Der Kollaps des europäischen Finanzsystems und das Scheitern der Bankenunion
Von Marco Zanni
Marco Zanni ist Leiter der M5S-Delegation im Ausschuß des
Europaparlaments für Wirtschafts- und Währungsfragen. Er hielt bei der
Berliner Konferenz des Schiller-Instituts die folgende Rede, die für den
Abdruck aus dem Englischen übersetzt wurde.
Ich grüße Sie alle und bedanke mich sehr beim Schiller-Institut, mir die
Gelegenheit zu geben, diese Rede über die Lage der Europäischen Union und das
europäische Finanzsystem zu halten.
Bevor ich über die Wirtschaft und das Finanzsystem Europas spreche, möchte
ich kurz einige Worte zu dem Ereignis am Freitag sagen, über das überraschende
Ergebnis des britischen Referendums über die Mitgliedschaft in der EU.
Wie gesagt, das Ergebnis war „überraschend“ und ein sehr starkes Signal der
Demokratie an die Europäische Union und die europäischen Institutionen. Die EU
ignorierte den Willen der Völker und Bürger, als sie eine politische
Integration erzwang, die nicht der richtige Weg für die Zusammenarbeit in
Europa ist. Ich erinnere an die Volksabstimmungen 2005 über die europäische
Verfassung, die von Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde, und ich
erinnere an das Referendum 2008 in Irland über den Lissabon-Vertrag: Die
europäischen Institutionen beschlossen, die Stimme der Bürger zu ignorieren,
und der Brexit ist das Ergebnis dieses schlechten politischen Verständnisses
für ein vereintes Europa der Zusammenarbeit zwischen europäischen Ländern.
Ich halte dies für eine enorme Chance für die europäischen Staaten, sich
alle an einen Tisch zu setzen, das Projekt der Europäischen Union für
gescheitert zu erklären, und zu versuchen, ein neues, alternatives Projekt für
Europa zu beginnen. Denn Europa ist etwas anderes als die Europäische Union,
und ich bin ein starker Befürworter Europas und der europäischen Bürger.
(Applaus)
Wir sollten also, wie gesagt, ein alternatives Projekt für Europa schaffen,
das wieder für Wirtschaftswachstum in Europa sorgt, das die Unterschiede
zwischen den europäischen Staaten respektiert und das einen Rahmen für
wirkliche Zusammenarbeit schafft – d.h., ein Europa, das ausgerichtet
ist auf die wirklichen Bedürfnisse der Realwirtschaft, des Mittelstands und
der Bürger, anstatt auf die Bedürfnisse von Spekulanten, Finanziers und
Großbanken, wie diese EU.
Ich habe eben erst vor einer Stunde eine sehr gute Nachricht erhalten, daß
nämlich der EU-Kommissar für Finanzregulierung [Finanzstabilität,
Finanzdienstleistungen und Union der Kapitalmärkte], der frühere
Finanzlobbyist in Brüssel, Jonathan Hill, wegen des Brexit zurückgetreten ist.
Das ist eine gute Nachricht, und es ist zu hoffen, daß wir im Europaparlament
jetzt in Wirtschafts- und Währungsfragen besser zusammenarbeiten können.
Die falsche Methode der EZB
Nach dieser Vorrede möchte ich nun versuchen, den Zustand des europäischen
Finanzsystems zu bewerten und darzustellen – dieser Satz faßt ihn sehr
gut zusammen: „Das europäische Finanzsystem kollabiert.“ Es kollabiert wegen
der falschen Politik, die die europäischen Regierungen und die Europäische
Union betrieben haben. Nach der Finanzkrise 2008 entschied die EU, sich auf
die falschen Probleme zu konzentrieren. Man versuchte, Finanzregulierungen
einzuführen, die darauf abzielten, die Folgen der Krise zu überwinden. Ich
halte das nicht für den richtigen Weg, die Stabilität des Finanzsystems
wiederherzustellen oder zu garantieren. Wenn wir ein sicheres Banken- und
Finanzsystem und Finanzstabilität wollen, dann sollten wir uns darauf
konzentrieren, neue Krisen zu verhindern! Regulierungen der Haftung und
Eigenkapitalseite der Banken halte ich für den falschen Weg. Wir müssen uns
auf die Aktivseite, auf das Risiko im Finanzsystem durch bestimmte
Finanzanlagen konzentrieren. Dementsprechend sind die Europäische Union und
ihr Projekt der Bankenunion an dieser Aufgabe gescheitert.
Lassen Sie mich über die erste Säule der Bankenunion sprechen, den
Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) für das gesamte Bankensystem der
Teilnehmerstaaten. Der Ansatz der einheitlichen Aufsicht durch die EZB bzw.
einen Zweig der EZB ist vollkommen falsch, und der Beweis dafür sind die
Streßtests, die die EZB nach dem November 2014 vorgelegt hat.
Der Fehler in der Analyse und Methode der EZB liegt darin, daß sie nur das
Kreditrisiko in der Bilanz des europäischen Bankensystems bewertet. Sie
berücksichtigt überhaupt nicht das Risiko der problematischen, spekulativen
Finanzwerte, die in den Bilanzen des Bankensystems enthalten sind. Ich spreche
von dem, was man in der Regulierung die „Level-3-Vermögenswerte“ nennt.
Level-3-Vermögenswerte sind illiquide Finanzwerte. Ihr Preis, ihre Summe in
der Bilanz der Aktivseite einer Bank, wird anhand eines internen Modells von
der Bank selbst festgelegt, die ein Eigeninteresse daran hat, eine bestimmte
Größe für den Wert dieser Anlagen festzusetzen. Der Einheitliche
Aufsichtsmechanismus ist so angelegt, daß er die Risiken in Verbindung mit
Level 3, d.h. das Derivatrisiko des europäische Bankensystems, gar nicht
bewertet und berücksichtigt. Das ist ein riesiger Fehler, der die Stabilität
des europäischen Bankensystems gefährdet.
Nach dem Streßtest und der Analyse der EZB zum europäischen Bankensystem
hat eine Bank, die Intesa San Paolo, eine der wichtigsten Banken Italiens,
einige Probleme. Ich weiß, daß Intesa San Paolo Probleme mit faulen Krediten,
d.h. im Bereich der Kreditrisiken hat. Aber 80% der Einlagen von Intesa San
Paolo sind mit Krediten an die Realwirtschaft verbunden, und nur 20% des
Risikos ist mit spekulativen Finanzinstrumenten, Wertpapierhandel usw.
verbunden. Trotzdem ist sie nach der Darstellung der EZB ein größeres Risiko
als beispielsweise die Deutsche Bank oder BNP Paribas. Dabei zeigt ein Blick
auf die Bilanz der Deutschen Bank und BNP Paribas, daß dort die Verhältnisse
auf der Aktivseite völlig umgekehrt sind: Ihr Risiko besteht zu 80% aus
Level-3-Vermögenswerten – Derivaten, spekulativen Instrumenten und
Handelsaktiva -, und nur 20% der Werte haben etwas mit der Realwirtschaft zu
tun.
Ich bin überzeugt, daß ein System, in dem Intesa San Paolo als ein größeres
Risiko gilt als die Deutsche Bank oder BNP Paribas, völlig falsch ist und daß
es die Stabilität der Europäischen Union, der europäischen Staaten und des
europäischen Finanzsystems bedroht. Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus ist
einseitig, weil er die Marktrisiken nicht berücksichtigt – genausowenig
wie die rechtlichen Risiken in den Bankbilanzen. Denn alle diese
Too-big-to-fail-Banken, alle diese Zockerbanken stehen in Milliardenprozessen
vor Gericht wegen ihres Verhaltens auf den Märkten: Sie manipulierten die
Devisenmärkte, sie manipulierten die Zinsmärkte, und deswegen drohen ihnen
Milliardenstrafen und -bußgelder, was die Stabilität der Bankenbilanzen
gefährden kann. Und die EZB schaut bei der Bewertung dieser Risiken bewußt
weg. Das ist eine politische Entscheidung.
Wenn man den italienischen Bankensektor betrachtet, sieht man den Beweis
für diese Einseitigkeit der Herangehensweise. Italienische Banken haben
Probleme wegen ihrer Belastung mit faulen Krediten, aber das ist ein
„krisenbedingter Fehler“, wie ich es nenne, denn wenn die Wirtschaft
schrumpft, wenn der Mittelstand bankrott geht, wenn die Hausbesitzer ihre
Hypotheken nicht mehr bedienen können und Kreditnehmer ihre Raten nicht mehr
bezahlen können, dann leidet das Bankensystem natürlich unter der großen
Belastung fauler Kredite. Wenn die Wirtschaft nicht gut läuft, werden Probleme
auf den Kreditmärkten und Probleme mit faulen Krediten auftreten.
Diese Krise, diese Probleme hängen in meinen Augen mit dem Euro zusammen,
denn die Einheitswährung erzeugt riesige makroökonomische Ungleichgewichte
zwischen den europäischen Staaten. Die Eurozone ist keine optimierte
Währungszone, und ich denke, wegen der politischen Beschränkungen und wegen
der gewaltigen Unterschiede zwischen den Ländern der Eurozone ist die
Währungsunion nicht mehr zu reparieren. Deswegen hängt das Problem mit dem
Euro zusammen.
Doch welche Maßnahmen möchte die EU umsetzen, um das Finanzsystem sicherer
und stabiler zu machen? Alles dreht sich um noch mehr „Finanzialisierung“ des
Systems. Um nur ein Beispiel zu nennen, einen Vorschlag des bisherigen
Kommissars für Finanzregulierung: Er meinte, um das Wachstum in der
Europäischen Union wiederherzustellen, müsse man die Verbriefungen wieder
ankurbeln. Und so liegt nun ein Vorschlag auf dem Tisch der EU und des
Europaparlaments, der angeblich ein Rahmen für eine einfache, transparente und
standardisierte Verbriefung sein soll. Aber das ist Unsinn. Denn wenn man sich
den Vorschlag anschaut, dann ist daran nichts einfach, nichts transparent und
nichts standardisiert! Bei der synthetischen Verbriefung, bei Derivaten oder
CDOs [besicherten Schuldverschreibungen] gibt es keine einfache Verbriefung.
Und Verbriefungen sind auch nicht der Weg, um neue Finanzmittel für die
Realwirtschaft zu beschaffen.
Bankentrennung
Damit komme ich zu unseren Vorschlägen im Europaparlament und auch im
italienischen Parlament, das Wachstum anzuregen und die Stabilität des
Finanzsystems wiederherzustellen.
Ein erster Schritt im Rahmen einer Reform der Bankstatuten ist
offensichtlich die Rückkehr zur Bankentrennung. Ich denke, wir müssen eine Art
modernes Glass-Steagall-Gesetz für Europa einführen, das die Regulierung des
Bankensystems vereinfacht und eine Trennung zwischen dem Kernbereich einer
Bank und einer spekulativen Bank herstellt. So schaffen wir ein Bankensystem,
das nicht mehr der Spekulation im Finanzsystem dient, sondern den Bedürfnissen
der Realwirtschaft und der Bevölkerung. Und das ist der erste Schritt.
(Applaus)
Der zweite Schritt ist ein Vorschlag in Bezug auf eine der
problematischsten Banken in der EU, die Monte dei Paschi di Siena.
Wahrscheinlich wissen Sie alle um die Situation dieser drittgrößten
italienischen Bank und ältesten Bank Europas – Monte dei Paschi di Siena
wurde im 15. Jahrhundert gegründet und war über die Jahrhunderte im Dienst der
Realwirtschaft tätig. Jetzt bietet sich der italienischen Regierung die
Gelegenheit, diese Bank, die wirklich in Schwierigkeiten ist, zu übernehmen
und so ein deutliches Zeichen zu setzen, wie ein Bankensystem aussehen könnte,
das sich an der Realwirtschaft orientiert.
Wir schlagen deshalb vor, Monte dei Paschi di Siena zu verstaatlichen. Das
italienische Schatzamt ist mit einem Aktienanteil von 4% schon Hauptaktionär
dieser Bank und sollte für die Monte dei Paschi di Siena klare Vorgaben
machen, damit sich die Bank wieder eindeutig an den Bedürfnissen der
Realwirtschaft orientiert. Wir werden nicht zulassen, daß Monte dei Paschi
weiter Wertpapierhandel und Derivatehandel betreibt, sondern der Auftrag der
Bank wird einfach sein, im Dienste der Öffentlichkeit Kredite zu vergeben, um
die Realwirtschaft zu fördern.
Ich meine, dieser Vorschlag könnte eine Richtgröße für das gesamte
europäische Bankensystem sein. Das Europaparlament muß hier mehr tun, und ich
hoffe, nach dem Ausscheiden von Herrn Hill läßt sich wieder über die Form der
Bankstatuten und ein europäisches Glass-Steagall reden, was dieser Lobbyist
nach seiner Wahl zum Kommissar blockiert hatte.
Und dann können wir mit einem Projekt für Europa weitermachen, das diesen
Mangel in der Europäischen Union überwindet und Europa wieder in den
Mittelpunkt der Weltbühne rückt, als Verbindung zwischen den Vereinigten
Staaten und Asien. Das ist meines Erachtens ein guter Weg für Europa, um
Wachstum zu schaffen, Demokratie wiederherzustellen und die Rolle einzunehmen,
die Europas Bürger und Völker auf der Weltbühne haben sollten.
Vielen Dank.
|