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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Chinas staatliche Wirtschaftsplanung – ein Vorbild für Frankreich heute?

Von Karel Vereycken

Bei der Vorstellung der Studie „Neue Seidenstraße, Weltlandbrücke – für ein Ende der Geopolitik“ am 6. November in Paris hielt Karel Vereycken, Wirtschaftsberater des französischen Schiller-Instituts, den folgenden Vortrag.

Mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 10% des BIP in den letzten vier Jahrzehnten, 714 Millionen Menschen, die aus äußerster Armut gehoben wurden, dem größten Netz von Hochgeschwindigkeitsbahnen weltweit etc. ist der Erfolg Chinas und seiner Wirtschaftspolitik eine erwiesene Tatsache und ein historischer Präzedenzfall. Und Chinas Potential wächst weiter. 2016 baute China im Schnitt jede Woche eine neue Hochschule! Die Zahl der Absolventen übertrifft die Europas und Amerikas. Obwohl China „nur“ 15% des BIP der Welt ausmacht, liefern seine Wissenschaftler schon mehr als ein Drittel aller wissenschaftlichen Artikel in Fachpublikationen.

Quelle: Weltbank, Karel Vereycken

Abb. 1: Vergleich des Wirtschaftswachstums von China, Indien, Frankreich, Brasilien, Rußland, der Türkei und Südafrika.

Vergleicht man Chinas außergewöhnliches Wirtschaftswachstum einmal nicht mit den Vereinigten Staaten, sondern mit anderen Schwellenländern wie Brasilien, Südafrika, Rußland oder der Türkei, so sieht man, wie außergewöhnlich es ist (Abbildung 1).

Was wir mit unserer Studie über die Weltlandbrücke beantworten wollen, ist nicht zuletzt die Frage: Wie kam es dazu? Was ist Chinas Methode, sein „Geheimnis“?

Westliche Ökonomen haben große Schwierigkeiten, dies zu beantworten, ihre Erklärungsversuche offenbaren wenig über China und dafür um so mehr über ihre eigene, ideologisch gefärbte Brille. Sie behaupten, China hätte:

  • mit seinen billigen Arbeitskräften ausländische Investitionen angezogen,

  • seinen öffentlichen Sektor privatisiert,

  • den Kollektivismus aufgegeben und wieder privaten Besitz eingeführt,

  • sich dem Außenhandel geöffnet, seit es Mitglied der Welthandelsorganisation WTO wurde.

Kurz, sie wollen uns weismachen, China sei nach der Katastrophe der maoistischen Periode wieder auf die Beine gekommen, indem es die westlichen neoliberalen Wirtschaftsmethoden übernahm, wie sie im „Washingtoner Konsens“ und in den Kriterien der monetaristischen EU-Verträge kodifiziert wurden! Nach der Einführung der „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie Deng Xiaoping sie entwickelte, hätte China die staatliche Planung aufgegeben und überlasse seine Wirtschaft nun der „unsichtbaren Hand“.

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Es stimmt, daß in Chinas Volkswirtschaft der Markt eine große Rolle spielt, aber dieser Markt muß den Zielen und der Richtung folgen, die eine souveräne Regierung vorgibt.

Und man sollte nicht vergessen, daß die „Vier Modernisierungen“ - in Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik, Verteidigung – für die schon 1963 geworben wurde, bevor Deng Xiaoping sie 1979 zur geltenden Politik erhob, hinsichtlich der Ziele wie auch der Methoden schon die Grundlagen des Chinesischen Traums formulieren, von dem Xi Jinping heute spricht.

Mit diesem Traum will China nach einem Jahrhundert der Erniedrigungen – von den Opiumkriegen bis zum Verrat des Westens im Versailler Vertrag – lediglich seine ihm zustehende Stellung zurückgewinnen: es will bis 2030 eine Macht mit „moderatem Wohlstand“ werden und dann bis 2049, zur Hundertjahrfeier der Gründung der Volksrepublik, eine „große, wohlhabende und schöne Wirtschaftsmacht“ werden, möglicherweise die größte der Welt. Das war schließlich Chinas Stellung, bevor die Opiumkriege begannen.

Rasante Veränderungen seit 1978

Betrachten wir nun, 40 Jahre nach dem Beginn der Politik der Öffnung gegenüber dem Westen und Deng Xiaopings Reformen, ein Schlüsselelement dieser Politik. 1978 war die Lage von Chinas Landwirtschaft prekär. Dengs ehrgeiziger Plan, im Schnellverfahren die Produktion anzukurbeln, bedeutete zunächst einmal, 978 Millionen Chinesen zu ernähren und landwirtschaftliche Überschüsse zu erzeugen, um Arbeitskräfte für die Industrialisierung freizusetzen. Um einer durch Armut und Nöte bedrückten Bevölkerung neuen Elan zu verleihen, startete er nach einigen Experimenten in diesem Bereich das „System der Haushalts-Verantwortung“. Im Rahmen dieses Systems wurde den Bauern erlaubt, ein Stück Land zu pachten – anfangs für fünf Jahre, später für 10, 15 und sogar 30 Jahre. Das war der erste Schritt zu einer elementaren Form von etwas, was „so gut wie“ privates Eigentum war.

Man sollte sich daran erinnern, daß bis dahin im Rahmen des traditionellen maoistischen Kollektivsystems der Staat für jeden Bauern eine Produktionsquote festlegte und er für seine Arbeit bezahlt wurde, wenn er diese Quote erfüllte, doch jede Produktion über die Quote hinaus wurde mehr oder weniger vernachlässigt. Deshalb wurde durch das System der Haushalts-Verantwortung ein „zweigleisiges“ System geschaffen. Die Quote für die Bauern wurde gesenkt, war also leichter zu erfüllen, und der Staat kaufte weiterhin ihre Erzeugnisse („erstes Gleis“). Doch zweitens konnten sie mit allem, was sie über die Quote hinaus erzeugten, tun, was sie wollten – sie konnten es auf dem freien Markt verkaufen, wo die Preise etwa 50-75% höher lagen („zweites Gleis“). Auf diese Weise bietet das erste Gleis den Bauern eine Art soziales Sicherheitsnetz (wie es vorher mit der „eisernen Reisschale“ existiert hatte), während sie gleichzeitig durch das zweite Gleis dazu ermutigt werden, Risiken auf sich zu nehmen. Wie Deng scherzhaft sagte: „Einige Leute müssen reich werden!“

Als positiver Nebeneffekt dieser Politik begann eine Diversifizierung der Landwirtschaft, von Getreide (Reis und Weizen) hin zu mehr Obst, Blumen, Gemüse, Geflügel und Schweinen. Diese Änderung verdoppelte das Einkommen der Bauern und bot den Verbrauchern eine viel größere Auswahl an Lebensmitteln. Das System war ein unmittelbarer Erfolg, und es steigerte die Produktion der chinesischen Landwirtschaft um ein Drittel. Ab 1981 wurde das „zweigleisige System“ zum Vorbild für alle Reformen, so bei Unternehmen von Kommunen und Dörfern, in den Sonderwirtschaftszonen und in den Staatsbetrieben.

Wir sehen hier im kleinen ein gutes Beispiel für Dengs „sozialistische Marktwirtschaft“, eine Politik, die dem Sozialismus chinesischer Prägung einen wohlregulierten Markt hinzufügte, der sich im Laufe der Zeit und mit seinem eigenem Rhythmus entwickelte. Dieser schrittweise und pragmatische Ansatz ist das genaue Gegenteil der „Schocktherapie“, die 1991 Rußland aufgezwungen wurde, wo alles im Eiltempo privatisiert wurde und der Westen einen demographischen Kollaps auslöste und das ganze Land ruinierte. Im Gegensatz dazu haben wir es in China mit einer pragmatischen Politik des Übergangs durch praktische Versuche zu tun, wo die zentrale Planung als lenkender Rahmen dient, der immer weniger Befehlscharakter hat und nur noch „indikativ“ die Richtung vorgibt.

Infolgedessen besteht die chinesische Volkswirtschaft heute zu 60% aus einem privaten Sektor, der etwa 70% der Steuereinnahmen des Staats erwirtschaftet und 80% der Arbeitsplätze des Landes stellt. Aber dieser private Sektor arbeitet im Rahmen der Zielvorgaben einer langfristigen Vision, die von der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) ausgearbeitet wird. Diese erfüllt die Rolle eines Wirtschaftsministeriums, auch wenn es in China formell keinen Wirtschaftsminister gibt.

Dieses riesige Ministerium entstand durch die Zusammenlegung zweier Kommissionen, von denen die eine für die Planung und die andere für die nationale Wirtschaft zuständig war. Die NDRC unter persönlicher Aufsicht des Ministerpräsidenten gilt als das „Ministerium der Ministerien“, sie koordiniert täglich sämtliche Aktivitäten der Ministerien, die die Volkswirtschaft betreffen.

Aber das ist noch nicht alles. Man vergißt leicht, daß schon bei Dengs Reformen großer Wert auf den Ausbau der Infrastruktur und auf wissenschaftlichen Fortschritt gelegt wurde. Die chinesischen Planer waren sich vollkommen im Klaren darüber, daß die Menschheit der Falle unvermeidlicher Ressourcenknappheit bei einem Stillstand des technischen Fortschritts nur entgehen konnte, indem man schnell auf effizientere Technik umsteigt, die weniger Energie und Material erfordert. Daß China z.B. vom Papiergeld direkt zur digitalen Zahlung mit dem Smartphone überwechselte und daher keine Verwendung für die Plastik-Kreditkarten von American Express oder Visa hat, bereitet so manchen an der Wall Street Alpträume.

Innovation ist die Lösung

Joshua Cooper Ramo, Exekutivdirektor von Kissinger Associates und Verfasser des Buches über den „Konsens von Peking“ (The Beijing Consensus) - kein Chinafreund – meint dazu: „Chinas Aufstieg zeichnet die Weltordnung neu, indem es eine neue Physik der Entwicklung und der Macht einführt“. Der Autor muß anerkennen, daß das konfuzianische Erbe eine der Inspirationsquellen der heutigen chinesischen Politik ist, die eine starke Autorität des Staates mit elementaren Eigentumsrechten und der Forderung nach Selbstvervollkommnung verbindet. Besorgt schreibt Ramo: „Der Konsens von Beijing ist ebenso eine Frage des wirtschaftlichen wie des gesellschaftlichen Wandels. Er nutzt Wirtschaft und Regierungsführung, um die Gesellschaft zu verbessern, eines der ursprünglichen Ziele der Entwicklungsökonomie, das seit den 1990er Jahren und dem Aufkommen des Washingtoner Konsenses in gewisser Weise verlorengegangen war.“

Bezüglich der Innovation bemerkt Ramo – als Beispiel nennt er die Glasfasern –, die Stoßkraft des chinesischen Entwicklungsmodells beruhe auf der Fähigkeit, veraltete Produktionssysteme nicht um jeden Preis zu erhalten, sondern ständig neue zu entwickeln. Jede Reform sei unvermeidlich mit Veränderungen verbunden, und die Stärke des chinesischen Modells bestehe darin, „Veränderung zu schaffen, die schneller ist als die Probleme, die diese Veränderung selbst hervorruft“, denn „die einzige Abhilfe gegen Veränderung ist noch mehr Veränderung und noch mehr Innovation. Die Rettung liegt in der Intensität der Innovation.“

Die chinesische Planung erinnert an unsere eigenen besten Leistungen im Westen, nämlich den New Deal in den Vereinigten Staaten und das französische Generalkommissariat für Planung unter de Gaulle und Jean Monnet in der Nachkriegszeit.

Frankreich 1946 und „China 2025“

Nicht zufällig soll gerade diese staatliche Planung als Begründung für einen westlichen Handelskrieg gegen China dienen. Das wird u.a. sehr deutlich in einem Artikel über das Programm „Made in China 2025“, der am 2. August auf der Internetseite des Council on Foreign Relations (CFR) erschien, einer sehr einflußreichen, britisch denkenden, anglo-amerikanischen Denkfabrik.

Im Versuch, zu erklären, wie China angeblich die Weltherrschaft anstrebt, heißt es dort: „Das Programm China 2025 beschleunigt die existierenden Bemühungen, indem es noch mehr Ressourcen einsetzt und die zentralisierte Strategieplanung intensiviert, um Staat, Privatunternehmen und akademische Welt miteinander zu koordinieren. Der Plan umfaßt die öffentlich erklärte Politik sowie undurchsichtigere Maßnahmen, die nach Einschätzung einiger Analysten China vor dem Vorwurf schützen sollen, seine Verpflichtungen gegenüber der Welthandelsorganisation (WTO) zu verletzen, um Vergeltungsmaßnahmen zu vermeiden.“

Dann wird auf der Grundlage eines Berichtes, der kürzlich von den EU-Handelskammern in China vorgelegt wurde, eine groteske Auflistung präsentiert, was der CFR als Verstöße gegen die Regeln des „freien und unbehinderten Wettbewerbs“ betrachtet:

  • China setzt sich Ziele, die erreicht werden sollen. Welch ein Verbrechen! China „ermutigt private und staatliche Unternehmen, ihre Strategien an die Prioritäten des Plans anzupassen“.

  • Wer sich an den Plan hält, erhält Steuernachlässe!

  • Noch schlimmer, chinesische Unternehmen sind aufgefordert, sich die notwendigen Technologien zu beschaffen, um ihr Ziel zu erreichen. Unglaublich!

  • Und schließlich, Schrecken über Schrecken: China verlangt von ausländischen Unternehmen, die auf seinem Territorium tätig sind und von seine Arbeitskräften profitieren, Technologietransfer! Wo soll das hinführen?

Jeder, der bei Verstand ist und sich mit Frankreichs „Modernisierungs- und Ausrüstungsplan“ befaßt, der 1946 beschlossen wurde und sicherlich eine der Inspirationen für Deng gewesen ist, wird starke Ähnlichkeiten zu dem erkennen, was in Frankreich im Wiederaufbau nach dem Krieg getan wurde.

Der französische Plan setzte beispielsweise vier Ziele:

    „1. die nationale Produktion und den Außenhandel entwickeln, insbesondere in den Bereichen, in denen Frankreich eine gute Position hat;

    2. die Effizienz der Arbeitskräfte steigern;

    3. Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte garantieren;

    4. den Lebensstandard der Bevölkerung anheben und die Bedingungen des Wohnens und des gesellschaftlichen Lebens verbessern.“

Der Zweck des Planes war es, „Frankreich zu erlauben, durch die Nutzung seines Reichtums und seiner Menschen und seiner nationalen Ressourcen ein ,modernes’ Land mit einem hohen Lebensstandard zu werden, das an den Angelegenheiten der Welt beteiligt ist, und gleichzeitig durch die Entwicklung seiner Produktionsbasis und Senkung der Produktionskosten seine Unabhängigkeit zu sichern“.

Man erkennt, daß die Vorwürfe gegen China sich gegen eine Politik richten, die sowohl in China als auch in Frankreich erfolgreich funktioniert hat, denn es ist ebendiesem Ansatz der sog. „indikativen Planung“ zu verdanken, daß Frankreich, die Vereinigten Staaten und Europa sich aus der Depression herausarbeiten konnten.

Einen Handelskrieg gegen China zu erklären, ist so, als würde man einem naturwissenschaftlichen Prinzip den Krieg erklären, das seine Wirksamkeit demonstriert hat, aus dem einfachen Grunde, daß es mit den Gesetzen des Universums und der menschlichen Vernunft übereinstimmt.

Nur wenn wir uns das vor Augen halten, können wir in Frankreich wie auch im Ausland zusammenarbeiten und uns gegenseitig dabei helfen, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, die Straßen, Häfen und Ausrüstungen, die die Welt so dringend braucht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.