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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Alles zerfällt: Amerika, Europa und Asien in der Neuen Welt-Unordnung

Von Chas Freeman

Chas Freeman, ehem. US-Botschafter in Saudi-Arabien und Hauptdolmetscher Richard Nixons während dessen Chinareise 1972, hielt auf der internationalen Konferenz des Schiller-Instituts am 25.-26. Juni in Berlin die folgende Rede. Sie wurde für den Abdruck aus dem Englischen übersetzt.

Wir sind in eine Welt eingetreten, in der, wie William Butler Yeats 1919 sagte,

    „Alles zerfällt; das Zentrum nicht mehr hält,
    Und reine Anarchie entläßt man auf die Welt.“

In Europa, in Amerika und in Teilen Asiens droht Unheil – es herrscht großes Unbehagen darüber, was kommen wird. Es gibt irritierende Tendenzen inmitten politischer Lähmung. Demagogie ist im Aufwind, und der Geruch des Faschismus liegt in der Luft.

Besonders beunruhigend sind die Entwicklungen in der amerikanischen Politik. Das amerikanische Volk beginnt verspätet eine Diskussion über die Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt. Wir Amerikaner hätten darüber schon vor 25 Jahren sprechen müssen, als die Sowjetunion zusammenbrach und der Kalte Krieg endete. Jetzt gehen von uns Differenzen über die Außenpolitik aus, während entmutigende Bedingungen politischer und wirtschaftlicher Unsicherheiten auf der Welt herrschen. Wenige erinnern sich überhaupt noch an den Optimismus, der herrschte, als Deutschland wiedervereinigt wurde, Europa einig und frei wurde, China sich der kapitalistischen Welt anschloß und Rußland nach Demokratisierung strebte, um es ebenso zu machen.

Fast niemand sieht heute noch viel Bewundernswertes an den Resultaten der amerikanischen Außenpolitik seit diesen Ereignissen. Einige wenige behaupten, unser Gewalteinsatz hätte energischer und kontinuierlicher sein müssen, aber die Mehrheit ist überzeugt, daß die jüngsten US-Militärinterventionen kontraproduktiv waren. Immer mehr Amerikaner äußern sich skeptisch über „Auslandsinterventionen“.

In einer Welt voller Mehrdeutigkeiten reduzieren sich die Auswahlmöglichkeiten auf zwei: Seid ihr für oder gegen die Anwendung der amerikanischen Militärmacht? Aber die Trennlinien zwischen den Seiten müssen erst noch klar gezogen werden. Die Debatte schaukelt sich hoch als Teil eines Wahlkampfes, der von Unzufriedenheit im Inland geprägt ist und in dem die Außenpolitik höchstens eine Randerscheinung ist. Die Diskussion über Amerikas internationale Ziele und Verantwortlichkeiten hat gerade erst begonnen. Sie ist noch inkohärent, und sie ist ebenso verwirrend für die Amerikaner wie alarmierend für ausländische Verbündete, Partner und Freunde.

Es fällt den Amerikanern schwer, alternative Wege in der Außenpolitik zu formulieren, aber sie wollen auf keinen Fall noch mehr von dem gleichen. Sie mögen unterschiedliche Ansichten darüber haben, was „Weitermachen wie bisher“ bedeutet. Aber was es auch ist, die meisten wollen es nicht. In der Hinsicht erscheinen die Europäer nicht viel anders.

Alle sind sich bewußt darüber, daß große Verschiebungen in der Verteilung von Reichtum und Macht auf der Welt stattfinden.

Der allgegenwärtige Übelstand erklärt, warum viele in Europa wie in Amerika leeren Slogans hinterherlaufen, die als neue Ideen über den Umgang mit Grenzen, den Flüchtlingen, Außenhandel und -investitionen, Beziehungen zu Verbündeten und Gegnern und Neuerungen in der existierenden Weltordnung maskiert sind. Weitere Unsicherheit entsteht aus Wirtschaftsflauten, die aus politischem Stillstand geboren sind, aus gesetzgeberischen Versäumnissen in der Haushaltspolitik, radikaler, doch unproduktiver Geldpolitik, Ausbreitung von Autoritarismus, erneuter Antipathie zwischen dem Westen und Rußland sowie viel unsinnigem Gerede von Leuten mit großen politischen Ambitionen, aber kleinen intellektuellen Fähigkeiten, in Amerika wie in Europa.

Das Zerbröckeln der Pax Americana trägt beträchtlich zu der neuen Welt-Unordnung bei. Das ist nervenaufreibend für die Amerikaner und für die ausländischen Verbündeten und Partner der USA. Das Beste, das sich darüber sagen läßt, ist, daß es auch Amerikas Gegner verwirrt. Allerdings ist man sich auch nicht einig darin, wer diese Gegner sind, und noch weniger darin, was sie möglicherweise wollen.

Das neue Feindbild

Mit dem Verschwinden des messianischen Totalitarismus unterlagen die Amerikaner dem „Feindmangel-Syndrom“: dem mulmigen Gefühl, das einen erfaßt, wenn das eigene Militär- und Rüstungsestablishment keinen offensichtlichen, glaubhaften Feind mehr hat, auf den es sich konzentrieren kann. Die europäische Staatskunst akzeptiert traditionell, daß Verbündete in einer Sache Gegner in einer anderen Sache sein können, daß auf viele Probleme militärische Stärke allein keine Antwort ist, daß langfristige Interessen manchmal kurzfristige Opfer erfordern und daß es oft klüger ist, mit denjenigen, die begrenzte Veränderungen der existierenden Ordnung anstreben, Aussöhnung statt Konfrontation zu suchen. Aber dies sind neuartige Gedanken für Amerikaner, deren außenpolitische Bildung aus dem Kalten Krieg stammt, als die Diplomatie einem Grabenkrieg und keinem Bewegungskrieg ähnelte.

Der lange Wettstreit mit der Sowjetunion machte Amerika in vieler Hinsicht einspurig. Washington lernte, sich zuerst auf militärische Abschreckung und Bestrafung durch Sanktionen zu verlegen, bevor man Diplomatie erwog, um die Ursachen der Zwietracht zu beseitigen, der die zu verhütenden Gefahren heraufbeschwor. Und Abschreckung ist problematisch, nicht nur, weil man einen Krieg aus Versehen riskiert, sondern weil sie unbeweglich macht und potentielle Konflikte verschiebt, anstatt sich mit ihren Ursachen zu befassen. Abschreckung verhindert unmittelbar Konflikte und kauft der Diplomatie Zeit. Aber wenn es keine Diplomatie gibt, häuft Abschreckung nur Ärger an für später, wenn das Glück sich zugunsten der einen oder anderen Seite wendet. Das ist besonders wahrscheinlich, wenn das Machtgleichgewicht sich schnell verändert, wie derzeit im indo-pazifischen Raum.

Es sieht so als, als fingen die Amerikaner an, sich zu der Erkenntnis vorzutasten, daß die Lösung der tieferen Probleme, die streitende Seiten in den Kampf treiben, eine bessere Methode zur Friedenssicherung sein kann, als zu versuchen, das Risiko zu managen, indem man glaubhaft versichert, Gewaltanwendung gleichermaßen zu vergelten. Wenn dem so ist, dann ist das eine gesunde Entwicklung, die wir alle begrüßen sollten. Sie bietet Amerikas Verbündeten und Partnern neue Möglichkeiten, sich Amerikas immer noch enorme Fähigkeit zunutze zu machen, eine bessere Zukunft zu gestalten, zu lenken und zu erhalten, als sie sonst aus der gegenwärtigen Welt-Unordnung erwachsen würde.

Europa aus der Sicht Amerikas

Aus amerikanischer Sicht jedoch erscheinen Washingtons europäische Verbündete konfuser denn je. Die Europäer reden mit vielen Zungen, die widersprüchlich sind. Die Brexit-Entscheidung hat die Verwirrung Europas noch verstärkt. Der Brexit dürfte die Nachkriegsordnung in Europa erschüttern, läßt die Briten als Mittler zwischen den Vereinigten Staaten und dem „Kontinent“ ausfallen und ist ein möglicherweise tödlicher Schlag für die britische Sonderbeziehung zu beiden. All dies, während im amerikanischen Wahlkampf unüberlegte Vorschläge für die Neuverhandlung der transatlantischen und transpazifischen Bündnisse der USA, des globalen Handelssystems und der Beziehungen zu Rußland und zu China laut werden.

Immer mehr Amerikaner verstehen, daß die Vereinigten Staaten, wenn sie sich weigern, auf ihre Verbündeten zu hören, irgendwann keine mehr haben werden. Aber andere fragen, wie Länder, die relativ wenig für ihre Verteidigung ausgeben und dies lieber „Onkel Sam“ überlassen, als gleichberechtigte „Verbündete“ und nicht bloß als „Protektorate“ gelten dürfen. „Verbündete“ sind Länder mit gegenseitigen Verpflichtungen und Verantwortungen, d.h. ohne einseitige Abhängigkeit. Die lockere Verwendung des Wortes „Verbündeter“ verhüllt die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten in Asien und im Nahen Osten Mündel- und Satellitenstaaten haben, die sie einseitig unter ihren Schutz gestellt haben, aber keine „Verbündeten“, die sich zur gemeinsamen Verteidigung verpflichtet haben.

Im Gegensatz dazu haben die USA in Europa immer solche Verbündeten gesucht, keine Satrapien oder „Anhängsel“, erst recht keine unterwürfigen Kriecher. Deshalb haben die Amerikaner das „europäische Projekt“ so stark unterstützt. Wenn nun der Versuch der europäischen Einigung ins Straucheln gerät, gilt das auch für die Hoffnung in Amerika, daß Europa einen Rückfall in Machtungleichgewichte und in politisch-wirtschaftliche Zusammenbrüche vermeiden kann, die im letzten Jahrhundert die USA dreimal zwangen, Europa zu retten und schließlich zu besetzen.

Offen gesagt, wenn die Europäer unter den gegenwärtigen Umständen weiter als Verbündete gelten und als solche von den Amerikanern gehört werden wollen, dann müssen sie ihre Erwartungen an sich selbst und auch an Amerika ändern. Sie müssen mehr für ihre Verteidigung tun und kohärente Sichtweisen formulieren und kommunizieren, was sie von den Vereinigten Staaten zur Ergänzung ihrer eigenen militärischen Stärke brauchen und was nicht. Sie müssen sich ausrüsten und das amerikanische Volk davon überzeugen, daß es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, daß sie das bekommen, was sie wollen. (Gleiches gilt für nichteuropäische Partner wie Japan und Südkorea.) Die Welt ist wohl oder übel in eine Ära von Transaktionsbeziehungen eingetreten, anstelle von Bündnissen auf Grundlage der Konfrontation mit einem gemeinsamen globalen Feind oder gegenseitigen Verpflichtungen auf gemeinsame strategische Interessen und Visionen.

Die Rolle der NATO

Der Ruf nach einer Neujustierung und gleichzeitigen Umstrukturierung von Amerikas Verteidigungsgarantien in Übersee erinnert daran, daß die USA 160 Jahre lang „umschlingende Allianzen“ sorgfältig gemieden haben. Diese Haltung endete erst 1949, als die USA zusammen mit Kanada und europäischen Nationen die NATO bildeten. Washington wollte damals der wahrgenommenen Gefahr etwas entgegensetzen, daß Stalins UdSSR in Versuchung bringen könnte, nicht nur Europa, sondern die ganze Welt jenseits der westlichen Hemisphäre zu beherrschen oder gar zu erobern, um soviel Macht in der Alten Welt anzusammeln, daß sie eine existentielle Herausforderung für die Neue darstellen könnte. Aber die Sowjetunion existiert nicht mehr. Allen heutigen Bemühungen zum Trotz, Rußland als unerbittlich räuberisch hinzustellen, droht Europa keine vergleichbare äußere Gefahr wie in der Vergangenheit.

Mit amerikanischer Hilfe erholte Europa sich vom Zweiten Weltkrieg und festigte seine demokratische politische Kultur. Es hat seit dem Ende des Kalten Krieges ein Vierteljahrhundert lang Frieden, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit genossen. Europa ist vielleicht viel weniger als die Summe seiner Teile, aber es ist nicht schwach. Die europäischen NATO-Mitglieder haben eine viermal größere Bevölkerung als Rußland und ein neunmal größeres Wirtschaftsprodukt. Sie bleiben unter den von der NATO angestrebten Militärbudgets, geben aber trotzdem mindestens dreimal soviel oder mehr für die Verteidigung aus als Rußland. Einige unterhalten außerordentlich effektive Streitkräfte. Es besteht gegenwärtig keine Notwendigkeit, daß die Europäer sich für ihre Verteidigung hauptsächlich auf US-Kräfte verlassen. Unter diesen Umständen ist es kaum überraschend, wenn immer mehr Amerikaner davon überzeugt sind, daß eine Umverteilung der Lasten im transatlantischen Bündnis überfällig ist.

Manche fragen: „Wenn die NATO immer noch die Antwort ist, was waren die Fragen?“ Aber die meisten Amerikaner sind weit davon entfernt, sich von Europa trennen zu wollen, sie wollen nur eine gleichmäßiger verteilte Sicherheitsbeziehung zu ihm. Der Grund hierfür ist, daß drei Kriege im 20. Jahrhundert (zwei heiße und ein kalter) gezeigt haben:

  • Europa und Amerika gehören zu einer einheitlichen geopolitischen Zone, in der Sicherheit und Wohlergehen aller untrennbar mit der aller anderen verbunden sind;

  • Eine europaweite Sicherheitsarchitektur ist notwendig, um die Sicherheitskooperation aufrechtzuerhalten und Frieden unter den Europäern zu wahren;

  • Europa braucht Amerikas Beteiligung an seiner Sicherheitsarchitektur, um eine Vorherrschaft der größten europäischen Macht, Deutschland, auszuschließen und es in die Lage zu versetzen, einen Ausgleich zu Rußland herzustellen und mit Rußland friedlich zu koexistieren.

Diese Realitäten schaffen einen zwangsläufigen Rahmen für die transatlantische Zusammenarbeit, aber sie sind nicht selbstvollziehend. Sie werden vom Brexit und ähnlichen Spaltungstendenzen in Europa untergraben. Sie führen nicht automatisch zu kooperativer Sicherheit, kooperativen Beziehungen zu Rußland oder der Türkei oder kooperativer Stabilisierung der Grenzländer zwischen Eurasien und Europa. Der Entwurf solcher Vereinbarungen erfordert Staatskunst, an der es seit dem Ende des Kalten Krieges offenkundig mangelt.

Frieden und Stabilität in Europa und Eurasien erfordern die Erkenntnis in Europa und Rußland, daß beide ein lebenswichtiges Interesse an einer weitgehend einigen, florierenden, unabhängigen Ukraine haben. Eine solche Ukraine kann nur entstehen, wenn beide sich zurückhalten und rückversichern.

Ein Modell dafür ist der österreichische Staatsvertrag von 1955, der Österreich als souveränen, demokratischen Staat mit Garantien für ethnische Minderheiten etablierte. Österreich zementierte seine Freiheit, indem es seine dauerhafte Neutralität zwischen Ost und West erklärte und ein glaubwürdiges Bundesheer aufstellte. Wenn das mit Österreich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges möglich war, dann ist es auch unter den heutigen, weit weniger konfliktgeprägten Umständen mit der Ukraine möglich.

Es wäre im Interesse aller, besonders der Ukraine, die Ukraine sowohl zum Puffer als auch zur Brücke zwischen Europa und Rußland zu machen. Europäer und Russen haben inzwischen über jeden Zweifel erhaben bewiesen, daß sie beide bereit sind, Versuche des anderen, sich die Ukraine einzuverleiben oder über sie zu herrschen, zu vereiteln und zu bestrafen. Die Vereinigten Staaten haben gezeigt, daß man darauf zählen kann, daß sie Europa im Widerstand gegen eine russische Intervention in der Ukraine militärisch unterstützen.

Das Resultat ist eine gefährliche festgefahrene Situation, aber auch eine Chance. Beide Seiten haben die Zwangsmaßnahmen ausgereizt. Keine kann hoffen, aus einem fortgesetzten Wettstreit um die Vorherrschaft in der Ukraine irgendwelche substantiellen Vorteile zu gewinnen. Eine Eskalation der Konfrontation zwischen der NATO und Rußland ist teuer und riskant. Sie führt zu keinem Ergebnis, das sich eine der beiden Seiten wünschen würde. Gegenseitige Garantien für die Unabhängigkeit und Neutralität der Ukraine nach dem Vorbild Österreichs auszuhandeln, ist die beste verbliebene Option.

Ohne eine gemeinsame Vision Europas und Rußlands als Rahmen für ein solches Ergebnis wird man jedoch in der Sackgasse bleiben. In einem solchen Fall ist eine große Übereinkunft angesagt. Die im Minsker Abkommen vorgesehenen beiderseitigen Truppenrückzüge und Reformen bieten einen potentiellen Ausgangspunkt für einen diplomatischen Prozeß zur Konsolidierung des zukünftigen Standorts einer unabhängigen Ukraine zwischen Europa und Rußland. Wie bei Minsk ist Europa, nicht Amerika, am besten geeignet, einen solchen Prozeß zu konzipieren und anzuführen, der Teil einer größeren Vision für kooperative Sicherheit in Europa sein muß.

Weise amerikanische Staatskunst würde eine russische Beteiligung an der Regelung der Angelegenheiten in Europa und der eurasischen Landmasse insgesamt begrüßen, anstatt sich gegen sie zu stemmen. Dafür existieren bereits viele institutionelle Rahmen, wie die OSZE, der NATO-Rußland-Rat, der Europarat, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und andere. Die Wiedereinbindung des nachrevolutionären Frankreich in das „europäische Konzert“ nach den Napoleonischen Kriegen hat gezeigt, wie die Aufnahme früherer Gegner in die Entscheidungsfindung langfristig Frieden und Stabilität in Europa fördern kann. Der Ausschluß des postwilhelminischen Deutschland und postzaristischen Rußland aus den europäischen Beratungen nach dem Ersten Weltkrieg wirkte sich keineswegs gut aus. Diese Erfahrung sollte unmißverständlich klarmachen, wie gefährlich es ist, Großmächte von einer angemessenen Rolle bei der Entscheidung über Angelegenheiten, in denen sie ein legitimes Interesse haben, auszuschließen.

Neue Konstellationen in Asien

Die USA, Europa und Rußland müssen sich auch an eine Welt anpassen, in der China und Indien als asiatische Nationen mit weltweitem Einfluß Japan ergänzen. Diese Anpassung ist für die Vereinigten Staaten besonders schwierig. Amerika hat seit 71 Jahren die Vorherrschaft im westlichen Pazifik. Es hat sich daran gewöhnt, der Wächter des globalen Wohls und der unverzichtbare Schlichter von Streitigkeiten in der Region zu sein. Nun muß es mit einem aufsteigenden China, einem selbstbewußteren Indien und einem unabhängigeren Japan auskommen.

Bestehende Institutionen, wie ASEAN, sind gespalten und bei der Regelung dieser Fragen ineffektiv. Die sich wandelnden Kräftekonstellationen im Asien-Pazifik-Raum sind vor allem ökonomisch geprägt. Im Gegensatz dazu ist die „Wende nach Asien“ der USA fast ausschließlich militärisch. Die USA, Japan und China sprechen aneinander vorbei. Doch stückchenweise entfaltet sich ein Anpassungsprozeß, unter viel Theatralik um Territorialstreitigkeiten auf dem Meer, an denen die Vereinigten Staaten nicht beteiligt sind. Die enormen Asymmetrien bei dem, was hier für China und für die USA auf dem Spiel steht, sind gefährlich.

Um Bismarcks vorausschauende Bemerkung über den Balkan 26 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg umzuformulieren: Alle dortigen Felsen, Riffe und Sandbänke sind nicht das Leben eines einzigen US-Soldaten wert. Aber wenn es jemals wieder einen Krieg in Asien gibt, wird es das Resultat irgendeiner dummen Sache im Süd- oder Ostchinesischen Meer sein. Kriege können passieren, auch wenn sie keinen Sinn machen. In Asien wie in Europa braucht man dringend Diplomatie anstelle militärischer Methoden, mit denen man nichts löst, aber viel riskiert.

Indem die Vereinigten Staaten Rußland im Westen und China im Osten zurückdrängen, werden beide näher zusammengebracht. Um der chinesisch-russischen Partnerschaft etwas entgegenzusetzen, hofiert Japan Rußland, aber nicht sehr erfolgreich. China bewegt sich auf Europa zu. Und China, Europa, Japan, Rußland und die USA hofieren alle Indien, das sich jedoch ziert. Wir sind in eine Welt vieler konkurrierender Machtzentren und regionaler Konstellationen eingetreten, in der langfristiger Weitblick und kurzfristiges diplomatisches Geschick hoch im Kurs stehen. Mit der Ausnahme Indiens legt derzeit keine der Großmächte beide Qualitäten an den Tag.

Die Neue Seidenstraße

Dies ist der globale Kontext, in dem China vorgeschlagen hat, mit einem Netz von Eisenbahnen, Straßen, Pipelines, Kommunikationslinien, Häfen, Flughäfen und industriellen Entwicklungszonen die gesamte eurasische Landmasse zu integrieren. Wenn Chinas Konzept „Ein Gürtel, eine Straße“ verwirklicht ist, wird dies ein riesiges Gebiet für den wirtschaftlichen und interkulturellen Austausch öffnen und Grenzen für internationale Zusammenarbeit abbauen, in einer Zone von 65 Ländern mit 70% der Weltbevölkerung, mit mehr als 40% des Wirtschaftsprodukts, die weit über die Hälfte des gegenwärtigen Wirtschaftswachstums der Welt erzeugt. Die geschätzten Kosten der Projekte, die jetzt schon auf dem Reißbrett existieren, sind mindestens das Elffache dessen, was für den Marshallplan ausgegeben wurde.

Diese umfangreichen Infrastrukturprojekte versprechen die Geschwindigkeit von Transport und Telekommunikation deutlich zu erhöhen, Kosten zu senken und eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Sie werden Rußland und Zentralasien mit China wie mit Europa zusammenführen und gleichzeitig Südasien über Land und Meer mit den Märkten und Rohstoffen der Länder nördlich davon wie auch Afrikas verbinden. Indem es den Landtransport weitaus effektiver macht und ihn an neue Häfen und Flughäfen anbindet, wird das Programm „Ein Gürtel, eine Straße“ die Gewichte zwischen Land- und Seemacht verändern, so auch in den arktischen Regionen, die jetzt infolge der Klimaveränderung zugänglich werden.

Als Konzept ist das Gürtel-und-Straße-Programm die größte Kombination von Bauprojekten, die der Mensch jemals unternommen hat. Sein Potential, die globale Geoökonomie und Politik zu verändern, entspricht dieser Größenordnung. Es wird eine größere Bühne für friedliche Zusammenarbeit und Wettbewerb schaffen, als es irgendein Imperium jemals geschafft hat, und das ohne militärische Eroberungen oder Gewaltanwendung. Es bietet damit ein Gegengift gegen strategische Kurzsichtigkeit, Militarismus und finanzielle Durchtriebenheit, die hinter der neuen Welt-Unordnung stehen. Es ist eine Alternative zum „Weitermachen wie bisher“, die die Welt mit offenen Armen annehmen sollte.