Die Bedeutung von Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“
Interview mit John Sigerson, Musikalischer Direktor des Schiller-Instituts
in den USA
Dennis Speed: Welche Bedeutung hat Schumanns Liederzyklus
Dichterliebe in der Musikgeschichte? Warum hast du dieses Werk
ausgesucht, um es in der Konferenz des Schiller-Instituts in Manhattan am 7.
April vorzutragen?
John Sigerson: Der Zyklus Dichterliebe ist nur eine
der Früchte in dem Füllhorn von Robert Schumanns „Liederjahr“ 1840. In den
Jahren davor hatte Schumann vor allem Klaviermusik komponiert, häufig
Sammlungen von Stücken, die man auch Zyklen ohne Worte nennen könnte. In einem
davon zitiert er sogar ausdrücklich das Eröffnungsthema eines der ersten
wirklichen Liederzyklen, nämlich Beethovens An die ferne Geliebte, der
24 Jahre früher entstanden war. In der Zwischenzeit hatte der
Beethoven-Bewunderer Franz Schubert seine beiden berühmten Zyklen Die
schöne Müllerin und Winterreise komponiert.
Was jedoch Schumanns Dichterliebe besonders auszeichnet, das ist die
unglaubliche Einheit der Wirkung, die er mit nur 16 Liedern erreicht, von
denen einige nicht einmal eine Minute lang sind. Von der ersten Note im ersten
Lied an - übrigens ein cis - gibt es eine ununterbrochene poetische
Spannungskette, die nicht nachläßt, bis die letzte Note verklungen ist;
interessanterweise ist das ein des, also auf dem Klavier die gleiche Note wie
die erste, aber mit einer grundlegend veränderten Bedeutung, die den gesamten
Zyklus zusammenhält.
Als man mich bat, auf der Konferenz zu singen, dachte ich gleich an einen
Liederzyklus, nicht nur ein oder zwei Lieder, weil ich die Veranstaltung nicht
mit entspannender Unterhaltung beenden wollte, sondern mit einer echten
moralischen Herausforderung im Sinne des übergreifenden Zwecks der Konferenz.
Dieser war nämlich, die Teilnehmer zu ermutigen, politische und moralische
Verantwortung dafür zu übernehmen, daß die Menschheit nicht nur als Gattung
überlebt, sondern auch eine lebenswerte Zukunft hat. In der Dichterliebe muß
der Dichter bzw. Sänger sich in die dunklen Ecken seiner Seele begeben, bevor
er schließlich im letzten Lied in der Lage ist, über sich selbst zu lachen
und, wie es dort heißt, die „alten bösen Lieder zu begraben“.
Speed: Die Dichterliebe wird häufig als Beispiel für die
romantische Schule poetischer und musikalischer Komposition bezeichnet. Warum
betonst du, daß es in Wirklichkeit eher das genaue Gegenteil ist?
Sigerson: Nun, dazu sollte man als erstes verstehen, daß die
Musik, anders als es die Geschichtsbücher sagen, nicht in „Perioden“ geteilt
ist, die sich durch verschiedene „Stile“ auszeichnen. Wie Friedrich Schiller
in seiner berühmten Antrittsvorlesung über die Universalgeschichte erklärt,
ist die Geschichte nicht bloß eine Abfolge von Perioden oder Ketten von
Ereignissen, sondern sie ist das Zeugnis eines jahrtausendelangen Kampfes
zwischen dem schöpferischen Impuls des Menschen, der ihn grundsätzlich von den
Tieren unterscheidet, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite den
oligarchischen Institutionen und Individuen, die darauf bestehen, daß der
Mensch im Grunde nur ein Tier ist, also seine Kreativität eingedämmt werden
muß, sobald sie diese Institutionen bedroht.
Deshalb ist die klassische Musik kein Stil, sondern, wie Lyndon LaRouche es
nennt, eine „Weltanschauung“, deren oberste Priorität die menschliche
Kreativität ist. Sie ist ein Mittel, den Menschen zu veredeln, ihn froher und
produktiver zu machen, indem er universelle Prinzipien - Prinzipien eines sich
entwickelnden, lebenden Universums - entdeckt und beherrscht.
Der Poet Heinrich Heine, der den Text der Dichterliebe gedichtet
hat, entwickelte sich selbst zu einem Gelehrten dieser Weltanschauung, und in
seinem größeren Werk Die Geschichte der Religion und Philosophie in
Deutschland weist er darauf hin, daß die „Romantische Schule“ in Wahrheit
von dem Philosophen Immanuel Kant hervorgebracht wurde, der behauptete, wahre
Kreativität sei im Grunde nicht wißbar, und Menschen seien notwendigerweise
Sklaven ihrer Emotionen, die nur durch gesellschaftliche Regeln oder Maximen
eingeschränkt würde. Mit anderen Worten, der Mensch sei im wesentlichen ein
dressierbares Tier.
Schumann kannte und schätzte nicht nur Heines Gedichte, sondern auch seine
politischen und philosophischen Schriften, und wenn man Heines Gedichte und
Schumanns Vertonungen richtig versteht, wird sich bestätigen, daß es hier um
nicht weniger als um diesen grundsätzlichen Konflikt geht, den ich gerade
beschrieben habe.
Metapher und Ironie
Speed: Lyndon LaRouche betont besonders das Polemische dieser
Musik, er sagt, wenn die Aufführung gut und das Publikum aufmerksam ist, dann
wird es mit Lachen oder mit großer Irritation reagieren, aber nicht
gleichgültig bleiben.
Sigerson: Nun, wenn es nur polemisch wäre und sonst nichts,
dann wäre es keine Kunst. Genauer läßt es sich vom Standpunkt der Metapher her
betrachten, d.h. der ironischen Gegenüberstellung von Elementen, die „im
Kleinen“ scheinbar nicht zusammenpassen, die aber eine Bewegung oder besser
eine Emotion erzeugen, die zur Entdeckung einer höheren moralischen Wahrheit
hinführen. Und wie Schiller betont, muß all das in Schönheit gekleidet sein,
weil man in gewissem Maße die Häßlichkeit des Alltags ausblenden muß, um die
Seelen der Menschen zu erheben.
Diese Art der Metapher ist das Prinzip hinter J.S. Bachs Kontrapunkt, den
viele seiner Zeitgenossen sehr abstoßend fanden und der von der heutigen sog.
Popularmusik völlig abgelehnt wird. Aber nicht nur das: Selbst die beste Musik
von Bach, Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms verliert völlig ihre
„Schlagkraft“, wenn sie mit einer anderen Einstellung aufgeführt wird. Deshalb
ist ein so großer Teil der Aufführungen, die heute unter die Rubrik Klassik
fallen, so geisttötend langweilig.
Im 20. Jahrhundert gab es eine Person, die das gut verstand und sich
deshalb einigen Ärger einhandelte, der Dirigent und Komponist Wilhelm
Furtwängler. Für ihn existierte keine Trennung zwischen dem sich entwickelnden
Universum und dem denkenden, kreativen menschlichen Geist. Seine Musik war so
beeindruckend, daß sogar Adolf Hitler Angst vor ihm hatte.
Speed: Schumann und Heine waren befreundet, ebenso wie mit
Felix Mendelssohn, dessen Schwester Fanny und einigen anderen, die die
Künstlergruppe bildeten, die Schumann die „Davidsbündler“ nannte. Was bringt
die Dichterliebe als Projekt über ihre Weltsicht zum Ausdruck? Gab es weitere
Werke dieser Art, von Schumann und Heine oder anderen?
Sigerson: Ja, das war ein ausgedehnter Kreis von Freunden und
Mitarbeitern, zu dem übrigens auch Friedrich List gehörte, der Ökonom des
Amerikanischen Systems, der einige Jahre Schumanns Nachbar in Leipzig war.
Dann tauchte eines Tages der junge Johannes Brahms vor Schumanns Türe auf und
wurde ebenfalls Teil der Familie. Zusammen mit Schumanns Ehefrau Clara
widmeten sie alle ihr Leben der Musik, bzw. der Kommunikation tiefgehender
Gedanken und Prinzipien. Sie waren strikte Gegner von Musik, welche nur
neuartige Effekte bietet, wie sie von den oligarchischen Kreisen jener Zeit
gefördert wurde, mit ihren ersten „Rockstars“ wie dem Geigenakrobaten Niccolo
Paganini und dem Klavierzertrümmerer Franz Liszt.
Und was andere Werke angeht, da gibt es natürlich viele! Ein anderes meiner
Lieblingsstücke ist Schumanns allererster Liederzyklus, sein Opus 24,
ebenfalls eine Reihe von Vertonungen dessen, was Heine gern seine „kleinen
giftigen Gedichte“ nannte. Ein anderer Dichter, von dessen Werken Brahms viele
vertonte, war Eduard Mörike, der weniger bekannt ist, der aber zu Helga
Zepp-LaRouches Lieblingsdichtern gehört. Und Brahms liebte es besonders, sich
eines Stückes zweitrangiger romantischer Dichtung anzunehmen und es streng
klassisch zu behandeln. Sein Liederzyklus Die schöne Magellone ist
dafür ein gutes Beispiel.
Und ich möchte hinzufügen, daß Furtwängler manchmal das gleiche tat: das
berühmteste Beispiel ist seine Aufnahme von Tschaikowskis 6. Sinfonie, der
Pathétique, aus dem Jahr 1938. Als der junge Lyndon LaRouche diese
Aufnahme hörte, als er gerade am Ende des Zweiten Weltkriegs in Indien
stationiert war, war er überwältigt davon, wie Furtwängler es schaffte, das
Werk komplett von allen „seifenopernartigen“ Elementen zu befreien und es
durch ironische Gegenüberstellungen auf die Ebene des Klassischen im
Schillerschen Sinn zu erheben.
|