Aktuelle Lage und Herausforderungen für den Frieden im Jemen
Von Abdullatif Elwashali und Dr. Aiman Al-Mansor
Zwei Vertreter der Organisation INSAN für Menschenrechte und
Frieden berichteten am 30. Juni bei der Konferenz des Schiller-Instituts über
die Lage im Jemen.
Abdullatif Elwashali: Mein Name ist Abdullatif Elwashali, und
ich werde mit meinem Kollegen Dr. Aiman Al-Mansor von der Organisation INSAN
für Menschenrechte und Frieden einen schnellen Überblick über die aktuelle
humanitäre Lage im Jemen und die Herausforderungen des Friedens im Jemen
geben.
Der Jemen ist ein uraltes Land, das 5000 Jahre Geschichte hat, ein Land,
das in der Geschichte den Namen „Felix Arabia“ hatte. Im Jemen leben fast 28
Millionen Menschen, und 19% davon gehören zu der Bevölkerungsgruppe, die unter
15 Jahre alt sind. Die Arbeitslosigkeit aktuell ist ungefähr 64%, vor dem
Krieg war die Arbeitslosigkeit 37%.
Der Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, ist aktuell 85%, vor dem
Krieg waren es 54%.
Das ist die Lage der Bevölkerung. Es stimmt vielleicht nicht 100% überein
mit der aktuellen Situation im Land, aber dies sind Zahlen, die ungefähr
reflektieren, wie das Land im Moment dasteht.
Das Land Jemen liegt an der Südwestseite der Arabischen Halbinsel, und es
steht heute vor dem „Dreieck des Schreckens“: Krieg, Hunger und Epidemien.
Für den Krieg wurde eine Kriegskoalition gebildet, sie besteht aus 17
Staaten, diese Koalition wird von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen
Emiraten angeführt.
Welche Gründe hat dieser Krieg? Der vorgeschobene Grund für den Krieg ist
die Rückkehr des von Saudi-Arabien abhängigen Präsidenten Hadi und seiner
Regierung nach Sanaa, um ihn wieder an die Macht zu bringen.
Welche Folgen hat dieser Krieg für uns? Aktuell, nach drei Jahren Krieg,
ist das Land komplett zerstört, über 36.000 Zivilisten sind über drei Jahre
Opfer dieses Krieges, 14.000 davon sind tot. Die Infrastruktur ist zum großen
Teil zerstört, es besteht bis heute eine Luft- und Seeblockade, es wird ein
Wirtschaftskrieg geführt, und das Versagen des Finanzsystems zeigt sich an der
Zahlungsunfähigkeit der Zentralbank in Sanaa. Die Gehälter können für viele,
viele Menschen nicht gezahlt werden.
Nicht nur das Einkommen der Menschen ist eingeschränkt, sondern auch das
Gesundheitssystem ist zum großen Teil funktionsunfähig. Laut UN sind 55% der
Gesundheitseinrichtungen teilweise oder komplett zerstört. 22 Millionen
Menschen sind von Epidemien und Hunger bedroht.
Das (Abb.1-4) sind Bilder vom Krieg, wir möchten mit diesen Bildern
niemand erschrecken, aber es sind schreckliche Bilder, die zeigen, wie massiv
der Krieg die Zivilbevölkerung trifft.
Abb. 1: Eine zerstörte Schule im Jemen.
Abb. 2: Ein zerstörter Markt in Saada.
Abb. 3: Eine zerstörte Krankenstation der Ärzte ohne Grenzen.
Abb. 4: Der Hafen von Al-Hodaidah.
Auf dem ersten Bild sehen Sie einige Kinder, die in einer zerstörten Schule
stehen. Wenn man die Statistiken betrachtet, wie viele Schulen und Institute
wurden zerstört? Das waren über drei Jahre schon jede Menge an
Bildungsinstituten, die aktuelle Zahl ist 869 Schulen und Institute, die durch
diesen Krieg zum Teil oder komplett zerstört wurden (Abbildung 1).
Auf dem nächsten Bild ist ein Markt in Saada, der letztes Jahr zerstört
wurde, um ein Uhr nachts (Abbildung 2). Was hat dieser Markt mit dem
Krieg zu tun? Das ist ein großes Fragezeichen.
Das untere Bild links (Abbildung 3) ist eine Krankenstation, sie
wurde von Ärzte ohne Grenzen genutzt, um den Menschen dort zu helfen. Sie
wurde am 16. August 2016 durch einen Luftangriff zerstört, viele Menschen
kamen ums Leben oder wurden verletzt, darunter auch das Team der Ärzte ohne
Grenzen.
Zur Zerstörung der Infrastruktur könnte man vieles sagen, aber eine der
größten und ganz aktuell ist der Hafen Al-Hodaidah (Abbildung 4), er
wurde mehrfach durch Luftangriffe angegriffen, ebenso wie Brücken,
Zivileinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, Flughäfen, auch diese wurden
durch diesen Krieg zum großen Teil getroffen.
Die humanitäre Lage ist katastrophal. 22 Millionen Menschen stehen vor
einer großen Katastrophe, einem großen Mangel an medizinischer Versorgung, es
herrscht großer Mangel an Lebensmitteln, und die Einkommen sind extrem gering,
die Gehälter werden nicht gezahlt. Was resultiert daraus? Ein Zusammenbruch
des Finanzsystems, Zerstörung von zivilen Einrichtungen, Zusammenbruch der
Wasserversorgung in großen Teilen des Landes. Das Gesundheitssystem ist, wie
schon erwähnt, zum großen Teil auch funktionsunfähig, dazu kommen verzögerte
humanitäre Hilfe und das Zurückhalten der internationalen Gemeinschaft.
Für diesen Krieg werden viele Gründe angeführt. Was wurde da behauptet? Mit
diesem Krieg will man angeblich dem Jemen als Land helfen, der Bevölkerung
helfen. Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns hier bei dieser Konferenz
diese Behauptung glaubt.
Deswegen wird der Kollege Aiman Al-Mansor jetzt weiterführen und über die
Herausforderung für den Frieden und die unsichtbaren Gründe für diesen Krieg
sprechen. Vielen Dank. [Applaus.]
Dr. Aiman Al-Mansor: (Ich finde es etwas lustig, daß wir, die
aus dem Jemen kommen, die einzigen sind, die in dieser Konferenz deutsch
sprechen; das ist toll.)
Mein Kollege hat schon erwähnt und auch gezeigt, was jetzt im Jemen
passiert ist, und ich glaube, man braucht Tage und vielleicht Monate, um alles
zu zeigen, was da passiert ist, es ist schrecklich. Wir haben noch unsere
Familien da, und wir kämpfen jeden Tag damit, welche Nachrichten wir
bekommen.
Die Behauptung, dem Jemen zu helfen, indem der schon zurückgetretene
Präsident Hadi wieder an die Macht gebracht werden soll, die Behauptung, daß
Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate die Demokratie in den Jemen
zurückbringen wollen, das ist zum Lachen. Daß zwei Länder, die mit Demokratie
überhaupt nichts zu tun haben, wo die Frauen erst jetzt, vor einer Woche oder
vor einigen Tagen, Auto fahren dürfen, die Demokratie im Jemen befestigen
wollen, das ist einfach zum Lachen. [Applaus.]
Den Jemeniten dadurch zu helfen, daß man ihre Infrastruktur zerstört und
die Krankenhäuser bombardiert und die Kinder erschreckt und die Schulzeiten
verändert, so daß viele Kinder gar nicht zur Schule gehen können – das kann
man nicht glauben! Ein normaler Mensch, der ganz normal denken kann, der kann
das nicht glauben.
In diesem Krieg gibt es, wie mein Kollege gezeigt hat, 35.000 Zivilopfer.
Das ist die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts, laut UN.
Deswegen: Warum findet dieser Krieg statt?
Die unsichtbaren Kriegsgründe sind folgende: Sie wollen das jemenitische
Militär schwächen, sie wollen die politische Kontrolle durch die Saudis und
indirekt auch durch die Amerikaner nicht verlieren. Saudi-Arabien hat sich
schon immer eingemischt in die jemenitischen Angelegenheiten, schon seit
Ewigkeiten – 1934, 1967 und jetzt 2015 -. und sie können es einfach nicht
zulassen, daß die Jemeniten selber entscheiden, wie die politische Situation
sich entwickeln soll, wer gewählt wird. Die Saudis haben immer entschieden,
wer Minister wird und wer der Stellvertreter wird und welcher Bürgermeister in
welcher Stadt gewählt wird; aber seit 2015 haben sie diese Entscheidungen
verloren, und das ist auch einer der unsichtbaren Gründe, warum der Krieg
begonnen wurde.
Auch die geopolitische Lage des Jemen ist immens wichtig für die Saudis und
für die Emirate, weil sie diese Win-Win-Situation nicht verstehen, daß wenn
der Jemen seine wirtschaftliche und geopolitische Lage gut nutzen kann, dann
auch die anderen alle davon profitieren können. Das verstehen sie nicht, das
ist eine egoistische Denkweise, wie die beiden Länder damit umgehen.
Auch die wirtschaftlichen Interessen sind sehr groß, denn an der Grenze zu
Saudi-Arabien und auch an der Küste zum Roten Meer dürfen die Jemeniten nichts
machen, sie dürfen nicht selber entscheiden, was da passiert und welche
wirtschaftlichen Fortschritte da begonnen werden könnten.
Abb. 5: Lage des Jemen am Roten Meer, an der Bab-el-Mandab-Straße und am
Golf von Aden.
Ich komme nun zu der Karte (Abb.5), die auch mein Kollege schon
gezeigt hat, wo der Jemen liegt und welche wichtige Rolle diese geographische
Lage für den Jemen bedeutet. Denn der Jemen liegt am Roten Meer, der
Verbindung zwischen dem Suezkanal und dem Golf von Aden und weiter zum
Arabischen Meer, als Verbindung zwischen Europa und Asien und Afrika. Weil der
Jemen auch diese Mandab-Meerenge und den Golf von Aden hat, darf Jemen nicht
angegriffen werden, schon um die internationale Wirtschaft zu schützen. Damit
alle diese Win-Win-Situation haben, darf der Jemen nicht angegriffen werden,
und wir dürfen einfach nicht zulassen, daß die Saudis und die Emirate sich
naiv und wie Kinder verhalten in dieser Region. Denn das bedroht die
internationale Wirtschaft.
Was wir hier von dieser Konferenz erhoffen oder uns wünschen, was wir
machen könnten, bevor wir Jemen in die Seidenstraße einbeziehen: Der Jemen hat
jetzt die größte humanitäre Katastrophe. Die Menschen müssen die Empathie der
internationalen Gemeinschaft spüren, damit der Jemen mitmacht. Der Jemen
selbst muß gar nicht überzeugt werden, aber die Saudis und die Emirate müssen
überzeugt werden, den Jemeniten diese Entscheidung zu überlassen. Und dann
werden die Jemeniten auch mitmachen. Der Kollege, der chinesische Diplomat,
hat ein Sprichwort gesagt: Wenn du reich werden willst, mußt du eine Straße
bauen. Und wir sagen: Wenn wir die Teilnahme des Jemen an den wirtschaftlichen
Plänen für notwendig halten, dann sollten wir den Jemen aus dieser Katastrophe
herausholen.
Deswegen ist dies eine Herausforderung für uns alle. Denn wir alle als
Menschen müssen auch an uns alle als Menschen denken. Wer seine Familie hier
hat und gut essen kann und ruhig ins Bett gehen kann, der muß einfach daran
denken, daß die Menschen im Jemen und in vielen anderen Ländern wie in Syrien
das nicht können. Und wir dürfen nicht so lange zuschauen, wie wir es in
Syrien gemacht haben, wir haben zu lange einfach zugeguckt. Wir haben so lange
gewartet, bis die Katastrophe zu uns kam, und dann erst haben wir die Augen
aufgemacht, als wir uns selber und unsere Wirtschaft bedroht gefühlt haben.
Deswegen darf man einfach nicht so lange zuschauen, und der Krieg muß beendet
werden.
Das ist das Hauptkriterium, eine Voraussetzung für wirtschaftliche
Interessen, und man muß Jemen auch als souveränes Land sehen. Es muß ein
offener Dialog für alle politischen Probleme im Land geführt werden, wir
brauchen Volksgerichte, eine Verfassung und Neuwahlen, die katastrophale
humanitäre Lage muß bewältigt werden, es muß ein Wiederaufbauplan vorbereitet
werden, und wir brauchen die Bereitschaft und Beteiligung der internationalen
Gemeinschaft am Wiederaufbau des Jemen.
Das ist die allgemeine Herausforderung eines Friedens. Was wir z.B. von den
BRICS-Staaten wollen, von China oder Rußland oder jedem, der einfach
wirtschaftliche Interessen hat, der vielleicht nicht an die menschliche
Situation im Jemen denkt, aber Länder, die einfach wirtschaftlich denken,
müssen eine eigene Friedensinitiative bilden. Man muß nicht auf die UN warten,
wir müssen nicht darauf warten, wie die EU reagiert. Wir müssen selber etwas
machen und eine eigene Friedensinitiative bilden.
Wir müssen auch die unabhängigen weltweiten Medien erreichen. Es wird so
wenig gezeigt über den Jemen, obwohl die UN gesagt hat, es ist die größte
humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts. Aber es wird wenig gezeigt. Das
muß gezeigt werden, das ist auch ein Druckmittel, daß die Saudis damit
aufhören, es ist auch ein Druckmittel, daß die Emirate damit aufhören.
Und wir brauchen eine schnelle Bewältigung der humanitären Katastrophe. Wir
müssen uns die Probleme im Jemenan anschauen – was die Leute brauchen. Sie
brauchen Schulen, sie brauchen Straßen, sie brauchen medizinische Hilfe, sie
brauchen unsere Empathie. Wir müssen schnell reagieren, und selbst etwas tun,
und nicht warten, was die UN macht und was sie vorbereitet hat, wir müssen
selbst etwas tun. Die Medien müssen das auch spüren. Und den Wiederaufbau des
Landes, das kann vielleicht Herr Askary erklären.
Vielen Dank.
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