Klassische Musik als Quelle von Schönheit und Wahrheit entdecken
Auf der Konferenz des Schiller-Instituts am 26. Januar in New York war ein
ganzer Themenkreis der klassischen Musik gewidmet. Der folgende Vortrag der
chinesischen Sopranistin Fang Tao Jiang wurde von Lynn Yen eingeleitet, die
die Stiftung für die Wiederbelebung der klassischen Kultur repräsentierte. Sie
stellte Fang Tao Jiang so vor:
„Sie ist eine lyrische Sopranistin. Sie begann mit unserer Stiftung
zusammenzuarbeiten, um möglichst vielen jungen Leuten, mit denen wir arbeiten,
sowie Eltern und Lehrern die Schönheit der klassischen Musik nahezubringen. Im
Dezember veranstalteten wir ein Konzert vor einem vollgepackten Auditorium von
etwa 650 Zuhörern. Sie sang neun verschiedene Stücke in sechs verschiedenen
Sprachen, und sie begeisterte absolut jeden.
Fang Tao Jiang ist die Gewinnerin des Internationalen
Bellini-Gesangswettbewerbs, und vom Lincoln Center über Rom, Paris und Berlin
ist sie in einigen der angesehensten Opern- und Konzertbühnen überall auf der
Welt aufgetreten. Sie hat wohl mit allen führenden Häusern zusammengearbeitet,
so dem Cincinnati Symphony Orchestra, der Römischen Oper und vielen anderen.
In diesem Jahr tritt sie gerade wieder in der Carnegie Hall bei einer zehnten
Konzertreihe mit dem Namen Music Explorers auf, die sich an junge Leute
richtet, um sie mit Musik vertraut zu machen, die von klassischen Musikern aus
der ganzen Welt gesungen wird.“
Von Fang Tao Jiang
Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich möchte als erstes Ihnen allen und
dem Schiller-Institut für Ihre Bemühungen danken, die Welt wieder zu einem
schöneren Ort zu machen. Und ich möchte meinen Vorrednern für ihre wunderbaren
Beiträge danken. Ich habe viel davon gelernt, Und vielen Dank, daß ich hier
sein kann, nicht um zu singen, sondern um zu sprechen!
Als ich die Einladung erhielt, hier auf der Konferenz eine Rede zu halten,
dachte ich zunächst, ich könnte etwas über die Liebesbeziehung zwischen
Einstein und seiner Geige oder über den „Mozarteffekt“ auf die
Gehirnentwicklung von Kindern sagen, oder wie Bachs Musik noch in einer
Milliarde Jahren als die größte Schöpfung und das wertvollste kulturelle Erbe
im Universum angesehen werden würde. Ich hätte auch darüber sprechen können,
wie tiefes Atmen und Singen dabei geholfen haben, bei meinen Kollegen, bei
meinen Freunden, bei Kindern ADHS, Angstattacken oder Asthma zu heilen. Doch
ich möchte heute mit Ihnen einige wahre Geschichten aus meiner eigenen
Erfahrung teilen.
Ich wurde in einer Stadt am Jangtse in China geboren. Die Kulturrevolution
war damals schon lange vorbei, und wir machten uns die neuen kulturellen Ideen
zu eigen; es war wie eine kleine Renaissance. Meine Eltern regten mich dazu
an, mich an all den schöpferischen Kunstformen zu erfreuen, die ihnen während
der Kulturrevolution vorenthalten waren. Ich rezitierte sehr gern alte
chinesische Gedichte, während ich gleichzeitig bei einem meisterhaften Lehrer
Kalligraphie studierte. Ich liebte meinen Tanz- und Musikunterricht, und ich
träumte davon, entweder Hürdenläuferin oder Turnerin bei den Olympischen
Spielen zu werden. Meine Mutter regte mich bereits im Kindergartenalter an,
Englisch zu lernen. Ich hoffe, daß mir das heute hilft!
Das Leben war wunderschön. Aber an einem sehr heißen, sonnigen Sommertag
wurde meine Welt plötzlich ganz dunkel. Meine Mutter hatte einen Unfall und
verstarb. Ich war damals neun Jahre alt. Ganz lange trug ich ein schmerzliches
Geheimnis mit mir herum: ich dachte, ich sei schuld am Tod meiner Mutter. Ich
dachte, wenn ich sie an diesem Tag nicht gebeten hätte, mit mir in den Zoo zu
gehen, wäre nichts geschehen. Ich meinte, ich könnte meine Schuld nie mehr
tilgen, so daß ich als Neunjährige ganz traurig und depressiv war.
Meine Schwester und meine Lehrer bemühten sich sehr, mich in der Schule zu
beschäftigen. Meine Schwester liebt Musik. Sie hörte sich oft Schallplatten
oder Kassetten meistens mit klassischer Musik an. Eines Tages hörte sie ein
Gesangsalbum, und ein Lied fesselte mich besonders: Das war Brahms’
Wiegenlied; es wurde auf chinesisch gesungen, so daß ich es verstand. Ich
liebte es so sehr, als würde ich meine Mutter singen hören. Später nahm mich
meine Schwester zu einem Konzert mit, und ich war völlig überrascht, daß die
Sopranistin das gleiche Wiegenlied sang. Ihre Stimme klang wie aus einer
anderen Welt, und das ganz ohne Mikrofon! Ich ging nach Haus und weinte
bitterlich. Bald lernte ich alle Lieder, die ich finden konnte, die etwas mit
Mutterliebe und Kindheit zu tun hatten. Ich sang sie den ganzen Tag lang, als
wenn ich sie meiner Mutter vorsänge.
Als ich 13 war, nahm ich an einem Jugendgesangswettbewerb in meiner Stadt
teil und gewann. Zwei meiner Wettbewerbslieder waren Dvoraks „Lieder, die
meine Mutter mich lehrte“ und ein chinesisches Lied „Der Kuß meiner Mutter“.
Nach dem Wettbewerb wurde das Singen ein wichtiger Teil meines Lebens. Das
Singen klassischer Musik war wie ein Sonnenstrahl, der meine dunkle Welt
erhellte. Mit 15 hatte ich meinen ersten offiziellen Gesangsunterricht nach
alter italienischer Schule - und ich muß sagen, das machte mir gar keinen
Spaß, da ich auf Italienisch singen mußte, das ich nicht verstand. Später
besuchte ich dann das Shanghaier Musikkonservatorium, meine Depression war
überwunden, und noch vor meinem Abschluß gelang es mir, mein Debüt in der
Carnegie Hall zu geben.
Bei meinen Reisen um die ganze Welt haben mich die Zuhörer oft gefragt,
warum ich mich entschlossen hätte, eine klassische Sängerin zu werden. Sogar
mein Vater fragte mich einmal, warum ich mir den scheinbar schwersten Beruf
auf der Welt gewählt hätte. Ich sei doch eine Chinesin und wollte Opern in
acht Sprachen singen, die ich nicht verstünde. Ich sagte ihm aber, ich würde
sie mit der Zeit schon verstehen.
Ich muß gestehen, es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Bedenken Sie
meinen Traum, olympische Turnerin zu werden, und ich mochte meine erste
Gesangsstunde gar nicht, weil ich das Italienische nicht verstand. Aber mit
den Jahren habe ich in acht Sprachen zu singen gelernt und kann sogar einige
sprechen, und mit meinen Sprachkenntnissen sehe ich die Welt! Ich sehe die
Welt der Menschen. Verschiedene Sprachen transportieren unterschiedliche
Stimmungen aus verschiedenen kulturellen Vorgeschichten. Aber in der Musik
sind wir alle gute Bürger. Die Musik vereint uns.
Je mehr ich sie mir erschloß, desto mehr verliebte ich mich in die
Wahrhaftigkeit dieser Kunstform und in die Schönheit all dieser musikalischen
Meisterwerke. Denken Sie beim Singen, daß dies Ihr Instrument ist. Jeder von
uns besitzt dieses Instrument. Das ist Ihre Stimme mit einer natürlichen
Akustik, und für mich ist dies eine der ehrlichsten Kunstformen. Es spielt
keine Rolle, wer Ihr Vater ist: Man steht auf und muß singen, und die Menschen
beurteilen einen aufgrund seiner Kunst und aufgrund von nichts anderem.
Ich mußte auch meinen Körper und mein Instrument zu lieben lernen, mußte
meine eigenen Gefühle kennenlernen und beherrschen und meine Angst vor Kritik
und Unvollkommenheit überwinden.
Mit der Zeit hat mich der klassische Gesang körperlich gesünder, geistig
stärker und emotional ausgeglichener gemacht, so daß ich heute ein
glücklicherer und besserer Mensch bin.
Am Tag nach einem Konzert in Frankreich, einer Aufführung von Romeo und
Julia, kam ein junger Teenager zu mir und sagte: „Das war ja wunderschön,
wunderschön. Aber warum brauchen Romeo und Julia zehn Minuten, um zu sagen:
,Ich liebe dich’?“ Also, warum dauert das Duett so lange? [Heiterkeit] Die
gleiche Frage hatte ich mir auch einmal gestellt. Vor vielen Jahren dachte ich
auch, in der Oper braucht man immer so lange, um ein einfaches Gefühl
auszudrücken; man müsse eine ganze Arie oder eine halbe Arie damit verbringen,
um nur diese drei Wort zu singen: „Ich liebe dich!“ Dann war ich aber so
stolz, als ich ihr sagen konnte: „Warum nicht? Ist es nicht wunderbar, unsere
Gefühle zu zelebrieren? Sie anzunehmen, zu erweitern und zu besingen? Soll man
das etwa ändern? Soll denn Romeo zu Julia einfach nur sagen: ,Hey, wollen wir
zusammen ein bißchen rumhängen?“ [Gelächter]
Ich kann Ihnen sagen, daß ich durch meine Antwort auf diese Frage wirklich
gereift bin. Ich merkte die Verbindung und die Überzeugung. Ich war sehr
überzeugend.
Wenn ich gut singe und in den „Seelenbereich“ von Worten, Poesie und Musik
eindringe, merke ich, daß ich mit der Welt gleichgestimmt bin und ganz viel
Wärme und Liebe in meinem Herzen spüre. Ich fühle mich frei, fühle die
Freiheit des Ausdrucks. Das ist der nicht faßbare Zauber der Musik. Wenn
Zuhörer zu mir kommen und mir unter Tränen danken, daß meine Stimme sie
inspiriert habe und sie eine Gänsehaut bekommen hätten, dann ist das eine gute
Sache. Ich antworte dann: „Ich bin sehr dankbar, daß Sie hier sind und all
diese Meisterwerke mit mir teilen, und mich spüren lassen, daß das, was ich
tue, eine Bedeutung hat, daß all die harte Arbeit und die Tränen beim Üben
einen Wert haben, um... das Leben eines anderen ein bißchen besser zu
machen.“
Von Generation zu Generation bemühten sich Komponisten darum, die Freiheit
des Ausdrucks zu erreichen, die Schönheit der Welt mit neuen kompositorischen
Ideen zu entdecken und die Grenzen von Gedanken und Konzepten zu überwinden.
Ich bin ein großer Befürworter neu komponierter guter Musik, und ich
habe zahlreiche Premieren gehabt. Aber ich muß Ihnen sagen, einige Komponisten
gehen zu weit, nur um Aufmerksamkeit zu erregen. Einmal mußte ich ein Lied
singen und gleichzeitig einen Zweig schütteln, um ein bestimmtes Rascheln zu
erzeugen.
Ein anderes Mal fühlten sich alle bei der Probe eines neuen Werks nicht
wohl, und wir fragten uns, warum. Auch ich verstand es nicht, und meine
Kollegen fragten sich: „Was ist das nur?“ Eines Tages nahm uns der Komponist
mit in sein Studio und zeigte auf eine riesige Maschine und sagte: „Ich liebe
dieses Baby!“ Es war ein riesiger computerisierter Apparat. Er sagte, diese
Maschine erledige die meiste Komponierarbeit für ihn. [Gelächter] Er habe viel
Zeit darauf verwendet, um eine Formel für Bachs Musik zu finden - ja, mit
Hilfe dieser Maschine. Und er meinte, eine eigene Formel entdeckt zu haben.
Trotz all seiner Bemühungen und Analysen taten wir Musiker alle uns schwer
damit, Zugang zu seinem Werk zu finden, und die Musik... klang wirklich
schrecklich. Seinen Namen möchte ich allerdings nicht nennen.
Er bestätigte im Grunde meine Vorstellung von Kunst, die etwas Erhabenes
sein sollte. Um ein Kunstwerk zu schaffen, braucht man Intuition,
Vorstellungskraft und das sogenannte kleine Genie, das in uns allen steckt.
Wenn man es auf Fakten und die Realität reduziert, oder einfach nur etwas
nachahmt oder Effekthascherei betreibt, kann man das bestenfalls
„Handwerkstechnik“ nennen. Kunst ist geistreich, gefühlsreich und spirituell.
Und schön. Sie ist leichter gesagt als getan.
Ein guter Freund und Kollege von mir, mit dem ich seit langer Zeit
zusammenarbeite, ist ein bekannter Komponist - allerdings werde ich auch
seinen Namen nicht nennen. Er sagte mir einmal: „Unsere Meister haben mit
diesen zwölf Noten großartige Werke geschaffen!“ Es ist für heutige
Komponisten nicht leicht, etwas Einzigartiges, Neues und auch noch Schönes zu
schreiben. Aber es gibt Hoffnung, denn dieser gleiche Komponist hat vor kurzem
eine große Oper mit dem Titel Dr. Sun Yat-sen geschrieben, über diesen
chinesischen Revolutionär, den Vater der Demokratie in China. Seine Revolution
fand 1911 statt, lange vor der Kommunistischen Partei. Er ist der Begründer
der nationalistischen Kuomin-Partei.
Dieser Komponist verwendete alle Elemente der westlichen und östlichen
Musik und kombinierte sie mit seiner eigenen Erfahrung und Humanität zu einem
wunderbaren Werk. Sie ist wirklich gut gelungen. Wir werden sie 2014 an der
Oper von Santa Fe aufführen. Ich fühle mich sehr geehrt, Teil dieser
wunderbaren Musik zu sein. Ich bin in dieser Oper Soong Ching-ling, die Frau
von Dr. Sun Yat-sen. Ich wünschte, ich wäre ein wenig größer, aber man sagt,
ich sehe ihr ein wenig ähnlich.
Ich weiß, daß mein Freund, der Komponist, vier Jahre daran geschrieben hat,
was heutzutage sehr ungewöhnlich ist. Ich kenne nämlich auch Komponisten,
besonders in China, die für Geld an einem Tag ein Stück schreiben, das morgen
bei einer Feier aufgeführt werden soll. Sie sind nur in Eile, um irgendwie mit
der Komposition fertig zu werden. Alles ist so schnellebig. Er brauchte aber
vier Jahre zum Schreiben, und ich meine, das war es auch wert, denn Schönheit
ist Wahrheit, und die Schönheit wird Bestand haben. Jeder Komponist möchte,
daß seine Werke Bestand haben und noch Millionen Jahre später wertgeschätzt
werden.
Ich will meine Rede mit einer wahren Geschichte beenden, die mich noch
immer inspiriert. Vor einigen Jahren habe ich an der Utah Festival Opera
(UFOC) die Susanna aus Figaros Hochzeit gesungen. Die erste Probe der
Mitwirkenden fand in dem wunderschönen Ellen Eccles Theater statt. Dabei
zeigte der UFOC-Gründer und Musikdirektor Michael Ballam auf den schönen Saal
und erzählte die folgende Geschichte. Das neue, klassisch gebaute Theater war
jahrzehntelang der Hauptspielort des Cache Valley Performing Arts Center. Doch
dann wurden die Aufführungen eingestellt und das Theater wurde dem Verfall
preisgegeben. Die Bühne blieb leer, im Orchestergraben war es still, die
Beleuchtung blieb dunkel, und in den Umkleidekabinen sammelte sich der Schmutz
an.
1998 drohte dem Theater der Abriß. Michael Ballam erfuhr von den
Abrißplänen, woraufhin er einen Sanierungsplan vorschlug, über den der
Stadtrat abstimmen sollte. Von beiden Seiten wurde mit Ja und Nein gestimmt,
das Ergebnis war sehr knapp. Eine der unentschlossenen Stadträtinnen fragte
Herrn Ballam: „Warum sollen wir soviel Geld für dieses Theater ausgeben? Es
füllt mir doch den Brotkorb nicht!“
Herr Ballam antwortete mit einem Lächeln im Gesicht: „Verehrte Dame, wir
bewundern seit Jahren Ihren Rosengarten, Wir wissen, daß Sie Ihr ganzes Herz
hineingesteckt haben. Dieses Theater ist wie die schönen Rosen in Ihrem
Garten. Haben Sie nicht auch schon einmal erwogen, am Brot zu sparen, um mehr
Rosen zu haben?“ Eine Minute später wurde der Sanierungsplan genehmigt.
Schiller sagte einmal: „Nur durch die Schönheit gelangt der Mensch zur
Freiheit.“ Heute möchte ich Sie darin bestärken - und ich ersuche Sie -, es zu
wagen, daß die Kraft des Schönen in der Welt Bestand hat, und wenn wir die
Rosen wachsen lassen, sollten wir ihren Duft genießen und dabei nicht
vergessen, auch unsere Kinder daran teilhaben zu lassen, denn sie mögen kein
chinesisches Mädchen sein, das seine Mutter verlor, sondern sie sind die
Kinder dieser Welt, die Schönheit dieser Welt, und sie müssen in sich die
Liebe spüren, wie wir alle.
Vielen Dank.
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