Bemerkungen über Schillers Nänie
Von Helga Zepp-LaRouche
Zum Abschluß der New Yorker Konferenz des Schiller-Instituts am
15. Juni führte der Chor des Schiller-Instituts in den mittleren
Atlantikstaaten Schillers Nänie in der Vertonung von Johannes Brahms
auf. Helga Zepp-LaRouche leitete diese Aufführung ein, indem sie das Gedicht
rezitierte und erläuterte.
Die große Bedeutung, die das Schiller-Institut der klassischen Kultur
beimißt, ist eng mit der Hoffnung verbunden, aus dieser Krise unserer
Zivilisation wieder herauszukommen. Denn wir haben nicht bloß eine finanzielle
Krise, eine politische Krise und eine militärische Krise, sondern wir haben
vor allem eine kulturelle Krise. Und wenn wir daraus wieder herauskommen
wollen, dann müssen wir die klassische Musik und die klassische Dichtung der
Bevölkerung insgesamt wieder zugänglich machen, weil das der einzige Weg ist,
wie man den Menschen Zugang zu der inneren Quelle ihrer eigenen Kreativität
verschaffen kann. Außer der klassischen Musik und der klassischen Dichtung ist
kaum ein anderer Bereich dazu in der Lage.
Allerdings haben die meisten Menschen gar keine Vorstellung, was
„klassisch“ überhaupt bedeutet. Sie meinen, klassische Musik, das seien die
Rolling Stones oder es sei einfach irgendetwas Altes. Aber in Wirklichkeit
stellte die klassische Kunst, wie sie vor allem in Deutschland entwickelt
wurde - natürlich auch in anderen Ländern, aber ganz besonders die deutsche
klassische Periode - das höchste Niveau dar, in der Musik wie in der
Dichtkunst, und sie hatte die höchsten Maßstäbe.
Das Gedicht Nänie beispielsweise, das wir jetzt in der Vertonung von
Brahms hören werden, ist ein ganz und gar klassisches Gedicht. Es hat alle
Bestandteile, die Schiller, Goethe und einige andere große Dichter als
universelle ästhetische Gesetze definierten. Es hat eine wunderschöne
poetische Idee. Diese Idee wird sorgfältig auskomponiert. Es hat eine
Transformation zu einer höheren Idee, die man nicht in Prosa ausdrücken kann,
und kein einziges Wort darin ist überflüssig.
Es wäre noch mehr dazu zu sagen, aber ich will es dabei belassen, und ich
möchte Ihnen nun die Nänie auf Deutsch vorlesen. Dann wird John
Sigerson sie auf Englisch vorlesen, und ich werde für Sie noch einige
Bemerkungen dazu machen, weil die meisten Menschen vergessen haben, wie man
sich Gedichte erschließt. Sie lesen etwas, was Shakespeare oder andere Dichter
wie Shelley geschrieben haben, und sagen: „Ich erkenne darin keinen Sinn.“
Aber sie bemühen sich nicht wirklich, das Gedicht Wort für Wort, Zeile für
Zeile und Strophe für Strophe für sich zu erobern und auf diese Weise einen
Einblick zu bekommen, was es bedeutet. Und wenn Sie das tun, dann werden Sie
sehen, daß es die zartesten, lyrischsten Teile ihrer Seele berührt.
Gedichte sind wirklich der absolut notwendige Weg, Zugang zur Kreativität
zu erhalten. Und die Tatsache, daß diese Kunst so sehr verloren gegangen ist,
hat mit der Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden, sehr viel zu tun.
Ich lese Ihnen nun diese Nänie vor.
Nänie
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
(Anschließend verlas John Sigerson wie angekündigt eine eigene
Übertragung des Gedichts ins Englische. Helga Zepp-LaRouche fuhr dann
fort:)
Nehmen wir nur den ersten Bezug auf die griechische Mythologie, den
Schiller verwendet, die Sage von Orpheus und Eurydike. Das ist eine sehr
schöne Sage: Der Gott Apollo verleiht Orpheus eine wunderschöne Singstimme und
auch eine besondere Fähigkeit zum Lautenspiel, was so mächtig ist, daß er mit
der Musik nicht nur Menschen zu Tränen rühren kann, sondern auch Tiere und
sogar Steine rührt. Orpheus verliebt sich in die Nymphe Eurydike und die
beiden heiraten, aber dann stirbt sie. Orpheus ist am Boden zerstört, weil ihn
weder Gebete, noch Lieder, noch irgendetwas anderes aus seiner Trauer reißen
oder ihm Eurydike zurückbringen kann.
Deshalb faßt er einen Beschluß, den noch kein Mensch vor ihm gefaßt hat: Er
beschließt, in das Reich der Toten hinabzusteigen, in den Tartaros, um sie
zurückzuholen, und dort spricht er mit dem Hades, dem Herrscher der Unterwelt,
und singt ihm von seiner unsterblichen Liebe und seinem unerträglichen Schmerz
vor. Er wendet sich an Hades und erinnert ihn daran, wie dieser sich in seine
Frau verliebt hatte, Persephone, die er aus einer fremden Stadt entführt und
dann geheiratet hatte. So etwas war noch nie zuvor geschehen und alle Schatten
der Unterwelt, all die mythischen Figuren sammeln sich um ihn und lauschen
seinem wunderschönen Gesang. Selbst die Rachegöttinnen, die Eumeniden, werden
von seiner Beschreibung der Schönheit und der Liebe zu Tränen gerührt.
Sogar Hades, der finstere Herrscher der Unterwelt, ist so bewegt, daß seine
Frau Persephone den Schatten der Eurydike herbeiruft. Persephone sagt Orpheus,
daß seine große Liebe sie beide bewegt habe und daß sie seine Bitte erfüllen
werden und Eurydike ihm folgen kann - aber nur unter einer Bedingung: Er darf
nicht zurückschauen. Sobald er hinter sich blickt, hat er seine Eurydike für
immer verloren.
Orpheus geht los und Eurydike folgt ihm, aber weil sie ein Schatten ist,
kann er sie nicht hören. Endlich gerät er in Panik und blickt sich um, und er
sieht, daß sie wirklich da ist. Und sie schaut ihn sehr traurig und sehr
zärtlich an, doch in dem Moment, wo er sie umarmen will, entschwindet sie ins
Leere.
Völlig außer sich wirft er sich in den Styx, den Fluß, der die Unterwelt
von der oberen Welt trennt, und er weint sieben Tage und sieben Nächte, aber
vergebens - die Götter bleiben unbewegt.
Nänie ist die Bezeichnung für die Totenklage, ein in der
griechischen Mythologie sehr verbreitetes Phänomen. Jedesmal, wenn eine große
Figur der Mythologie stirbt, folgt eine Totenklage, die Nänie. Und
diese Nänie, die Totenklage, wurde zu einer eigenen Kategorie der
Dichtung.
Dieses Gedicht, Schillers Nänie, beginnt offensichtlich mit einer
sehr emotionalen Erklärung, die jedem Menschen etwas bedeutet, denn jeder
erlebt es einmal oder mehrmals in seinem Leben: „Auch das Schöne muß sterben!“
Wie oft sagen wir: „Warum stirbt etwas Schönes?“ Es ist eine allgemein
menschliche Emotion. Schiller spricht hier aber nicht vom Verlust eines
Menschen, er spricht vom Verlust des Schönen. Er führt dafür drei Beispiele
an: Das erste ist das von Orpheus und Eurydike, das ich schon erwähnt habe:
die Schönheit der Liebe. Das zweite ist der Mythos von Aphrodite und ihrem
Geliebten, dem schönen jungen Adonis, der von einem wilden Eber verwundet wird
und stirbt. Und das dritte ist ein Hinweis auf den Tod des Achilles vor Troja.
Achilles war in der griechischen Mythologie der Sohn der Thetys, die wiederum
eine Tochter des Nereus und die Ehefrau des Peleus war.
Schiller nennt Achilles den „göttlichen Helden“, seine Schönheit ist eine
des Charakters, der Tugend und der Tapferkeit. Er kämpfte, aber selbst seine
unsterbliche Mutter konnte ihn nicht retten. Aber dann erhebt sie, die
unsterbliche Mutter, sich aus dem Ozean mit allen Töchtern des Nereus, und sie
singen die Nänie, die Totenklage für Achilles.
Dann geschieht etwas sehr Schönes, es gibt einen Übergang in diesem
Gedicht, denn es heißt dort:
„Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.“
Die drei Beispiele, die Schiller in diesem Gedicht anführt, beginnen im
Deutschen alle mit dem Wort „nicht“. (Das geht in der englischen Übersetzung
verloren. Man braucht einen Dichter, um ein klassisches Gedicht genauso schön
in eine andere Sprache zu übertragen. Ich will damit nicht sagen, daß John
Sigerson kein Poet ist. Er hatte nur nicht genug Zeit, aber er wollte, daß die
Menschen hier einen Zugang zu einem relativ schwierigen Text bekommen.)
Diese Widerholung „Nicht die ehernde Brust...“, „Nicht stillt Aphrodite...“
„Nicht errettet den göttlichen Held...“ ist ein künstlerisches Mittel, um
sicherzustellen, daß das Publikum versteht, daß es sich hier wirklich um den
gleichen Gegenstand handelt.
Dann gibt es im Deutschen auch viele schöne Formen, wie z.B. die Distichen,
eine Folge von Hexameter und Pentameter, und im Deutschen hat auch das Wort
„Dichtung“ eine besondere Bedeutung: dicht bedeutet eben auch
„verdichtet“, intensiv - Dichtung bedeutet also eine Intensivierung. Man
intensiviert die Prosa in der Weise, daß sie ein höheres Niveau erreicht.
In diesem Fall muß auch das Schöne sterben, und alle Götter und Göttinnen
weinen deshalb. Aber die Schönheit selbst ist nicht gestorben, denn - und das
ist der Punkt, an dem die Transformation erfolgt - in der Totenklage selbst
wird das Schöne unsterblich. Der Gegenstand dieses Gedichts ist also nicht der
Verlust der Schönheit, denn die Schönheit lebt weiter in der Nänie, in
der Totenklage, in der Dichtung. Nur das Gemeine geht klanglos zum Orkus
hinab.
Schönheit in der Kunst ist unsterblich
Es wird hier also ausgesagt, ist, daß die Schönheit in der Kunst
unsterblich ist. Selbst wo der Tod das Schöne zerstört, kehrt das Schöne in
der Kunst wieder zurück - und das gilt offensichtlich auch für jeden Menschen,
der mit seinem Leben etwas zur Unsterblichkeit und zum Fortschritt der
menschlichen Gattung beigetragen hat.
Nikolaus von Kues hat einmal gesagt, die Seele sei der Ort, an dem alle
Wissenschaft und Kunst erschaffen wird, und die Tatsache, daß die
Wissenschaft, die erschaffen wird, und die Kunst, die erschaffen wird,
unsterblich sind, sei ein zwingender Beweis dafür, daß die Seele unsterblich
ist. Denn das, was etwas erschafft, gehört offensichtlich einer höheren
Ordnung an als das Geschaffene. Wenn eine Seele Unsterbliches erschafft, dann
ist die Seele unsterblich.
Die Schönheit ist bei all dem sehr wichtig. Schiller spricht in mehreren
Gedichten und Schriften über den Konflikt zwischen der Lust - der Freude im
Hier und Jetzt, der Sinnenfreude - und der Schönheit des Geistes, die mit
universellen Prinzipien und mit der Unsterblichkeit verbunden ist. Und er
kämpft damit und vermittelt diesen Kampf, daß man, wenn man ein universeller
Geist sein will - ein philosophischer Kopf, eine schöne Seele, ein Genie -,
daß man dann diesen Konflikt überwinden muß. Denn wenn unser Geist eine Sache
verlangt und unsere Emotionen etwas anderes verlangen, dann kann man das nicht
auflösen. Wenn man nur seine Pflicht tut, dann endet man wie Immanuel Kant:
Man wird einer dieser Kantianer, die ihre Pflicht tun, aber keine Freude
haben.
Schiller löst das auf, indem er sagt, daß die Schönheit der Bereich ist, in
dem der Konflikt zwischen dem Glück der Sinne und der Glückseligkeit der Seele
überwunden wird, denn die Schönheit gehört ohne Frage zum Bereich der Sinne:
Man kann sie fühlen, man kann sie sehen, man kann sie mit seinen Emotionen
genießen, aber sie ist auch etwas, was auf den Geist wirkt.
Sie ist also das, was diesen Konflikt löst, und das ist der Grund, warum
wir eine ästhetische Erziehung der Zivilisation brauchen. Und es war schon
immer die feste Überzeugung des Schiller-Instituts und einer der Gründe, warum
es gegründet wurde, daß wir die Menschheit ästhetisch bilden müssen,
denn die Barbarei, die wir heute auf der Welt sehen, ist nur ein völliger
Mangel an einer solchen ästhetischen Erziehung.
Deshalb bitte ich Sie alle: Helfen Sie uns mit, diese klassische Kultur zu
verbreiten, denn nur wenn sie die klassische Kultur lieben, sind die Menschen
wirklich menschlich.
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