Kraft zur Liebe
Ein besonderer Tribut zur Ehrung von Dr. Martin Luther King
Von Dennis Speed
„Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und die schöpferischen Kräfte, durch die wir
gültige revolutionäre Prinzipien des Universums entdecken können, bilden ein
nahtloses Ganzes, in dem klassische Kultur, Moral und Naturwissenschaften
durch eine gemeinsame Leidenschaft für universelle Gerechtigkeit und Wahrheit
vereint sind. Wo sind die Männer und Frauen, die fähig sind, anstelle der
,gängigen Meinungen’ der Herrschaft der Prinzipien von Wahrheit und
Gerechtigkeit den Weg zu bahnen?“
– Lyndon LaRouche, „Das Wesen des Moralischen“, 1998
„Kraft zur Liebe: Konzert für Einigkeit – ein besonderer Tribut zur Ehrung
von Martin Luther Kings Zukunftsvision“ – so lautete der Titel des Konzertes
zum Martin-Luther-King-Gedenktag am 15. Januar als Höhepunkt eines zweitägigen
Kongresses, den das Schiller-Institut und die Stiftung zur Wiederbelebung der
Klassischen Kultur (Foundation for the Revival of Classical Culture) im New
Yorker Stadtteil Brooklyn veranstalteten. Italienische Opernarien von Giuseppe
Verdi, deutsche Lieder von Franz Schubert und Johann Sebastian Bach sowie
afroamerikanische Spirituals in Fassungen für Chor und Solostimme bildeten
zusammen das Repertoire des Konzerts.
Den 350 Zuhörern wurde zudem die Kantate The Life of Christ (Das
Leben Christi) präsentiert, die der berühmte Tenor Roland Hayes 1948
komponierte. Sie umfaßt zehn Stücke, denen der Aufführende weitere Lieder nach
Wahl hinzufügen kann.
Zu dem besonderen Anlaß wählte das dreistimmige Ensemble aus den Tenören
Everett Suttle und Reginald Bouknight und dem Bariton Frank Mathis vier Stücke
aus, die zusätzlich zu den zehn Kernstücken aufgeführt wurden. Eine vierte
Stimme, die von Roland Hayes selbst als Erzähler, übernahm die
Mezzosopranistin Elvira Green. Das Quartett wurde am Klavier begleitet von dem
Sänger, Dirigenten und künstlerischen Leiter des Harlem Opera Theatre, Gregory
Hopkins.
Green und Hopkins arbeiteten jahrzehntelang mit der bekannten
Gesangspädagogin Sylvia Olden Lee zusammen, der ersten Afro-Amerikanerin, die
von der New Yorker Metropolitan-Oper angestellt wurde. Lee war fast zehn Jahre
lang bis zu ihrem Tod 2004 Mitglied im Beirat des Schiller-Instituts.
Eine solche Aufführung von „Das Leben Christi“ gab es bisher nur sehr
selten, vielleicht noch nie. Die Darstellung legte besonderen Wert auf den
dramatischen Inhalt von Hayes’ Erzählung der Lebensgeschichte Jesu und auf den
schlichten, ehrfürchtigen Charakter seiner Kompositionsweise. Hayes wollte
ganz bewußt die Stimmung und auch annähernd die Form der Wochenkantaten
heraufbeschwören, die Johann Sebastian Bach immer wieder neu für seine
Leipziger Kirche komponierte. Die ineinander verschlungene Kombination der
Stimmen des Quintetts hatte die Wirkung, daß das Publikum nicht bloß dem
Spannungsbogen der einzelnen Lieder, sondern dem der gesamten Komposition
folgte.
Monsignore Kieran Harrington von der Sankt-Josefs-Kathedrale, die das
gesamte Konzert live im Internet übertrug, leitete die Aufführung mit einer
kurzen Begrüßung und Andacht ein. Er betonte darin, solche Veranstaltungen
unter dem Motto „Einigkeit“ könnten viel dazu beitragen, daß die Vision der
Vereinigten Staaten internationaler wird und Amerika mehr Rücksicht auf die
Kriegs- und Krisensituationen in aller Welt nimmt. Er nannte namentlich
Syrien, Nigeria und Venezuela, wo für die Menschen Krieg, Terrorismus und
wirtschaftliche Not Alltag sind.
„Einigkeit“ meint hier aber nicht das kindische „Warum können wir uns nicht
einfach alle vertragen?“, sondern das Prinzip der Einigkeit der amerikanischen
Republik, von dem der Gründervater Alexander Hamilton und sein engster Freund
Gouverneur Morris in der von Morris verfaßten Präambel der amerikanischen
Verfassung sprechen.
Monsignore Harrington bat dann die Ehrengarde der New Yorker Polizei mit
dem Baßbariton William Bove, das Lied God Bless America anzustimmen.
Wie Dennis Speed als Sprecher des Schiller-Instituts dem Publikum anschließend
erläuterte, war dies eine spezielle Ehrung der 64 Mitglieder des weltberühmten
russischen Alexandrow-Ensembles, die am Weihnachtstag 2016 bei einem
Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Das Alexandrow-Ensemble seinerseits hatte
dasselbe Stück am 10. Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001 zu Ehren
der Vereinigten Staaten und der New Yorker Polizei aufgeführt. Die Ehrengarde
der New Yorker Polizei unter der Leitung von Lieutenant Tony Giorgio hatte
bereits an einer Gedenkfeier für das Alexandrow-Ensemble mitgewirkt, die das
Schiller-Institut am 7. Januar am Fuß des „Tränen-Denkmals“ in Bayonne/New
Jersey gegenüber Manhattan veranstaltet hatte.
In gewissem Sinne hatten alle Beiträge des Konzerts die Form eines Gebets.
Vielen im Publikum war bewußt, daß 2017 der 50. Jahrestag der berühmten Rede
von Dr. Martin Luther King gegen den Vietnamkrieg ist, die er am 4. April 1967
in der New Yorker Riverside Church hielt. Diese Rede war außerordentlich
mutig. Die Massenmedien, unter anderem die New York Times, griffen King
an, seine Spendeneinnahmen versiegten und sein Ansehen sank auf einen
Tiefpunkt. King hatte wegen der radikalen Slogans der Black-Power-Bewegung
schon an Einfluß verloren, und aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung wurde
ihm vorgeworfen, mit seiner kontroversen Haltung zum Vietnamkrieg und seinem
gleichzeitigen Einsatz für die streikenden Müllmänner in Memphis/Tennessee
übernehme er sich. Als er am 3. April 1968 seine letzte Rede hielt, war er
nicht mehr der beliebte Friedensnobelpreisträger vom Dezember 1964. „Er ward
verachtet und verschmäht“ (Zitat aus Händels Messias) von seinen
früheren Unterstützern im liberalen Establishment.
Die von den Sopranistinnen Indira Mahajan und Gudrun Bühler vorgetragenen
beiden deutschen Lieder - Schuberts Ave Maria und Bachs Bist du bei
mir - hatte man nicht ausgewählt, weil sie relativ bekannt sind, sondern
weil beides Gebete sind, die sich mit dem Tod beschäftigen. „Bist du bei mir /
geh ich mit Freuden / zum Sterben / und zu meiner Ruh“, heißt es in Bachs
Stück. Indira Mahajans Aufführung des bekannten katholischen Gebets Ave
Maria, das heute in den Kirchen nur noch selten in lateinischer Sprache zu
hören ist, wurde von den Zuhörern besonders aufmerksam verfolgt und
wertgeschätzt.
Die darauf folgenden Stücke aus Verdis Opern Don Carlos (nach dem
Schauspiel von Schiller) und Othello (nach dem Drama von Shakespeare)
waren ebenfalls Gebete: Das erste, Dio, che nell’alma infondere, ist
gleichzeitig Gebet und Freiheitslied, ein Duett, in dem die beiden Figuren -
gesungen von Frank Mathis und Everett Suttle - sich gegenseitig in ihrer
Hingabe für die Sache der Freiheit bestärken. Das zweite, Desdemonas Lied
an die Weide, eine der berühmtesten Arien der Oper, sang Gudrun Bühler so
eindrucksvoll, daß das Publikum hinterher lange gebannt schwieg. Desdemonas
Agonie, als sie ihren Tod durch ihren geliebten Othello erwartet - ein
Schicksal, das sie weder verdient noch verursacht hat, aber nicht ändern kann
-, ändert nichts an ihrer Liebe zu ihm.
Gethsemane in Memphis
Ähnlich wie bei Abraham Lincoln mit seiner Ansprache von Gettysburg und
seiner Rede zur zweiten Amtseinführung gibt es auch zwei große Reden Martin
Luther Kings, die sein öffentliches Leben und Wirken in Amerika entscheidend
prägten. Seine Rede beim Marsch auf Washington zum Thema „Ich habe einen
Traum“ (I have a dream) hielt er vor mehr als 250.000 Menschen, und sie
wurde live im Fernsehen übertragen. Seine letzte Rede in Memphis, „Ich war auf
dem Gipfel des Berges“ (I have been to the mountaintop), hielt er
praktisch aus dem Stegreif, an einem regnerischen, stürmischen Abend, vor rund
600 Menschen in einer nur zu zwei Dritteln gefüllten Kirche, und viel weniger
Menschen haben sie in ganzer Länge gesehen oder gehört. Ihr Schluß ist jedoch
sehr bekannt:
„Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert.
Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er
hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich
habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch.
Aber ihr sollt heute abend wissen, daß wir, als ein Volk, in das Gelobte Land
gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute abend. Ich mache mir
keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die
Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“1
Aber schon der Anfang der Rede macht deutlich, daß King Christus nacheifert
und sich selbst auf die Bühne der Universalgeschichte stellt. Dies ist nicht
bloß eine Entscheidung seines persönlichen Willens, sondern eines
ontologischen Willens:
„Ich freue mich über jeden von euch, der heute abend hier ist, trotz einer
Sturmwarnung. Ihr zeigt, daß ihr in jedem Fall weitermachen wollt. Es
geschieht etwas in Memphis, es geschieht etwas in unserer Welt. Wißt ihr, wenn
ich am Anfang der Zeit stünde und die Möglichkeit hätte, so etwas wie einen
allgemeinen Überblick über die ganze Menschheitsgeschichte bis zum heutigen
Tag zu gewinnen, und wenn Gott, der Allmächtige, zu mir sagen würde: ‚Martin
Luther King, in welchem Zeitalter würdest du gern leben?’, dann würde ich
meinen geistigen Flug in Ägypten beginnen. Und ich würde Gottes Kinder
beobachten bei ihrem wunderbaren Treck aus den dunklen Kerkern Ägyptens durch
das Rote Meer, durch die Wüste zum Gelobten Land.
Trotz dieses großartigen Anblicks würde ich dort nicht stehenbleiben. Ich
würde mich weiterbewegen und meinen Geist zum Olymp erheben. Und ich würde
Platon, Aristoteles, Sokrates, Euripides und Aristophanes um den Parthenon
versammelt sehen bei ihren Diskussionen über die großen und ewigen
Menschheitsfragen. Aber ich würde dort nicht stehenbleiben. Ich würde mich
weiterbewegen, zur Blütezeit des Römischen Reiches... Aber ich würde dort
nicht stehenbleiben. Ich würde sogar vordringen in das Zeitalter der
Renaissance und einen kurzen Eindruck von den kulturellen und ästhetischen
Leistungen der Renaissance erhalten. Aber ich würde dort nicht
stehenbleiben... So seltsam es anmuten mag: Ich würde mich an den Allmächtigen
wenden und sagen: ,Wenn Du mir erlaubst, nur ein paar Jahre in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leben, dann bin ich glücklich.’
Freilich, das ist eine seltsame Erklärung...“
Kings Rede war nicht, wie die meisten glauben, der letzte Ausbruch wilder
rhetorischer Ekstase eines Predigers, sondern ein bewußtes und optimistisches
Annehmen des Kelches von Gethsemane, 43 Minuten lang. Sie ist ein
beispielhafter Akt des Mutes, vergleichbar der historischen Jeanne d’Arc,
deren Handeln direkt in die Gründung der französischen Nation mündete.
Der Mord, der keine 24 Stunden später an King verübt wurde – von mehreren
Tätern, nicht vom angeblichen Einzeltäter James Earl Ray, der später vehement
bestritt, Kings Henker gewesen zu sein, und ein Buch mit dem Titel Wer
tötete Martin Luther King mitverfaßte – kam für ihn nicht unerwartet,
sicher auch nicht herbeigewünscht, doch er fürchtete ihn nicht. King schöpfte
seine Kraft aus der inneren Musik seiner Mission, für die Sache der Freiheit
zu handeln. Nicht nur King kannte diese Kraft; sie war die Quelle der
Intention, die den afro-amerikanischen Spirituals innewohnt, wie er wohl
wußte. Kings Fähigkeit, diese Kraft in seinen Hörern – nicht nur
Afro-Amerikanern – zu wecken, erwuchs aus seiner Fähigkeit, wie sie auch
Roland Hayes besaß, den göttlichen Funken zu hören: nicht Resignation, sondern
die optimistische Überwindung der Sklavenmentalität.
Hayes’ Komposition Das Leben Christi wurde ausgewählt, um dem
Publikum diese Neueinschätzung der letzten Stunden Martin Luther Kings zu
vermitteln. Hayes’ einzigartige Erfahrungen mit den klassischen Wurzeln des
afro-amerikanischen Spirituals – klassisch in dem Sinne, wie das
Schiller-Institut und die Stiftung für die Wiederbelebung der Klassischen
Kultur diesen Begriff verwenden – macht dies zum besten Rahmen, um Martin
Luther Kings „Nachfolge Christi“ in den letzten Stunden seines Lebens
psychologisch wahr darzustellen.
Als all jene, die bewußt und in voller Absicht daran mitwirkten, die
Sklaverei als Institution zu erhalten, mit ihren gesamten gesellschaftlichen
Institutionen – außer den Sklaven – zu Bestien wurden, machte die Erfindung
des afro-amerikanischen Spirituals es möglich, daß Amerika dennoch seine
Menschlichkeit bewahrte. Die Aufführung von drei Spirituals zu Beginn des
Programms mit dem Öffentlichen Chor des Schiller-Instituts in New York, unter
der Leitung der Gründerin und Mitleiterin der Gruppe Diane Sare, vermittelte
diese Idee, vor allem das Spiritual Soon Ah Will Be Done With the Troubles
of the World. Der Chor, der das Konzert eröffnete, nahm anschließend Platz
im Publikum.
Das Schiller-Institut beabsichtigt, sein „singendes Publikum“ in den
kommenden Monaten auf 1500 Teilnehmer auszuweiten, um den Paradigmenwandel
herbeizuführen, der mit der neuen wirtschaftlichen Plattform, die jetzt
erreicht werden muß, einhergehen muß.
Es ist für die Vereinigten Staaten lebenswichtig, daß tragende Elemente der
amerikanischen klassischen Kultur wie das afro-amerikanische Spiritual, wie es
von Roland Hayes, Sylvia Lee, Hall Johnson, Harry Burleigh und Antonin Dvorak
entwickelt, erhalten und aufgeführt wurde, es den Bürgern heute wieder möglich
machen, „auf dem Berg zu stehen“, auf dem auch Moses und Martin Luther King
standen.
Anmerkung
1. Zitiert nach: King, Martin Luther: Testament der Hoffnung: letzte
Reden, Aufsätze u. Predigten von Martin Luther King. Eingel. u. übers. von
Heinrich W. Grosse. - Orig.-Ausg., 4. Aufl., (25.-32. Tsd.). - Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1981.
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