Krieg - eine Pathologie des Westens
Von Ulrich E. Scholz
Oberstleutnant a.D. Ulrich Scholz ist ehemaliger
Luftwaffenoffizier (Jagdflieger), NATO-Planer und Dozent über
Luftkampfführung. Bei der Berliner Konferenz des Schiller-Instituts hielt er
den folgenden Vortrag, der für den Abdruck aus dem Englischen übersetzt
wurde.
Schönen guten Morgen. Ich werde zu Ihnen über den Krieg sprechen; ich nenne
es eine Pathologie des Westens.
Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über mich selbst sagen, damit Sie
nicht das Gefühl bekommen, daß hier ein naiver Friedensaktivist redet. Ich war
selbst mein halbes Leben lang Krieger: Ich bin ein von den Amerikanern
ausgebildeter Kampfpilot, ich weiß, wie man Bomben abwirft. Ich habe anderen
beigebracht, wie man Bomben abwirft, sogar Atombomben, und das hat mir Spaß
gemacht. Ich habe meine Generalstabsausbildung bei der US-Luftwaffe
absolviert. Ich bin ein großer Freund der amerikanischen Kultur, und ich habe
viele Freunde unter ihnen [den US-Amerikanern], sehr gute Leute.
Ich denke, daß ich das vorausschicken muß, denn bei dem, was ich gleich
sagen werde, könnten Sie vielleicht daran zweifeln, daß ich immer noch ein
großer Freund Amerikas bin.

Abb. 1: Der Film „Planet der Affen“ endet in den Vereinigten Staaten der
Zukunft - regiert von Affen, die alten Ideale liegen in Trümmern.

Abb. 2: Noch heute richtet sich das Denken der Strategen nach der Lehre des
preußischen Generals Carl von Clausewitz, der Krieg sei „die Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln“.
Ich werde drei Metaphern verwenden, und ich werde Sie drei Fragen lehren,
die man stellen muß, um zu dem Schluß zu kommen, daß der Krieg kein Mittel der
Politik mehr sein darf, denn darauf läuft es hinaus. Ich verwende diese
Metaphern, weil ich gelernt habe, daß das der beste Weg ist, Erwachsenen etwas
beizubringen, ohne daß Sie wissen, daß sie etwas lernen.
In diesem Bild (Abbildung 1) sind zwei Metaphern. Wissen Sie, aus
welchem Film dieses Bild stammt? (Zurufe aus dem Publikum) Planet
der Affen, das ist richtig. Ich werde hier nicht die Handlung dieses Films
erzählen, doch dieser Film paßt ganz genau zum Kern dessen, worum es bei
dieser Konferenz geht. Wenn jemand die Handlung nicht kennt, kann ich sie ihm
in der Pause erzählen. Es lohnt, ihn anzuschauen, Charlton Heston spielt mit,
und wenn Sie ihn noch nicht gesehen haben, dann besorgen Sie sich einfach die
DVD, er ist faszinierend.
Begonnen hat alles mit diesen beiden sympathischen Menschen: Carl von
Clausewitz, einem jungen General der preußischen Armee, und seiner Ehefrau
(Abbildung 2). Nach den Napoleonischen Kriegen setzte sich Clausewitz
hin und versuchte, das Wesen des Krieges zu verstehen, indem er Napoleon
studierte, und er schrieb das Buch Vom Kriege. Leider starb er, bevor
er es beenden konnte. Deshalb hat seine Ehefrau Marie das Buch nach dem ersten
Kapitel fertig geschrieben. Sie nahm seine Notizen und schrieb das Buch. Das
war damals eine außergewöhnliche Sache, daß eine Frau ein Buch über den Krieg
schrieb.
Clausewitz hat eine seiner wesentlichen Annahmen in diesem berühmten Satz
zusammengefaßt: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln.“ Das ist natürlich nur eine komprimierte Reduktion seiner
Beschreibung dessen, was er studiert hat. Und jetzt kommt das Unglaubliche:
Politiker und Generale verwenden noch heute diese Beobachtung von Clausewitz
wie ein Kochbuch. Man müsse bloß die Kriege studieren, um das richtig
anzuwenden, um politische Interessen durchzusetzen.
Und das ist ein Skandal. Wenn man sich die Tatsachen anschaut: In den
letzten 200 Jahren gab es in den großen Kriegen mehr als 150 Millionen Tote.
Gegenwärtig gibt es rund 4000 Kernwaffen - scharf geladen und aktiv - auf der
Welt. Dabei haben wir in den Statuten des Völkerrechts festgeschrieben, daß
Krieg verboten ist.
Und doch denken Politiker und Generale immer noch darüber nach, wie man den
Krieg benutzen kann, um Interessen durchzusetzen. Ich glaube, dahinter steckt
eine Pathologie. Angesichts dieser Fakten sollte kein vernünftiger Mensch [so
denken]. Ich sage immer: „Krieg ist eine Beleidigung der menschlichen
Intelligenz.“ Denn wenn man sich diese Tatsachen anschaut, wer würde da daran
denken, einen Krieg zu beginnen? (Applaus)
Vielen Dank.
Ich möchte hier den anderen berühmten deutschen Dichter - Goethe - und
einen kleinen Reim von ihm als Metapher verwenden. Er schrieb:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt
— Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan
Nun, ich vergleiche diese Metapher des Atmens mit dem kapitalistischen
System. Für mich ist das Einatmen Wachstum. In unserem System haben wir
gelernt, einzuatmen - aber leider haben wir vergessen, wie man ausatmet. Und
Krieg ist für mich die letzte, verzweifelte Form des Versuchs, auszuatmen. Die
entsprechende Krankheit ist das Asthma; Asthmatiker können nicht ausatmen.
Das westliche Wirtschaftssystem ist so etwas wie Magie. Was müssen wir also
tun, um eine ausgewogene Form des Atmens in unserer Welt zu finden? Eine
Änderung des Paradigmas - das ist es, wovon wir hier sprechen. Wir müssen uns
ändern. Und mein erster Schritt dahin ist es, dieses alte Paradigma des
Krieges aufzugeben. Darauf will ich hinaus.
Nun zu den drei Fragen. Wenn Sie lesen oder hören, daß eine Regierung einen
Krieg anfängt, dann sollten Sie das immer hinterfragen und drei Fragen
stellen:
- Was ist das politische Ziel?
- Wie will das Militär dieses Ziel erreichen?
- Und was ist mit unserer Ethik, wenn wir es tun?
Diese drei Dinge kann man in der Geschichte aller Kriege stellen, und ich
habe gerade die Kriege der letzten 25 Jahre untersucht, die der Westen geführt
hat. Und der Westen versagt in allen drei Fragen. Trotzdem führt er
immer weiter Kriege.
Ich will als Beispiel die laufende Operation „Inherent Resolve“ betrachten
- der amerikanische Bombenkrieg gegen Daesh, den Islamischen Staat -, um zu
zeigen, warum er in allen drei Punkten falsch ist.
Die Webseite des Pentagons über die Operation „Inherent Resolve“ ist
öffentlich zugänglich.1
Eines, was ein politisches Ziel immer beinhalten muß, wenn die Streitkräfte
es mit militärischen Mitteln erreichen sollen, ist ein Endzustand. Was ist,
wenn das Militär seine Arbeit getan hat? Wie sieht dann die Welt aus?

Abb. 3: Das US-Militär mißt seine Erfolge an der Zahl der zerstörten Geräte
und Einrichtungen - aber es gibt keine Vorgabe, wann das Ziel erreicht ist.
Und weil wir im Westen gerne alles kontrollieren, lieben wir Zahlen. Wir
wollen gerne die Zahlen wissen. Nun, auf dieser Internetseite finden Sie sie:
Jeden Tag werden die Zahlen der Ziele, die getroffen und zerstört wurden,
aktualisiert. Man kann das jeden Tag anschauen. Diese Zahlen (Abbildung
3) stammen vom 31. Mai.2 Sie haben 2014 mit dem Zählen
angefangen. Aber was sie leider nicht getan haben: Sie haben keine Zahl
angegeben, bei der wir gewonnen haben. Und so kann man endlos weiterzählen. In
Vietnam haben sie über dem Zählen - dem „body count“, Sie kennen das -
den Krieg verloren. Und sie tun es immer noch. Das ist doch pathologisch,
nicht wahr? (Applaus.) Wenn man also liest: „Zerstörte Gebäude: 6500“,
dann frage ich mich: „Wer außer Terroristen war noch in dem Gebäude? Wer war
im Nachbargebäude?“
Die politischen Ziele müssen also klar definiert sein. Es muß eine klare
Aussage geben, was das Militär tun muß. Ich will Ihnen die politischen Ziele
von Inherent Resolve nennen. Sie lauten: [1.] „Daesh militärisch besiegen, um
die regionale Stabilität zu erhöhen.“ Gibt es denn Stabilität in der Region?
Ist da irgend etwas, was wir „erhöhen“ können? Lesen Sie es, es ist offiziell:
„die regionale Stabilität erhöhen“. Sie machen sich selbst etwas vor und
machen uns etwas vor. Es ist völliger Unsinn.
Ein zweites politisches Ziel ist: „die Ideologie von Daesh besiegen“. Wie
kann man eine Ideologie besiegen, indem man Bomben abwirft? Sagen Sie es mir!
„Den weltweiten Zustrom ausländischer Kämpfer in alle unsere Nationen
aufhalten.“ Bombenangriffe im Nahen Osten sollen „den Zustrom von Terroristen
in alle unsere Nationen aufhalten“? Kann man das militärisch?
Diese beiden politischen Spiele sind also die Grundlage für all die
Bombenangriffe, die wir dort jeden Tag durchführen. Man könnte es dabei
belassen. Welch eine Vergeudung von Menschenleben und Geld!
Kommen wir als nächstes zur Militärdoktrin. Obama sagte im September 2014:
Keine amerikanischen Bodentruppen. Die Doktrin ist die Art und Weise,
wie wir kämpfen. Und nach Vietnam haben die USA eine Doktrin des
Zusammenwirkens der Teilstreitkräfte (jointness) entwickelt: Wir nutzen
alles, was wir in unseren Arsenalen haben, Armee, Marine, Luftwaffe,
Sondereinsatzkräfte. Wir betrachten das Problem und dann entscheiden wir, was
wir tun können und wie wir es tun wollen. Aber Obama sagte: „Keine
Bodentruppen“. An der Stelle hätte ein General sagen sollen: „Das widerspricht
völlig der Doktrin, das machen wir nicht.“ Aber sie tun es trotzdem.
Sie setzen Rebellengruppen am Boden ein, man nennt sie „einheimische
Kräfte“, das hört sich wissenschaftlich an. Aber das hat überhaupt nichts mit
„Zusammenwirken“ zu tun. Es gibt keine gemeinsame militärische Kultur, keine
gemeinsame Sprache, keine gemeinsamen Prozeduren, keine Kohärenz der Kräfte.
Es sind einfach zwei verschiedene Dinge, die ablaufen. Die Kurden und alle die
„Guten“ am Boden versuchen etwas zu tun, und über ihnen spielt sich der
Luftkampf ab. Das ist nicht sehr professionell.
Einen Krieg allein mit der Luftwaffe zu führen - und Amerika und die NATO
haben das in den letzten 25 Jahren in mehreren Ländern getan -, ist sinnlos.
Es ist schlicht sinnlos.
Und jetzt kommt das alles entscheidende Argument, das folgende: Rebellen
und Aufständische werden große militärische Zusammenstöße immer vermeiden. Sie
werden sich unter die Bevölkerung mischen. Sie tun es absichtlich. Wenn Sie,
bei aller Präzision und gründlichen Zielauswahl versuchen, Terroristen in
Aleppo oder Al-Rakka zu treffen, dann werden Sie auch Zivilisten treffen. Nun,
ich frage Sie: Wie viele Kinder sollen wir töten, um einen Terroristen zu
erwischen? Ich sage: kein einziges! (Applaus.)
Im Hauptquartier der Luftwaffe in Katar gibt es im Planungsprozeß
Rechtsberater. Die NATO hat sie, die Franzosen haben sie, die Deutschen haben
sie: einen Rechtsberater, einen Anwalt, der den Planern sagt, wieviel
Zivilisten ein bestimmtes Ziel „wert“ ist. Er schreibt Todesurteile. Er wird
sagen: „20? Nein. 10? Okay.“ Das geschieht jeden Tag, und es ist uns einfach
egal. Und ich denke, das ist ein Skandal. (Applaus.)
Nun zu meinem letzten Punkt: Wie können wir nach den alten Paradigmen, wie
man Kriege führt, ein neues Paradigma bekommen? Ich denke, das ist eine
Änderung der Kultur, und kulturelle Änderungen funktionieren nicht von oben.
Das ist Diktatur, wir haben das schon versucht. Und kulturelle Änderung von
unten, das ist die Guillotine, das haben wir auch schon erlebt.
Es kann nur geschehen, wenn die Menschen dazulernen. Und lernen kann man
nur, wenn man versucht, Diskussionen anzuregen, die Menschen informiert und
sie ermutigt, „Nein!“ zu sagen. Fragen Sie die Politiker, stellen Sie den
Generalen diese drei Fragen über die Ziele, die Ethik und natürlich auch die
militärischen Methoden.
Ich plädiere hier also dafür, von dem Paradigma wegzukommen, Kriege aus
politischen Gründen zu führen. Wir sollten Krieg ausschließlich aus
humanitären Gründen führen. Und damit bin ich am Ende meiner Rede.
Anmerkung
1. Siehe http://inherentresolve.mil/
2. Siehe http://www.inherentresolve.mil/Portals/1/Documents/Strike%20Releases/2016/05May/20160531%20Strike%20Release%20Final.pdf?ver=2016-05-31-080207-257
|