee,
die öffentlichen Ausgaben zu steigern, wirkte daher wie eine
Liquiditätsspritze - etwas, was in einer Zeit knappen Geldes wie der
Nachkriegszeit und wegen der Bedeutung der Investitionen für den Wiederaufbau
der Wirtschaft zweifellos eine positive Wirkung auf die Wirtschaftstätigkeit
hatte. Die Geldmenge, die durch die öffentlichen Ausgaben geschaffen wurde,
wirkte als Kredit für verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten, die nur darauf
warteten, in Gang zu kommen. Das hat sich in allen Perioden der Geschichte
bestätigt.
Unsere heutige Lage ist eine vollkommen andere. In der heutigen Welt
herrscht überall Geldüberschuß als Folge der langen Jahre lockerer
Währungspolitik der Vereinigten Staaten, mehr oder weniger von 1990 bis 2007.
Dann kam die Finanzkrise, die durch genau diese Exzesse verursacht wurde.
Dennoch schossen die Währungsautoritäten in Amerika und Europa weiter
beträchtliche Geldsummen in die Programme, die man „Quantitative Lockerung“
nannte.

Abb. 1: Größenvergleich des weltweiten Wirtschaftsvolumens (Welt-BIP), des
Börsenkapitals und der Derivatmärkte (Werte in Billionen Dollar).
Heute herrscht ein solcher Überschuß an Liquidität, daß niemand weiß, wo er
investieren soll. Die unkontrollierten öffentlichen Ausgaben fließen immer
mehr in unrentable Aktivitäten und werden ausschließlich und systematisch
durch immer höhere Verschuldung finanziert.
Die öffentlichen Ausgaben, die im ganzen keinen Gewinn abwerfen, haben eine
dramatische Wirkung: Schrumpfen der Investitionen und des privaten Verbrauchs.
Wenn wir die folgende Grafik betrachten (Abbildung 1), dann sieht man,
daß das BIP der Welt in der Größenordnung von etwa 50.000 Mrd.$ liegt, und es
ist gedeckt durch eine Kapitalisierung der Aktienmärkte mit 100.000 Mrd.$.
Eine realistische Schätzung ist, daß 200.000 Mrd.$ notwendig wären, um die
Weltwirtschaft insgesamt am Laufen zu halten, ohne daß das Geld knapp wird. So
drehen sich 300-400.000 Mrd.$ um sich selbst, ohne irgendetwas zur
Realwirtschaft beizutragen.
Wir sind also in einer Lage, wie es sie noch nie gegeben hat: auf der einen
Seite eine Finanzsphäre, die sich nur um sich selbst dreht, und auf der
anderen Seite eine produktive Sphäre, dessen nominelle und reale Werte von der
Finanzsphäre praktisch besteuert werden. Diese Besteuerung findet in den
sogenannten Industrieländern meist direkt in Form von Steuern statt, aber auch
durch den Abzug eines wichtigen Teils der Humanressourcen (Arbeitslosigkeit).
Diese Arbeitslosigkeit wird im allgemeinen auf den Wettbewerb mit
Billiglohnländern zurückgeführt, aber der Kostenunterschied wäre nicht so
groß, wenn die Besteuerung des produktiven Sektors nicht so stark wäre.
Die von der FED und der EZB ins System gepumpte Geldmenge verschlimmert
dieses Phänomen nur noch. Die „quantitative Lockerung“ fließt praktisch
vollständig in den Finanzsektor, ohne irgendwelchen Gewinn für den produktiven
Sektor.
Ein mikroökonomischer Ansatz für große Infrastrukturprojekte
Der makroökonomische und monetäre Ansatz sagt uns in der gegenwärtigen Lage
nicht, was wir tun müssen. Dennoch scheint es möglich, eine Typologie der
Infrastruktur zu erstellen, klassifiziert nach ihren Zielen, ihren Mitteln und
ihrem Erfolg. Die verschiedenen Pläne, die es [in Frankreich] gegeben hat,
sind fast alle systematisch gescheitert, wenn sie produktive Strukturen
beeinflussen sollten. Wir stellen jedoch einige Ausnahmen fest, wo der Staat
Kunde war oder wo die notwendigen finanziellen Mittel die Kapazitäten der
wirtschaftlichen Akteure überstiegen.
1. Horizontale Interventionen
- Der erste Typ von Interventionen erfolgt durch Subventionen der
Produktions-/Erzeugerpreise. Das typische Beispiel ist die Gemeinsame
Agrarpolitik der EU, deren „bewundernswertes“ Ergebnis war, daß die deutsche
Landwirtschaft heute effizienter ist als die französische, für die sie
entworfen wurde.
- Die Steuerbefreiungen für Forschungskredite (CIR) und die
Steuerbefreiungen für Wettbewerb und Beschäftigung (CICE) sind bloß
Steuernischen, die notwendig sind, um ein alles verschlingendes
Besteuerungssystem auszugleichen.
2. Die Pläne für Wirtschaftssektoren
- der Stahlplan
- der Werkzeug- und Maschinenplan
- der Berechnungsplan
- der digitale Plan für alle
Alle diese Pläne waren dramatische Fehlschläge. Sie alle endeten mit dem
Aus für fast alle Unternehmen, die zwar zum Teil spektakuläre Erfolge
verzeichneten (so der Computerkonzern Bull), aber deren schwache Rentabilität
ihnen nicht erlaubte, die mit industriellen Aktivitäten immer verbundenen
Risiken zu tragen.
3. Die Verstaatlichungen
- Wenn man alle Verstaatlichungen rekapituliert, die seit 1981 im
Industriesektor durchgeführt wurden, dann waren sie allesamt massive
Fehlschläge.
- Die Verstaatlichungen von Banken waren auch nicht erfolgreicher (siehe
Credit Lyonnais) und führten zu der gegenwärtigen Lage der monetären Politik
unseres Landes.
4. Die Klientelpolitik
- Meines Wissens ist das die einzige vom Staat oder von Kommunen umgesetzte
Strategie, die in gewissem Maße erfolgreich war. Dies betrifft im wesentlichen
die staatlich beaufsichtigen Sektoren: Luft- und Raumfahrt, Schiffsbau und
Rüstungsgüter.
- Andere öffentliche Einrichtungen haben es geschafft, eine wirksame
Industriepolitik zu betreiben. Das Pariser Nahverkehrsnetz RATP und in einigen
Fällen sogar das nationale Eisenbahnunternehmen SNCF entwickelten
leistungsfähige Industrien. Das gleiche gilt für etliche weltweit führende
Exportfirmen.
Ich will Ihnen nur ein Beispiel anführen, das der Firma Desgranges und
Huot. Dieses Unternehmen, das Druckeinheiten für Meßgeräte entwickelt, hatte
viele Jahre lang enge Verbindungen zum Nationalen Labor für Tests, das alle
Produkte testet, die auf den Markt kommen. Ihre Zusammenarbeit, die sich über
mehr als 20 Jahre erstreckte, führte dazu, daß das Unternehmen zum
Weltmarktführer aufstieg, und das Labor selbst wurde zum weltweit führenden
Labor für Druckmessungen.
5. Die Auswahl des Führungspersonals
- Von dem Moment an, in dem das Firmenkapital dem Staat gehört, wurde die
Führung dieser Unternehmen aus der administrativen Intelligenzia ausgewählt.
Diese Leute wußten wenig über die Realitäten in Wirtschaftsunternehmen,
hielten sich aber für befähigt, Änderungen einzuführen, die mehr durch ein
Bedürfnis zur Selbstdarstellung als durch industrielle Realitäten begründet
waren.
Die Fehler der staatlichen Eingriffe und die Gründe für deren
Ineffizienz
Ich möchte diesen Vortrag gerne abschließen, indem ich versuche, zu
erklären, warum staatliche Interventionen fast immer einen Niedergang zur
Folge hatten.
1. Das erfolgreichste Programm der letzten 50 Jahre war zweifellos das
Kernkraftprogramm. Begonnen im 7. Plan unter Präsident Valéry Giscard
d’Estaing, zielte es darauf ab, unserem Land eine sehr weitgehende
Unabhängigkeit in der Energieversorgung zu verschaffen. Dieses Ziel wurde
erreicht, aber ein weniger sichtbares Ziel war, daß es Druck aufbaute, den
Ölpreis zu senken. Die Investitionen waren zwar massiv, aber die geringen
Betriebskosten verschafften unserem Land einen großen Wettbewerbsvorteil.
2. Im Gegensatz dazu litten alle anderen Programme unter den drei immer
wiederkehrenden Übeln der Interventionen französischer Regierungen in die
Wirtschaft:
- Später Start wegen der Zögerns der Politik
Der damalige Ministerpräsident Baymond Barre erklärte, der Staat sei
gezwungen, einen Telekommunikationsplan zu beginnen, wegen der bedeutenden
notwendigen Investitionen könne dies nur der Staat tun. Ein bißchen plötzlich
hatte man vergessen, daß in allen Ländern der Welt das Telefon und die
Kommunikation vom privaten Sektor entwickelt wurden. Die Telefonausrüstung war
teuer, weil man bei den Investitionen aufholen mußte, am verspäteten Start war
die staatliche Post PTT schuld. Das gleiche ließe sich über unsere Autobahnen
sagen.
- Gießkannenprinzip und Komplexität
Im Zusammenhang mit den Interventionen in einzelne Sektoren stoßen wir auf
zwei Fehler:
Gießkanne: Man sieht oft, daß bestimmte Investitionen auf mehrere
Lieferanten aufgeteilt werden mußten. Die Folge war eine Kostensteigerung, vor
allem aber ein schlechter Ruf der französischen Industrie.
Komplexität: Sehr oft wird bei den technischen Vorgaben die Vermarktung
nicht berücksichtigt. Ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung: 1988
entwickelten das französische Weltraumlabor ONERA und ein amerikanisches
Unternehmen ein System zur Blitzerfassung. ONERA baute ein System von
ausgezeichneter Qualität, das dem amerikanischen in jeder Hinsicht überlegen
war. Das kleine Problem war nur, daß es doppelt so teuer war wie das
amerikanische System und daß das amerikanische zwei Jahre früher fertig war.
Das Endergebnis war, daß der französische Wetterdienst Meteo France trotz der
Schwächen mit dem amerikanischen System ausgestattet wurde. Dieses System
wurde zwar später verbessert, doch das französische wurde niemals gebaut.
3. Jede erfolgreiche Investition muß so viel wie möglich genutzt werden
Eines der häufigsten Verhaltensmuster der französischen Politik ist, daß
man Dinge kopieren will, die anderswo erfolgreich waren, oder daß man um jeden
Preis Anlagen anschaffen will, die ein gutes Schaufenster abgeben, wie z.B.
der Schnellzug TGV. Die erste TGVs waren zweifellos ein großer Erfolg. Die
Gründe für die Investitionen in die Paris-Mittelmeer-Linie sind allgemein
bekannt, sie erklären sich durch die Notwendigkeit, neue Strecken zu bauen,
weil es Engpässe bei den Ausfahrten aus Paris gab und weil die Bevölkerung von
Paris, Lyon und Marseille zusammen ein Drittel der Bevölkerung Frankreichs
ausmacht.
Nach diesem Erfolg wollte dann jeder seinen TGV: erst im Westen, der viel
dünner besiedelt ist, dann im Osten, wo er sehr schnell Verluste machte. Seit
inzwischen mehr als zehn Jahren ist aus einem technischen und kommerziellen
Erfolg ein Verlustgeschäft geworden.
Um zum Schluß zu kommen: Sie werden verstanden haben, daß ich nicht deshalb
gegen ideologische Eingriffe des Staates in die Wirtschaft bin, weil ich der
Ansicht wäre, daß er dort keine wesentliche Rolle einnehmen könnte. Ich denke
allerdings, daß der Staat intervenieren muß, wenn es um Größenordnungen geht,
die außerhalb der Reichweite privater Investoren liegen, oder wenn die
Entwicklung neuer Produkte das Überleben des Unternehmens in Frage stellen
würde (d.h., daß es einen möglichen Fehlschlag nicht verkraften könnte). In
diesem Zusammenhang haben wir mit Erfolg den französischen Luft- und
Raumfahrtsektor aufgebaut.
Der Kanaltunnel hätte wenigstens zum Teil durch öffentliche Investitionen
finanziert werden sollen. Es war bekannt, daß bedeutende Risiken bestanden. Es
war auch klar, daß der Tunnel mindestens hundert Jahre lang die
französisch-britischen Beziehungen völlig verändern würde und daß man die
Rentabilität nicht mit dem industriellen Maßstab von 10 oder 20 Jahren,
sondern von 100 Jahren berechnen mußte. Paradoxerweise und unter dem Einfluß
von Margaret Thatcher war es die einzige große Investition, die eine
staatliche Intervention gerechtfertigt hätte, aber vom privaten Sektor
finanziert wurde.
Die Staatsmacht kann unmöglich die Bedürfnisse einer komplexen Gesellschaft
a priori bestimmen. Der Erste Plan [nach dem Krieg] hatte die Grundbedürfnisse
für den Wiederaufbau Frankreichs definiert. Aber seit dem Sechsten Plan und
noch mehr seit dem Siebten Plan waren wir gezwungen, einen autoritativen Plan
durch indikative Wirtschaftsplanung zu ersetzen. Ich denke, daß wir heute der
Wirtschaft mehr Freiheit geben müssen. Solange der Staat und die öffentlichen
Einrichtungen sich in Wirtschaftsaktivitäten engagieren, deren Rentabilität
bei Null liegt oder manchmal sogar negativ ist, wird es der privaten
Wirtschaft an Dynamik fehlen. Unter dem Zwang der Verantwortung für seine
eigene Rentabilität wird er die Kosten der zunehmend negativen Rentabilität
der Aktivitäten des öffentlichen Sektors tragen müssen.