Eine Friedensperspektive für Syrien und die Region
Von Prof. Bassam Tahhan
Prof. Bassam Tahhan, Sprecher des Kollektivs für Syrien,
Professor für Arabische Zivilisation in den Vorbereitungsklassen des Lycée
Henri IV und der Nationalen Hochschule für fortgeschrittene Technologien
(ENSTA), Paris, verglich das heutige Vorgehen des Westens gegen Syrien und den
Iran in seiner Rede bei der Konferenz des Schiller-Instituts am 24. 11. 2012
mit den Kreuzzügen.
Jenseits der Nuancen einer komplexen Realität würde ich zunächst einmal
sagen, daß das, was in der heutigen Welt geschieht, ein Kreuzzug gegen den
Nahen Osten ist - ein wirklicher Kreuzzug. Ich werde versuchen, die
Ähnlichkeiten zwischen dem, was wir heute erleben, und den Kreuzzügen der
Vergangenheit aufzuzeigen, obwohl es nicht nur ein Kreuzzug ist, sondern auch
eine neue Schlacht, die sich an den Kalten Krieg anschließt. Neben der
„monopolaren“ Welt und dem neuen Weltsystem, das durchgesetzt werden sollte,
gibt es auch diese Dimension, sie ist nicht zu bestreiten.
Wer heute die Schlacht um Syrien gewinnt, der gewinnt die erste Schlacht
dieser Welt, die tendenziell bipolar ist. Mit anderen Worten, die Vereinigten
Staaten und der Westen sind sich darüber im klaren, daß sie an Boden verlieren
und deshalb nicht bloß symbolische Kriege führen müssen, sondern reale Kriege,
um sich gegen Rußland, den Iran und dessen Verbündete im sog. „Schiitischen
Halbmond“ durchzusetzen. (Ich nehme für mich in Anspruch, diesen Begriff
geprägt zu haben, und ich werde noch auf seinen Hintergrund eingehen und
darauf, wie er vom Pentagon mißbraucht wurde.)
Die ganze Welt ist in die Schlacht um Syrien verwickelt: die Vereinigten
Staaten, Europa, die Länder des Ostens und natürlich die geographische Mitte,
also Syrien, die arabische Welt, die Türkei usw.
Ich möchte mit dem westlichen Lager beginnen, bestehend aus den Vereinigten
Staaten, England, Frankreich, Europa insgesamt, Deutschland - zum Glück nur
halbherzig - und der Türkei, einem Vorposten der NATO.
Ich möchte etwas detaillierter auf die französische Politik eingehen.
Warum? Weil die Kreuzzüge vor allem von Frankreich ausgingen, die anderen
wurden dann mit hineingezogen.
Sie wissen wahrscheinlich nicht, wer General Gouraud war. Er hat in den
zwanziger Jahren Syrien erobert. Um Ihnen eine Vorstellung von diesem Mann zu
geben: Nachdem er im Kampf verwundet worden war, fragte man ihn, ob er lieber
einige Monate im Krankenhaus bleiben wolle, um seinen Arm zu retten, oder in
den Kampf zurückkehren, dann müßte sein Arm amputiert werden. Und er
antwortete: „Gut, amputiert mir den Arm, ich will zurück aufs Schlachtfeld.“
Bloß ein interessantes Detail...
Dieser General Gouraud, der Leiter des Feldzugs gegen Syrien, führte die
französischen Truppen gegen Damaskus und besetzte Damaskus. Dort war gerade
ein Parlament demokratisch gewählt worden und man wollte einen Staat gründen,
der den gesamten Nahen Osten repräsentiert - Libanon, Jordanien; das war König
Faisal, der Sohn des Scharif Hussein von Mekka, ein Haschemit. Aber warum rede
ich hier über Gouraud und die Kreuzzüge? Weil General Gouraud, als er in die
Umayyaden-Moschee in Damaskus kam - dort ist der Sarg Saladins, ein Symbol für
den Islam und die Araber, weil er Jerusalem befreite -, und was sagte er da,
am Sarg Saladins? „Wir sind zurück, Saladin!“
Wir sind zurück, Saladin! - Der Bezug auf die Kreuzzüge könnte nicht
deutlicher sein.
Wenn man also sagt, daß der gegenwärtige Krieg in Syrien ein neuer Kreuzzug
mit Beteiligung westlicher Kräfte ist, dann ist man gar nicht weit von der
Wahrheit entfernt. Das gilt auch für alle die nationalistischen
Kolonialkriege, die geführt wurden, vor allem von Frankreich und England, weil
man nicht sagen kann, daß Deutschland im Vergleich mit ihnen eine große
Kolonialmacht war; aber alles ist relativ. Dieser Geist der Kreuzzüge war die
Verbindung des Kolonialkriegs in Syrien bei der Umsetzung des
Sykes-Picot-Abkommens mit dem, was früher mit der zwei Jahrhunderte langen
Besetzung Palästinas und der Türkei, Antiochiens, geschehen war. Man sieht,
daß das alles geographisch und geopolitisch sehr nahe beieinander liegt.
Bild: Wikipedia Commons/MapMaster/cc-by-sa 3.0
Von den Kreuzfahrern gegründeten Staaten in der Levante. Die heutige
Politik des Westens gegenüber dem Nahen Osten erinnert in vielem an die
Kreuzzüge: Tatsächlich ging und geht es um politischen und wirtschaftlichen
Einfluß.
Erlauben Sie mir, bezüglich der ursprünglichen Kreuzzüge an etwas zu
erinnern. Heute sagt man uns, der Papst solle sich wegen der Kreuzzüge bei den
Muslimen entschuldigen. Aber offen gesagt, wenn er sich entschuldigt, dann
sollte er das besonders bei den Christen des Orients tun, denn erst nach den
Kreuzzügen wurden die meisten Christen im Orient gezwungen, zum Islam
überzutreten. Das ist eine Tatsache. Wenn man die Chroniken der Kreuzzüge
liest, da heißt es, als Jerusalem erobert war, da waren sie stolz, daß die
Pferde bis über die Hufe in Blut standen. Wen hatten sie massakriert? Die
Christen und Juden von Jerusalem!
Die Idee, daß die Kreuzfahrer aufbrachen, um das Heilige Grab und die
Pilger zu schützen, indem sie die Pilgerwege sichern, war also nur ein
Vorwand. Der Beweis dafür ist, daß Byzanz bei mehreren Kreuzzügen geplündert
und verwüstet wurde. Wer hat das getan? Die westliche Christenheit.
Kommen wir darauf zurück, was seine Exzellenz, der Herr Botschafter [Sheikh
Attar] gesagt hat, nämlich, daß das Christentum für Samuel Huntington mehr
westlich als östlich ist. Das ist eine gewaltige Absurdität, eines Denkers
unwert. Warum? Darf ich Sie daran erinnern, daß der heilige Johannes von
Damaskus der Autor der theologischen „Summa der Welt“ war, lange vor dem
heiligen Thomas von Aquin. Gestatten Sie mir bitte, hier einmal als Sprecher
des östlichen Christentums aufzutreten und dafür zu werben.
Politik ohne Moral
Um auf den Krieg gegen Syrien zurückzukommen, so sind natürlich alle
Christen des Nahen und Mittleren Ostens bedroht, aber nicht bloß die Christen,
sondern alle Minderheiten. Warum? Weil die westliche Politik heute die
ultra-sunnitische Karte gegen die Schiiten ausspielt, die als eine Minderheit,
die in der gesamten Geschichte verfolgt wurde, eine meines Erachtens
revolutionäre Botschaft haben. Ich werde noch auf das Konzept des Schiitischen
Halbmonds zurückkommen.
Wir haben die Minderheiten erwähnt, und das bringt uns zurück zur
französischen Politik unter Franz I. [im 16. Jh.], der zwei Sorgen hatte - das
österreichisch-ungarische Reich und Deutschland. Er mußte ihnen entgegenwirken
und verbündete sich dazu mit den Türken. Er erhielt die Kapitulationen
[Abkommen mit dem Osmanischen Reich], die Frankreich das Recht gaben, die
Minderheiten zu schützen. Und er hat sich daran gehalten.
Wenn wir also von einer Arabienpolitik Frankreichs sprechen, dann müssen
wir uns zuerst auf Franz I. beziehen, der Massaker an den Minderheiten
untersagte. Der Gaullismus hat diese französische Politik später aufgegriffen.
Aber de Gaulle fügte noch etwas hinzu: die Versöhnung mit Deutschland. Das
bedeutete also, daß die französisch-deutsche Rivalität beseitigt und
gleichzeitig die Rechte der Minderheiten gewahrt und der Islam anders
behandelt wurden.
Nun sagen Sie mir: Was ist von diesem Gaullismus in Frankreich heute noch
übrig? Nicht viel. Wenn man die französisch-deutschen Beziehungen anschaut -
die haben nichts füreinander übrig. Es bildet sich keine wirklich europäische
Kraft, die gegenüber den Vereinigten Staaten eine politische und strategische
Eigenständigkeit behauptet. Frankreich und Deutschland sind heute Vasallen, in
einem Lakaienverhältnis, es gibt keine Unabhängigkeit. Ich warte immer noch
darauf, daß mir jemand ein Beispiel nennt, wo Europa tatsächlich einen
Spielraum hat, frei zu handeln.
Immer wenn die Europäer eine Interventionstruppe aufstellen wollten, haben
die Amerikaner das nicht zugelassen. Aber ein Land, das sich selbst achtet,
muß die militärischen Mittel für seine Politik haben. Wenn die USA ihrer
Stimme Gehör verschaffen können, dann deshalb, weil sie innerhalb von Stunden
Hunderttausende Soldaten, Flotten, Artillerie etc. mobilisieren können. So
werden wir Europäer an den Rand gedrückt. In diesem Schauspiel haben wir nicht
die Hauptrolle.
Speziell auch Frankreich, das gerade die Koalition der Opposition anerkannt
hat, nachdem es vorher den Syrischen Nationalrat (SNC) anerkannt hatte. Wer
bildet in beiden die Mehrheit? Islamisten, machen wir uns nichts vor. Zwei
Drittel des SNC sind Muslimbrüder! Erzählen Sie mir also nicht, bei diesem
Kreuzzug ginge es um freie Demokratie! Nein, er dient wirtschaftlichen und
politischen Gründen, um die Macht zu behaupten und vielleicht eine große
Konfrontation mit dem Osten vorzubereiten. Denn wenn Syrien fällt, dann macht
das den Weg frei für die Destabilisierung des Iran, Rußlands, Chinas.
Und es gibt wirklich ein moralisches Problem beim Interventionismus.
Welches Recht haben wir, mit ausländischen Armeen oder über vom Ausland
finanzierte Extremistengruppen zu intervenieren, um ein Land zu
destabilisieren und ein politisches Regime zu stürzen? Wer das in Syrien tut,
der kann es auch anderswo tun.
Frankreich verletzt hier also seine eigenen Prinzipien, und nicht nur
Frankreich, sondern der Westen. Wir sind in Deutschland, dem Lande Kants, das
eine Ethik hat. Sagen Sie mir also: Wo ist die Ethik in dieser Intervention,
wo sind die Werte des christlichen Westens oder der weltlichen Französischen
Revolution, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker achtet?
Mir scheint, Frankreich hat hier alle nur denkbare Kritik verdient. Man
sagt uns: „Nein, wir wollen die Rebellen nicht bewaffnen“ - allerdings sagen
sie nicht „Rebellen“, weil es ihrer Ansicht nach Revolutionäre sind - „wir
werden ihnen keine Waffen liefern, nur Nachtsichtgeräte.“ Was praktisch
bedeutet, daß sie es anderen Ländern überlassen, sie zu bewaffnen, und
Frankreich nur noch das Sahnehäubchen auf den Kuchen setzt.
Tatsache bleibt, diese Leute erhalten Waffen, und wir verhelfen ihnen zu
moderner Elektronik, damit ihre Massaker noch effektiver werden. Wir müssen
offen sagen, daß England sie bewaffnet. Das bringt uns zurück auf die
Kreuzzüge. England machte die Kreuzzüge mit und ist heute an allen Kriegen im
Nahen Osten beteiligt. Blair ist eher ein Berater für Krieg als für den
Frieden, sei es beim Irakkrieg oder heute beim Syrienkrieg.
Und so fragen wir: Wohin steuert Frankreich, aber auch Deutschland?
Deutschland ist ein wichtiges Land. Ich sehe es von außen, ich habe nie in
Deutschland gelebt, Sie können also das, was ich sage, als die persönliche
Ansicht eines Menschen betrachten, der die Probleme in Deutschland nicht kennt
- einem Geopolitiker, der in Syrien geboren wurde und seit 40 Jahren in
Frankreich lebt. Deutschland sollte seinen Komplex aus dem Zweiten Weltkrieg
ablegen und sich die Mittel verschaffen, die seiner wirtschaftlichen Macht
entsprechen. Wenn ich Deutscher wäre, könnte ich nicht leben ohne das
uneingeschränkte Recht, so zu existieren, wie ich das für richtig halte. Es
wird ständig versucht, Deutschland an den Rand zu drängen, vielleicht gerade
wegen seiner weltweiten wirtschaftlichen Macht. Ich verstehe nicht, warum es
keinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat hat. Wir müssen die Komplexe des
Zweiten Weltkriegs überwinden, das liegt hinter uns. Wir bauen jetzt eine neue
Welt. Wie lange werden wir das Diktat der USA hinnehmen - politisch,
wirtschaftlich, strategisch, wozu? Als Deutscher würde mich das wütend machen,
es ist einfach unlogisch. Ich würde gerne hören, was Sie dazu zu sagen
haben.
Heute rät Blair der türkischen Regierung, Patriot-Raketen an die syrische
Grenze zu schicken. Unter uns gesagt, ich habe keine Angst vor den
Patriot-Raketen. Ich würde den Amerikanern raten, ein paar deutsche Ingenieure
anzuheuern, um ihre Leistung zu verbessern. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die
amerikanischen Patriot-Raketen nicht besonders gut funktionieren und viele der
abgeschossenen Raketen nicht gestoppt haben. Ich finde die amerikanische
Arroganz abstoßend.
Warum sollen die Patriot-Raketen an der türkischen Grenze aufgestellt
werden? Ich werde es Ihnen sagen, wenn wir betrachten, was heute in Syrien
geschieht. Weil die türkische Armee sich vom Parlament das Recht geben ließ,
auf syrischem Territorium zu intervenieren.
Aber das, z.B. die Grenzstadt Harem, das erwähnen die westlichen Medien
überhaupt nicht, es ist fast schon zum Lachen. Die meisten Informationen, die
über die Krise im Nahen Osten verbreitet werden, sind gefälscht oder erfunden.
Dies ist ein militärischer Feldzug, nach einem langen Feldzug in den Medien,
um die öffentliche Meinung auf eine Intervention in Syrien vorzubereiten.
Warum Syrien?
Warum Syrien? Das bringt uns auf den „Schiitischen Halbmond“, einen
Begriff, den ich selbst geprägt habe. Ich lehre seit 30 Jahren in Frankreich
Geopolitik.
Hafis Al-Assad kam 1970 in Syrien an die Macht. Für diejenigen, die das
nicht wissen: Hafis Al-Assad war Alewit, er gehörte also zu einer Minderheit
der Schiiten, die jahrhundertelang verfolgt wurde. Um Ihnen eine Vorstellung
von dem Haß all dieser westlichen und ultra-orthodoxen Propaganda zu geben:
Eine der Parolen der Rebellen heute lautet: „Die Christen nach Beirut, die
Alewiten in den Sarg.“ Im Arabischen reimt sich das. Oder um nur ein Beispiel
zu geben: Wenn in Latakia ein Alewit auf der Straße geht, kann es passieren,
daß jemand einen Müllsack auf ihn wirft.
Ich muß seiner Exzellenz, dem iranischen Botschafter, widersprechen: Der
Westen hat die syrische Baath-Partei nicht unterstützt, aber er half der
irakischen Baath-Partei, um die syrische Baath-Partei, die damals von der
Sowjetunion unterstützt wurde, zu schwächen. Und das einzige arabische Land,
das den Iran [im iranisch-irakischen Krieg] gegen Saddam Hussein unterstützt
hat, war Syrien unter der Baath-Partei und Hafis Al-Assad.
Assad kam 1970 an die Macht und zehn Jahre später kam es zu Chomeinis
Revolution. In der Zwischenzeit half Assad den Schiiten im Südlibanon, die
keine Alewiten, aber Schiiten sind, die ihm nahestehen. Das war der Zeitpunkt,
das will ich Ihnen nicht verschweigen, als ich in meinen Kursen sagte, daß
sich ein Schiitischer Halbmond bildet.
Ich habe das nicht erfunden. Ich las die Geschichte der schiitischen
Fatimiden in Ägypten. Im 11. und 12. Jahrhundert schufen die ägyptischen
Fatimiden eine schiitische Renaissance, die bis in den Fernen Osten wirkte,
und der Iran war damals noch nicht schiitisch. Die Idee des Schiitischen
Halbmonds, die von den damaligen Chronisten beschrieben wurde, bestand darin,
daß ein schiitisches Ägypten und ein Syrien mit schiitischer Mehrheit das
sunnitische Kalifat in Bagdad einkreisen. Dieser Schiitische Halbmond war
ziemlich erfolgreich, denn der Iran wurde schiitisch.
Heute ist der Schiitische Halbmond ein positives Konzept, eine Revolution
gegen ein gewisses westliches Denken und gegen den ultra-orthodoxen Islam, und
lehnt freie Interpretationen oder den Dschihad ab. Die Sunniten haben im 10.
Jahrhundert aufgehört, eigene Bemühungen zur Erklärung der Religion zu machen,
aber nicht die Schiiten. So gesehen ist das Schiitentum ein offenes
philosophisches System und als solches revolutionär.
Später wurde ich an die Führungsakademie der Streitkräfte [in Paris]
eingeladen. Die erste Vorlesung, die ich dort hielt, war über den Schiitischen
Halbmond. Diese Hochschule ist eine Strategieschule des Militärs, die jedes
Jahr rund 500 Generäle aus der ganzen Welt ausbildet. Ich sprach darüber auch
im französischen Fernsehen, und einige Monate später äußerte König Abdullah
von Jordanien - ein Sunnit und natürlich ein Haschemit, das waren ursprünglich
Schiiten, die unter dem Einfluß des Osmanischen Reiches Sunniten wurden -, er
habe Angst vor dem Schiitischen Halbmond.
Wir haben hier über Wasser gesprochen. Die natürliche Grenze Syriens reicht
bis zu den Ausläufern des Taurus, einem wasserreichen Gebiet der Türkei, das
früher zu Syrien gehörte. Als Zugeständnis an die Türkei hat Frankreich die
Grenze dreimal zurückverlegt, und dadurch verlor Syrien viele Städte. Noch
schlimmer, Frankreich hat seine eigene Arabienpolitik verraten, den Schutz der
Minderheiten, denn die Hauptstadt der Christen des Orients, lange vor Rom, war
Antiochia. Dort wurden die Christen in den Berichten der Apostel erstmals als
Christen bezeichnet. Was die französische Monarchie nie gewagt hatte, tat die
Republik 1938, indem sie Antiochia [heute Antakya] und Alexandrette [heute
Iskanderun] nach einem Referendum den Türken überließ, um die Türkei als
Verbündeten Deutschlands wegzubrechen. Dadurch haben sie die Christen des
Orients enthauptet und beseitigten die historische Hauptstadt Syriens, die
einer der Generäle Alexanders, Antiochius, gegründet hatte - Alexandrette
hatte Alexander selbst gegründet.
Das ist noch nicht alles. Der Norden des Irak, darunter Mosul, lag im
blauen Teil des Sykes-Picot-Planes, d.h. gehörte zu Frankreich. Aber man
sieht, wie der Kolonialismus arbeitet: Sie gaben Mosul den Engländern, um
dafür 23,5% der Öleinnahmen des Ölkonzerns zu erhalten.
Soll man wirklich erwarten, daß die Menschen in dieser Region an westliche
Werte glauben? Wo ist die Ethik in einer Politik, die ein Land nimmt und
auseinanderbricht, und einige Teile dem Irak gibt oder den Engländern oder der
Türkei, während man einen Pufferstaat in Jordanien schafft, um die Existenz
Israels zu ermöglichen? Und heute ist es der eigentliche Zweck des Kampfs um
Syrien, den Iran zu teilen und den Schiitischen Halbmond zu zerstören.
Der Irak wurde in Schutt und Asche gelegt. Aber was geschah davor? Sie
organisierten die Konferenz von Madrid. Was kam dabei heraus? Es war bloß, um
die Araber zu trösten, aber es kam nichts dabei heraus. Es geschah bloß, um
Arafat zur Unterzeichnung des Osloer Abkommens zu bewegen. Ich bin gegen das
Osloer Abkommen, weil man für jeden Artikel des Abkommens eine weitere
Konferenz bräuchte, die genauso wichtig ist. Haben die Palästinenser irgend
etwas davon gehabt? Gar nichts. Und wenn man heute Syrien zerschlägt, was
erreicht man damit? Man zerschlägt die einzige reguläre Armee, die keinen
Friedensvertrag mit Israel zum Schleuderpreis unterzeichnet hat. Denn Syrien
soll einen nachteiligen Vertrag unterzeichnen und die Golanhöhen für 99 Jahre
[an Israel] verpachten! Der Golan ist syrisch, trotzdem verteidigt der gesamte
Westen diese Politik.
Man nennt die Syrer die Deutschen des Nahen Ostens. Ich bin stolz darauf -
vielleicht bin ich ja sogar ein Bastard Friedrichs des Großen! In der
populären Literatur beschreibt man die Alewiten, um sie zu demütigen, als
Deutsche, um damit anzudeuten, daß sie keine echten Araber sind, sondern
Nachfahren der Kreuzfahrer!
Wer verbreitet diese Propaganda? Unsere Verbündeten. Wer geht nach Afrika
mit dem Imam im Schlepptau, um dort wahabitische Moscheen zu gründen? Man
nimmt irgendeinen Afrikaner, schickt ihn nach Mekka, lehrt ihn die
wahabitischen Dogmen, und dann geht er nach Hause, bekommt dort eine
wunderschöne Moschee aus Marmor, und man sagt ihm: Jetzt mußt du alle
moderaten Muslime in der Region exkommunizieren.
Dabei ist der sunnitische Islam nicht fanatisch, es gibt großartige Dinge
im sunnitischen Islam. Ich kann Ihnen ein Beispiel dafür anführen. In Bagdad
gab es einen heiligen Mann namens Abu Mansur al Hallaj, und es gab eine Kabale
gegen ihn, weil er sagte, er rede mit Gott. Die Leute verlangten, daß man ihn
kreuzigte. Als er vor den Toren Bagdads gekreuzigt wurde, kam einer seiner
Schüler vorbei und fragte ihn: „Was ist Mystizismus?“ Und er antwortete: „Die
niedrigste Stufe auf der Leiter des Mystizismus ist das, was du hier siehst:
die Kreuzigung.“
Sie sehen, wie der sunnitische Islam eine außerordentliche Spiritualität
hervorgebracht hat. Aber heute wird dieses Erbe aufgegeben und es wird eine
wahabitische Sekte unterstützt. Die Wurzeln des Wahabismus im Islam sind nicht
tief, er entstand erst im 19. Jahrhundert. Was geschah, war, daß wir alle, in
ganz Europa, dem amerikanischen Diktat unterworfen wurden. Sie schlossen einen
Pakt mit dem Haus Saud, das sind 25.000 Prinzen, die den Reichtum Arabiens
ausbeuten, der ihnen gar nicht gehört. Zuerst waren es die Engländer, die
ihnen das erlaubten, dann die Amerikaner, und 2005 verlängerte Bush den
Vertrag, daß die Saud-Dynastie im Austausch gegen saudisches Öl für weitere 60
Jahre geschützt werden wird. Das schockiert mich. Ich bin im Jahrhundert der
Vernunft aufgewachsen, mit Kants Moral, Hegels Dialektik, und deshalb kann ich
so etwas auf internationaler Ebene nicht akzeptieren.
Und hier sehen wir, daß Ihre Bewegung wirklich außerordentlich ist, sie
bildet die Dissonanz in der Landschaft...
Medienlügen
Kommen wir auf das heutige Syrien zurück, um die Medien zu widerlegen, die
die Wahrheit verbergen. Ich stehe täglich mit Syrien in Kontakt, ich komme aus
Aleppo. Von den 3000 Fabriken, die es früher in Aleppo gab, sind nur noch ein
paar Dutzend übrig. Die Rebellen haben sie zerbombt. Der Herr Botschafter
sprach von 5000 Dschihadisten. Tatsächlich sind es mehr, viel mehr. Per
Luftfracht werden Jemeniten, Somalis, Libyer ins Land gebracht. Eine
Islamistische Internationale kommt nach Syrien, um dort zu kämpfen, und
massakriert dort die Minderheiten und die Moderaten. Wenn man die Straßen
entlang geht und man wird von jemandem gerufen, dann muß man antworten „Allah
akbar“ - Gott ist groß. Solange man durch die Stadt läuft, muß man das ständig
rufen.
Man sagt Ihnen, die loyalistische Armee bombardiere Apotheken. Ich
verteidige hier nicht die syrische Regierung, das ist eine Kleptokratie. Aber
das rechtfertigt nicht, was heute geschieht oder daß der Westen diesen
Rebellen Unterstützung gibt.
Vor diesen ganzen Ereignissen hat die frühere rechte Hand Bin Ladens die
Al-Kaida-Leute aufgerufen, nach Syrien zu gehen. Vor ein paar Wochen hat
Zawahiri diesen Aufruf wiederholt. Erklären Sie mir bitte dieses Paradox: Wenn
wir im Westen Amerika geholfen haben, Krieg gegen Afghanistan zu führen, wie
kann man dann Waffen an die Dschihadisten in Syrien schicken?
Anfangs sagte man mir: Herr Tahhan, Sie sind ein Lügner. Aber sehen Sie
sich nun die jüngsten Nachrichten an: Das islamistische Emirat von Aleppo mit
seinen zwei Bataillonen erkennt die Koalition nicht an. Sagen Sie mir nicht,
in Aleppo gäbe es keine Islamisten. Sie setzten dort Inquisitions-Tribunale
ein. Man sagt Ihnen, in den befreiten Gebieten werde es andere Gesetze geben.
Aber das ist die Scharia! Sagen Sie mir: Ist der Westen hier nur heuchlerisch,
oder auch kriminell? Die Waffen, die England schickt, werden dazu benutzt,
Menschen zu massakrieren.
Warum die Kreuzzüge? Es gab Christen, die auf Seiten der Moslems gegen die
Kreuzritter kämpften, und es gab arabische Muslime, die mit den Kreuzrittern
Geschäfte machten und ihre Brüder verrieten. Heute sind Saudi-Arabien und
Katar wie die Beduinen, von denen man in der Chronik der Kreuzzüge lesen kann,
daß sie sich aus dem einen oder anderen Grund den Kreuzfahrern
anschlossen.
Das Schockierende ist, daß uns die westlichen Medien für naiv halten, wie
Schafe, die bloß applaudieren, Ja sagen und kein eigenes Urteil wagen. Das ist
ungeheuerlich. Wir sind an einem Verbrechen beteiligt: Wenn man die Rebellen
in Syrien bewaffnet, dann beteiligt man sich an einem organisierten
Verbrechen.
Und wofür? Um dem Iran die Flügel zu stutzen. Man kann den Iran nicht
frontal angreifen, auch die Hisbollah nicht. Wie Frau LaRouche heute morgen
schon gesagt hat: Der Boden wird bereitet, und der Test dafür begann in Gaza.
Sie konnten die Hisbollah nicht angreifen, weil sie kein Staat sind und
reagiert hätten. Sie konnten den Iran nicht angreifen, weil er zu groß ist,
mit Hunderttausenden von Raketen und einem großen Territorium; um den Iran auf
die Knie zu bringen, müßten alle mitmachen. Nur eine schwache Stelle blieb im
Fadenkreuz: Syrien.
Dann fiel der Arabische Frühling vom Himmel. Man braucht also nicht mehr zu
provozieren, um Syrien anzugreifen, der Wurm war schon im Apfel. Sie brauchten
bloß den Arabischen Frühling zu unterstützen, ihn vereinnahmen und das Land
zerstören. Ich behaupte, es wird keine Intervention geben, denn wenn sie die
Rebellen bewaffnen, dann wird die syrische Armee nach und nach zerfallen und
das Land ist sowieso schon zu mehr als 50% zerstört.
Ein Beispiel von den Rebellen in Aleppo. Sie kennen die Stadt Oradour sur
Glane - die traurige Geschichte von dem kleinen Ort in Frankreich, wo alle
Bewohner in der Kirche verbrannt wurden. Vor anderthalb Monaten gab es ein
Oradour in Al-Ideydeh, einem christlichen Stadtviertel, das bis ins 16.-17.
Jahrhundert zurückreicht. Da gab es ein altes Haus, so ein bißchen wie im
Marais-Viertel [von Paris] mit seinen wunderschönen Häusern, und Präsident
Baschar Al-Assad ging immer in diesem Luxushotel essen - ein altes
christliches Haus, das Zamarihya-Haus. Die Islamisten griffen Al-Ideydeh an,
und alle Alewiten oder angeblich regierungsfreundlichen Familien wurden in
diesem Hotel zusammengetrieben. Dann haben sie zwei Benzinkanister geholt und
ließen das Hotel drei Tage lang niederbrennen.
Aber davon hört man nichts. Das Syrische [Menschenrechts-]Observatorium in
London, das von den britischen Geheimdiensten unterstützt wird, meldet, wie
viele Tote es jeden Tag gibt. Aber sie sagen Ihnen nicht wo.
Was die Apotheken angeht: Es sind die Rebellen, die sie plündern, und sie
zerstören die ganze Infrastruktur, um die Stadt Aleppo dafür zu bestrafen, daß
sie sich nicht der Rebellion angeschlossen hat, und die Fabriken werden
demontiert und in die Türkei verkauft.
Was verbindet die Türkei mit den Kreuzzügen? Wenn man diesen schmalen
Streifen an der türkischen Grenze betrachtet - dort waren die kleinen
Königreiche der Kreuzfahrer. So schließt sich der Kreis. Da ist der Westen,
der mit dem Segen der USA und der Türkei als Vorposten einen Krieg gegen den
Schiitischen Halbmond führen will. Wenn man zuließe, daß der Schiitische
Halbmond sich mit dem Sunnitischen Halbmond vereint, dann würde das ein
Vollmond. Und das ist es vielleicht, was der Westen fürchtet.
Wenn man einen solchen Krieg führt, dann wird einfach folgendes passieren:
Es wird mehr Kriege geben, und die Rebellen, die man fördert, werden
möglicherweise noch weiter kommen als bis nach Poitiers. Oder es kommen noch
andere Revolutionäre, die über Poitiers hinaus vorstoßen, und dann wird der
Arabische Frühling nicht mehr ein arabischer sein, sondern ein
europäischer.
|