Der Euro zwischen Wirtschaft und Recht
Von Giuseppe Guarino
Giuseppe Guarino, Professor emeritus der
Universität La Sapienza in Rom und Mitglied der Accademia dei Lincei, war
Mitglied italienischer Regierungen als Industrieminister und Finanzminister.
Der Vertrag über die Europäische Union (EUV, oder Vertrag von Maastricht)
hatte ein nachhaltiges Wachstum angekündigt. Zwanzig Jahre sind seitdem
vergangen, und von Wachstum ist keine Spur zu sehen.
In den vierzig Jahren von 1950 bis 1991 betrug das Durchschnittswachstum
des französischen BIP 3,86%. In den ersten sechs Jahren des EUV verringerte
sich das Wachstum auf 2,61% und in den folgenden dreizehn Jahren auf 1,61%.
Der Durchschnitt für Deutschland in den vierzig Jahren war 4,05%, in den
ersten sechs Jahren des EUV 2,09% und in den folgenden dreizehn Euro-Jahren
1,32%. Was soll man mehr dazu sagen?
Die am 6. Dezember 2011 in Kraft getretene Verordnung 1175/2011, § 8,
stellt anhand der gesammelten Erfahrung förmlich fest, daß „während des ersten
Jahrzehnts der Wirtschafts- und Währungsunion Fehler gemacht wurden“.
Diese Verordnung 1175/2011 ist ein ordentlicher Rechtsakt, an deren Erlaß
die EZB, die Parlamente der Mitgliedsstaaten, das Europaparlament und der
Europarat mitgewirkt haben. Sie alle haben also zugegeben, daß Fehler begangen
wurden.
Wer hat die Fehler gemacht und wann? Ein Fehler geschah durch die
Verordnung 1466/97, deren Hauptakteur die EU-Kommission gewesen war. Die
Verordnung 1466/97 trat am 1. Januar 1999, dem Tag der Einführung des Euro, in
Kraft. Sie blieb dreizehn Jahre gültig, bis zum 6. Dezember 2011. Die
Verordnung steht zum Vertrag wie ein einfaches Gesetz zur Verfassung. Ein
Gesetz kann die Verfassung nicht ändern. Ein einfaches Gesetz, das bewußt und
direkt die Verfassung ändern soll, ist nicht nur unrechtmäßig, sondern
grundsätzlich ungültig und im Grunde genommen subversiv.
Das war es, was 1999 geschah. Die Verordnung 1466/97 hat ein neues Prinzip
eingeführt, das sich in einen direkten und grundlegenden Gegensatz zum
Vertragsrecht setzte. Art. 104 c) des EUV (die berühmte Maastricht-Regel) legt
das Verhältnis Verschuldung/GDP auf 3% fest. Die Verordnung 1466/97
verpflichtete die Staaten zu einem ausgeglichenen Haushalt. Art. 104 c) des
EUV gewährt den Staaten das Recht auf die Möglichkeit, sich bis zu 3% jährlich
zu verschulden. Die Verordnung hat die 3% durch 0% ersetzt. Eigentlich eine
„subversive“ Handlung.
Der Lissaboner Vertrag hat im Art. 126 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union) den Art. 104 c) des EUV wörtlich wiedergegeben und ihn
als von Anfang an ununterbrochen geltendes Gesetz übernommen. Dennoch hat die
Kommission weiterhin, contra legem das Prinzip des Haushaltsausgleichs
angewandt.
Die Disziplin des Art. 104 c) EUV und des Art. 126 AEUV war ein Produkt der
jahrzehntelangen, besser, jahrhundertelangen Erfahrung aller fortgeschrittenen
Staaten der Welt. Wenn festgestellt wird, daß ungenutzte oder nutzbare
Produktionsfaktoren vorhanden sind, muß der Staat, um davon Gebrauch zu
machen, über eine Marge von Verschuldungskapazität verfügen.
Am 1. Januar 1999 spürten alle Staaten, die sich zum Euroeintritt
qualifiziert hatten, den Zwang, dem sie durch die Konvergenzdisziplin
unterworfen worden waren. Vitale Faktoren der Volkswirtschaft waren verloren
gegangen. Hätten die Staaten über die 3% Verschuldungskapazität verfügt,
hätten sie diese Faktoren zurückgewinnen können. Der Zwang zum
Haushaltsausgleich hat die Fähigkeit der Staaten blockiert, wieder zu Kräften
zu kommen, und hat eine Depressionsspirale verursacht.
Die Verordnung 1175/2011, welche die Irrtümlichkeit der Ver. 1466/97
feststellte, hat letztere zwar abgeschafft; aber die neue Verordnung ist
sofort auf Eis gelegt worden, um Platz für Maßnahmen zu schaffen, die eine
frühe Anwendung des Fiskalpakts darstellten. Die Lage wurde dadurch immer
verworrener. Der [jetzt eingeführte] Fiskalpakt wiederholt nicht nur, sondern
verschärft noch die Verpflichtung zum Haushaltsausgleich. Er macht den
Gegensatz zu Art. 126 AEUV noch krasser. Der Fiskalpakt als völkerrechtlicher
Vertrag hat keine Autorität in Sachen Euro. Art. 126 darf nur durch die
Prozedur nach Art. 48 EUV (Lissabon) geändert werden. Um die Verwirrung noch
größer zu machen, heißt es im Text des Fiskalpakts, er sei nur unter der
Bedingung der Übereinstimmung mit den eigentlichen Europäischen Verträgen
gültig. Diese Übereinstimmung gibt es aber nicht. Der Fiskalpakt ist damit
nicht anwendbar. Trotzdem wird seine Beachtung verlangt.
Der Euro ist eine Reservewährung. Sowohl die wichtigsten Zentralbanken als
auch Geschäftsbanken haben Euroreserven. Fast alle europaweiten Geschäfte
werden in Euro abgewickelt. Die Unrechtmäßigkeit des Ausgleichsprinzips, die
durch den Fiskalpakt und die ihm entsprechenden Gesetze verursachte Verwirrung
beeinträchtigt die internationale Rolle der Währung. Falls sich die Märkte der
in der Verwaltung des Euro begangenen Fehler und des Mangels einer klaren und
festen Rechtsbasis bewußt werden, kann das unglaublich schwere Folgen haben.
Die Staaten haben durch die Gewährleistung von Art. 126 AEUV (Lissabon) die
Pflicht, über die 3%-Marge bei den jährlichen Ausgaben zu verfügen. Die
EU-Organe sind förmlich und unwiderruflich verpflichtet, zu erklären, daß die
Staaten zu einer Verschuldungskapazität von bis zu 3% berechtigt sind und daß
Art. 126 AEUV mit strenger Sorgfalt beachtet wird.
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