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Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Die höhere Macht von Mozarts Don Giovanni

Von Harley Schlanger

Anläßlich einer Inszenierung in Houston/Texas unter der musikalischen Leitung von Trevor Pinnock befaßt sich der Autor mit der Bedeutung von Mozarts Oper Don Giovanni, die mehr ist als bloße Unterhaltung.

An einem kalten Abend im November 2010 betrat ich in gespannter Erwartung das Nationaltheater in Prag. Zusammen mit einigen Freunden besuchte ich eine Aufführung von Don Giovanni in dem Theater, in der die Oper am 29. Oktober 1787 unter der Leitung ihres Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart uraufgeführt worden war.

Der Impresario des Theaters, Bondini, hatte die Oper im Januar jenes Jahres in Auftrag gegeben, nachdem Mozarts vorangegangene Oper Die Hochzeit des Figaro in Prag Begeisterungsstürme ausgelöst hatte. In Wien war der Figaro Konkurrenzkämpfen und Intrigen am Hofe von Kaiser Joseph II. zum Opfer gefallen - eine Gruppe von Aristokraten sah darin zurecht einen Angriff auf ihren Status und ihre Macht - aber bei den Einwohnern Prags wurde er ein großer Erfolg, und Mozart kommentierte: „Meine Prager verstehen mich.“

Auch seinen Don Giovanni liebten die Prager, in Wien hatte aber auch dieser kaum Erfolgschancen (mehr dazu unten).

Leider erzielte die Aufführung, die ich an dem Abend 2010 sah, nicht die Wirkung, die Mozart beabsichtigt hatte, als er die Geschichte von dem zügellos bösartigen Aristokraten verarbeitete. Das war nicht die Schuld der Sänger, die meist jung und sehr gut waren. Das Orchester, in der Tradition der böhmischen Musiker, war ausgezeichnet. Aber aus irgendeinem Grund ließ der Regisseur die Statue des Komturs mit modernem Schnickschnack vor Don Giovanni und dem Publikum auftreten, was die Wirkung des Schlusses völlig ruinierte.

Als Don Giovanni und Leporello den Friedhof betraten und zum erstenmal die Statue des Komturs sahen, den Don Giovanni in der Eröffnungsszene ermordet hatte, blitzte auf der Statue ständig ein rotes Licht! Und dieses Licht war später immer noch da und glänzte, als der Komtur Giovannis Speisesaal betrat. Dieser seltsame Regieeinfall lenkte nicht nur ab, er machte auch aus dieser hochdramatischen Begegnung eine Antiklimax und der ganze Schluß wirkte nicht.

Ganz anders ist die neue Produktion des Don Giovanni vom Januar 2013 an der Houston Grand Opera (HGO) in Texas, wo man Mozart für sich selbst sprechen läßt, um dem heutigen Theatergänger seine zeitlose Botschaft zu vermitteln.

Mozarts revolutionäre Intervention

Daß der Figaro überhaupt in Wien aufgeführt werden konnte, war nur der persönlichen Intervention von Kaiser Joseph II. zu verdanken, der keineswegs der Tölpel war, als der er in dem Film Amadeus dargestellt wird. Joseph war ein Reformer und inspiriert von der Amerikanischen Revolution mit ihrer Botschaft der Würde aller Menschen in einem Kampf gegen die Tyrannei der Sonderprivilegien in Form der britischen Monarchie und ihres Empires. Dieses Ideal griff auf ganz Europa über und ihm hingen auch einflußreiche Persönlichkeiten an Josephs Hof an, wie Baron van Swieten, ein Freund und Förderer Mozarts, sowie Intellektuelle und Künstler, darunter der junge Mozart.

Josephs Reformen in Wirtschaft, Landbesitz und -nutzung, Verhältnis zwischen Kirche und Staat und Bildungswesen zielten alle darauf ab, das produktive Potential seiner Untertanen zu steigern und durch diese Entwicklung den Reichtum seines Staates zu mehren und die Lebensverhältnisse für alle zu verbessern. Dazu mußte die Macht der Aristokratie beschnitten werden, weil der alte Adel des Habsburgerreiches diesen revolutionären Geist von jenseits des Atlantiks ablehnte und zu unterdrücken suchte.

Joseph erkannte, daß er für eine erfolgreiche Modernisierung seines Reiches die Kultur am Hofe und in der Gesellschaft allgemein verändern mußte. Dafür griff er die Idee von Gotthold Lessing auf, ein „Nationaltheater“ als Mittel einzusetzen, um die Bevölkerung zu erziehen, indem man dem Publikum im Theater Ideen vorstellte, die sonst eine brutale Reaktion auslösen würden, wenn man sie nur dem politischen Bereich überließe.

Joseph erprobte diese Idee, indem er 1782 das Singspiel Die Entführung aus dem Serail in Auftrag gab, worin Mozart auf unterhaltsame Weise eine sehr ernste Botschaft präsentierte: daß die ungläubigen Türken, die eine konstante Bedrohung für Europa waren, nicht nur als menschlich, sondern teilweise sogar gnädiger als ihre christlichen Feinde dargestellt wurden. Zu der Zeit warb die adlige Kriegspartei gerade für einen neuen, teuren Krieg gegen die Türken und dieser Krieg wurde nun mehrere Jahre lang verschoben.

Ähnlich kühn war Josephs Entscheidung, eine Opernfassung von Beaumarchais’ radikalem Theaterstück Die Hochzeit des Figaro zuzulassen, wofür Mozart mit dem in Venedig geborenen Librettisten und Dichter Lorenzo Da Ponte zusammenarbeitete. Auch wenn Mozart und Da Ponte Beaumarchais’ scharfe Polemik gegen den Machtanspruch des Adels etwas abschwächten, ist die Oper ein Frontalangriff gegen diese angemaßten Privilegien. Am Ende wird Graf Almaviva, der für die alte Ordnung steht, durch eine Verschwörung zwischen seiner Frau und den Dienern gedemütigt und muß vor aller Augen um Vergebung für seine Verfehlungen bitten!

Das war zuviel für die Höflinge der Habsburger, die sich nicht nur gegen Mozart wandten, sondern gegen alle, die einer solchen Veränderung Sympathien entgegenbrachten, auch gegen Joseph II. Figaros Hochzeit wurde in Wien bald abgesetzt und gegen Joseph wurden Intrigen gesponnen, oft angeführt von einer finsteren Figur namens Casanova, einem der Agenten der um Venedig gruppierten aristokratischen Interessen, die eingesetzt wurden, um zu verhindern, daß die Amerikanische Revolution auf Europa übergriff.

Mozart und Da Ponte nehmen die Reaktion aufs Korn

Die Geschichte dieser venezianischen Operationen ist faszinierend. Zu ihnen gehörten auch die Machenschaften in Frankreich gegen Josephs Schwester, Königin Marie Antoinette - die Beaumarchais’ Figaro-Drama gefördert hatte -, wodurch eine franko-österreichische Allianz gegen Englands Vorherrschaft über den Kontinent verhindert werden sollte.

Der Kulturhistoriker David Shavin hat einen ausgezeichneten Artikel über den Hintergrund und die wahre Bedeutung von Mozarts Don Giovanni verfaßt, den ich jedem empfehle, der mehr darüber erfahren möchte („Mozart’s Entschlossenheit, or Don Giovanni Versus Venetian Ca-Ca“, Englisch, Oktober 2010, auf schillerinstitute.org). Shavin dokumentiert, wie die alten Familien Venedigs, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts die „Neue Venezianische Partei“ in England gegründet und mit dem Antritt von König Georg 1714 dort die Macht übernommen hatten, verschiedene Operationen organisierten, um die Parteigänger der Amerikanischen Revolution in Europa auszuschalten.

Dazu gehörte, daß Casanova ein Netzwerk von Prostituierten benutzte, um Josephs Verbündete und auch Joseph selbst zu manipulieren und zu kompromittieren. Da Ponte, der nicht nur in Venedig geboren, sondern auch aus der Stadt verbannt worden war, kannte diese venezianischen Methoden gut. Er und Mozart wußten, daß ihr Figaro in Wien von denselben Kreisen niedergemacht worden war, die Josephs Willen brechen und seine Reformen rückgängig machen wollten.

Deshalb waren sie nicht nur begeistert von der Reaktion auf den Figaro in Prag - am Rande des Reiches, wo die Macht der Wiener Oligarchen begrenzter war -, sondern um so mehr, als sie den Auftrag erhielten, eine neue Oper für das Ensemble dort zu schreiben. Da Ponte schrieb später in seinen Memoiren, er sei es gewesen, der das Don-Juan-Thema vorschlug, „ein Thema, das ihm (Mozart) außerordentlich gefiel“.

Man muß verstehen, daß Mozart und Da Ponte nicht nur eine Geschichte erzählen, um das Publikum zu unterhalten. Indem sie dieses Projekt anfingen, setzten sie buchstäblich ihr Leben aufs Spiel. Sie wußten nur zu gut, um welche existentiellen Interessen es bei den intensiven Kämpfen am Hof ging und wie bösartig die Netzwerke, die sie damit bloßstellten, reagieren würden. Die Autoren bezeichneten sie manchmal als opera buffa oder dramma giocoso, was auf ein eher leichtfüßiges Werk schließen ließe, doch war nichts an dieser Oper leichtsinnig oder frivol, auch wenn es darin Humor gibt, der manchmal an Slapstick grenzt, besonders wenn es um Leporello und dessen teilweise zwiespältiges Verhältnis zu seinem Chef geht.

Aber Mozart und Da Ponte nutzen eine höhere Ebene der Ironie, um ihr Publikum zu erheben, über die Geschichte auf der Bühne hinaus - die Geschichte vom bösen, aber charmanten Wüstling, dem am Ende seine eigene Arroganz zum Verhängnis wird. Diese ernsthaftere Ebene wird durch Mozarts Musik erreicht, sie ist aber auch in Da Pontes messerscharfem Libretto enthalten.

Die Botschaft ist, daß man dem, was sich scheinbar auf der Bühne entfaltet, nicht trauen kann. Man muß mit dem eigenen inneren Ohr hören, um die wahre Absicht der Schöpfer dieses Meisterwerks zu erkennen.

Die tiefere Ironie erfassen

Casanova, selbst ein degenerierter Weiberheld, hatte viel mit Don Giovanni gemeinsam, worauf in Leporellos „Katalog-Arie“ mit der ständigen lüsternen Wiederholung von la Piccina, dem „jungen Mädchen“, explizit Bezug genommen wird. Casanova brüstete sich damit, zahllose Mädchen entjungfert zu haben, sogar seine eigene Tochter, und Leporello berichtet Donna Elvira stolz über Don Giovanni: „Doch wofür er immer glühte, war der Jugend erste Blüte.“

Leporellos Arie muß mit dem Wissen dieses Hintergrundes aufgeführt werden. Es ist nicht nur eine schockierende und dennoch erheiternde Aufzählung von Don Juans Eskapaden, sondern eine Warnung an die verwirrte Donna Elvira: Legen Sie sich nicht mit dem Don an, Sie sind nicht mehr als eine bedeutungslose Nummer in einer lange Liste von Opfern! Wenn die Arie richtig aufgeführt wird, sollte es dem Publikum kalt den Rücken hinunterlaufen.

Ähnlich ist es mit den anderen Opfern in der Oper. Diese Oper führt nicht nur Don Giovannis Bösartigkeit vor Augen, sondern allgemein die Folgen der Unterwerfung unter ein oligarchisches System für die Menschen, die darin leben. Shavin schreibt, das Team Mozart-Da Ponte „bringt den speziellen kranken Geisteszustand eines Casanova auf die Bühne, aber auch, um zu studieren, wie dieses Übel Opfer und unbeteiligte Zuschauer beeinflußt, egal wie gut deren persönliche Absichten gegenüber diesem Übel sind“.

Dies erklärt die Bedeutung der von manchen als überflüssig betrachteten „Coda“ am Ende. Das Publikum denkt noch an den Schrecken der letzten Begegnung Don Giovannis mit einer höheren Macht in Gestalt der Statue des Komturs, da erscheinen die Opfer auf der Bühne und besingen den endgültigen Triumph des Guten über das Böse.

So weit, so gut! Aber dann sehen wir, daß die Opfer gar nicht prometheisch auf das oligarchische Übel reagieren: Donna Elvira zieht sich in ein Kloster zurück; Don Ottavio akzeptiert Donna Annas Beharren, sie wolle, nachdem durch den Untergang des Mörders ihres Vaters ihr Rachedurst gestillt ist, ein Trauerjahr einhalten; Masetto und Zerlina kehren eilig zu ihrem Bauernleben zurück; und Leporello will natürlich einen neuen Herren finden, wenn auch einen besseren.

Das Publikum muß über diesen Schluß lächeln, aber es nagt weiter ein Zweifel. Wer von allen war nach der Erkenntnis, daß Don Giovanni weder edel war noch unüberwindliche Macht besaß, bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß kein neuer Don Juan auftaucht?

Leider kann man bei keinem der Charaktere, die man zwei Stunden lang verfolgt hat, darauf zählen, daß er die Menschenwürde verteidigen wird! Sie überlassen es lieber einer höheren Macht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Auf diese Weise bewirken Mozart und Da Ponte, daß die Zuschauer das Theater mit dem Gefühl verlassen, daß sie selbst sich für das Recht einsetzen müssen.

Deshalb muß die Szene mit dem Komtur wirkungsvoll und ohne Ablenkungen gespielt werden. Es muß ein furchterregender Eindruck sein, geprägt von den gewaltigen Gegensätzen zwischen der Präsenz einer anderen Welt in Gestalt der Statue, die zur Reue auffordert, dem unbelehrbaren, aber dem Untergang geweihten Don Giovanni, der seine oligarchischen Vorrechte bis zum letzten verteidigt, und dem jammernden Leporello, der sich wünscht, es gäbe das alles nicht! Es darf kein Zweifel bleiben, daß trotz allem, was man gerade auf der Bühne gesehen hat, die Bürger im Publikum die eigentlichen Wächter der Gerechtigkeit sein müssen!

Houstoner Aufführung würdigt Mozarts Absichten

Diese Szene war in der Aufführung in Houston sehr gelungen. Morris Robinsons Komtur war eine wahre Naturgewalt, er beherrschte die Bühne mit seiner starken, resonanten Stimme. Es war faszinierend und zur gleichen Zeit furchterregend gleichzeitig, wie Don Giovanni gegenüber Robinsons gewaltiger Figur immer kleiner zu werden schien, als sein Ende näherkam.

Adrian Eröd war ein ausgezeichneter Don Giovanni, abwechselnd charmant und bedrohlich, doch auch in seinen verführerischsten Momenten mit dem Lauern des Gefährlichen. Es war eine Freude, zu sehen, wie Kyle Ketelsen als Leporello frei war, seine bedrohliche Seite zusammen mit seiner servilen Natur darzustellen. Das letzte Mal hatte ich ihn als Leporello in einer schwachen Inszenierung in Los Angeles gesehen, wo ein egozentrischer Regisseur ihn die Rolle mit einer Sanduhr auf dem Rücken spielen ließ!

Rachel Willis-Sørensen machte als Donna Anna einen hervorragenden Eindruck, sie beherrschte den ganzen Umfang, den Mozart von dieser Rolle verlangt, und war so völlig glaubwürdig als Opfer, das durch den Verlust des Vaters nur noch der Rache und der Trauer lebt. Veronika Dzhioeva überwand ein kleines Tempoproblem in ihrer ersten Arie und bot als Elvira eine überzeugende Figur. Michael Sumuel als Masetto wechselte geschickt von Wut zu Verwirrung und Malin Christensson nahm als süße Zerlina das Publikum gefangen.

Diese traditionelle Don-Giovanni-Inszenierung von Göran Järvefelt reicht zurück bis 1986 und wurde von seinen Nachfolgern Harry Silverstein und Carl Friedrich Oberle getreu übernommen. Die weitgehend leere Bühne, mit reichlich Raum zum Agieren, funktioniert hervorragend, nichts lenkt vom Geschehen auf der Bühne ab.

Was die Musik betrifft, war ich fasziniert, daß man Trevor Pinnock als Dirigenten ausgewählt hatte. International für seine Arbeit mit Originalinstrumenten bekannt, dirigierte er mit Kraft und Lebendigkeit, ließ aber nie das Orchester die Sänger übertönen. Besonders beeindruckend war, wie es ihm gelang, die Einheit von der ersten bis zur letzten Note zu wahren, so daß die Spannung von Mozarts Partitur das Publikum innerlich beherrschte, um sein Gewissen zu beißen und um seine Phantasie anzuregen. Das galt dankbarerweise ganz besonders für die Schlußszene mit dem Komtur, wenn wieder das unheilschwangere Thema vom Beginn der Ouvertüre auftaucht, was uns an die Einheit der Intention erinnert, die im schöpferischen Geist Mozarts und Da Pontes vorhanden war, bevor noch jemand eine Note gehört hat.