Eine Zukunftsgemeinschaft der Menschheit:
Chinas strategische Perspektive bis 2050
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Präsidentin des Schiller-Instituts hielt den folgenden
Vortrag am 24. Oktober 2018 in Moskau bei einer Konferenz zum Thema „China,
die chinesische Zivilisation und die Welt: Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft“, die vom Institut für Fernoststudien der Russischen Akademie der
Wissenschaften und vom Akademischen Rat für umfassende Studien des
zeitgenössischen China veranstaltet wurde.
Die große Frage, mit der sich alle denkenden Menschen auf diesem Planeten
befassen sollten, ist im wesentlichen die gleiche, die schon in der jungen
amerikanischen Republik heiß debattiert wurde, so wie es die
„Föderalistenartikel“ (Federalist Papers) berichten, nämlich ob die
menschliche Gesellschaft fähig ist, eine effiziente Form der Selbstregierung
zu finden – nur daß es diesmal nicht nur eine Nation betrifft, sondern die
gesamte Menschheit: die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas in der
Weltordnung.
Die Spannungen in einer von zahlreichen Krisen geplagten Welt scheinen auf
einen Bruchpunkt hinzustreben: die Gefahr eines neuen, diesmal systemischen
Finanzkrachs des transatlantischen Finanzsystems, eine beispiellose
Polarisierung in den USA um den laufenden Putschversuch gegen den Präsidenten
der Vereinigten Staaten, Operationen unter falscher Flagge, Goebbels-ähnliche
Täuschungsoperationen gegen ganze Völker, Drogenepidemien, die eine neue Form
von Opiumkriegen sind, die globale Migrationskrise, Terrorismus und Nazismus,
eine Zunahme der Zentrifugalkräfte in der Europäischen Union, das
Wiederaufkommen aggressiver, geopolitisch motivierter Bemühungen, eine Ordnung
zu erhalten, die schon gar nicht mehr besteht – um nur einige der
Herausforderungen aufzuzählen. Die Welt ist in Unordnung.
Wie realistisch ist angesichts einer so komplexen und scheinbar völlig
gespaltenen Welt die Perspektive, die beim 19. Nationalkongreß der
Chinesischen Kommunistischen Partei vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping
dargelegt wurde, wo er für China das Ziel definierte, bis zum Jahr 2050 „ein
starkes, demokratisches, kulturell fortgeschrittenes, harmonisches und
schönes“, vollständig modernisiertes Land zu werden, und an einer Stelle sogar
davon sprach, eine „schöne Welt“ aufzubauen, an der alle Nationen
teilhaben?
Wenn man die oben aufgezählten Krisen und Herausforderungen als
unzusammenhängende Einzelprobleme betrachtet, dann landet man in einer
„schlechten Unendlichkeit“, in der viele davon unlösbar erscheinen. Wenn man
jedoch erkennt, daß alle diese Probleme gemeinsame Züge haben, daß sie nämlich
Derivate des alten Paradigmas einer untergehenden Epoche sind, dann kann man
die Lösung finden, indem man sich an den Prinzipien der neuen Epoche
orientiert.
Es gibt zwei „spielentscheidende“ Fragen für die nahe Zukunft, die völlig
entgegengesetzte Wege in die Zukunft eröffnen. Die erste betrifft den
monumentalen Machtkampf, der sich derzeit in den Vereinigten Staaten abspielt;
entweder hat dort der Putschversuch gegen Präsident Trump Erfolg und er wird
auf die eine oder andere Weise aus dem Amt gedrängt, oder aber die Mauschelei
der Geheimdienstchefs der Regierung Obama mit den britischen Geheimdiensten
GCHQ und MI-6 bei der Orchestrierung des „Russiagate“ gegen Trump – um zu
verhindern, daß er seine Absicht realisiert, die Beziehungen zu Rußland auf
eine gute Basis zu stellen –, führt zu Strafverfahren gegen ihre Betreiber.
Sollten die Demokraten bei der Kongreßwahl die Mehrheit im Repräsentantenhaus
gewinnen, dann werden sie versuchen, die laufenden Ermittlungen im Kongreß zu
begraben, und die Konfrontationspolitik, die wir in den Sanktionen gegen
Rußland und im Handelskrieg gegen China und der jüngsten Rede von
US-Vizepräsident Pence sehen, wird sofort eskaliert werden. Wenn Trump jedoch
seine Position festigen kann, dann besteht trotz all der kriegerischen Töne,
die jetzt aus den USA kommen, das Potential, daß er in der zweiten Hälfte
seiner ersten Amtszeit die Beziehungen zu Rußland verbessert und zu seiner
ursprünglichen, positiven Haltung gegenüber China zurückkehrt.
Die zweite, damit zusammenhängende, spielentscheidende Frage ist eine
Perspektive für einen Ausweg aus der „Thukydides-Falle“, dem scheinbaren
Konflikt zwischen der Macht, die die Welt bisher dominiert hat, den USA, und
der aufstrebenden Macht, China, indem man eine Lösung definiert, die weit über
die bilaterale Situation zwischen den beiden hinausreichend die existentiellen
Gefahren für alle Nationen anpackt und so das Niveau der Diskussion und
des Denkens auf eine höhere Ebene anhebt.
Was mein Ehemann Lyndon LaRouche schon vor einigen Jahren vorgeschlagen
hat, gilt immer noch: Die vier mächtigsten Nationen der Welt, die USA,
Rußland, China und Indien – unterstützt von anderen, wie Japan, Südkorea und
anderen – müssen kurzfristig ein Neues Bretton-Woods-System schaffen, um die
potentiell verheerenden Konsequenzen eines unkontrollierten Finanzkrachs zu
vermeiden. Dieses neue internationale Kreditsystem muß die Fehler des alten
Bretton-Woods-System korrigieren, das nicht so verwirklicht wurde, wie es
Präsident Franklin Delano Roosevelt beabsichtigt hatte, sondern durch den
Einfluß von Churchill und Truman stark verwässert wurde. Es muß die
uneingeschränkte Souveränität aller Nationalstaaten garantieren, die sich
daran beteiligen, und es muß ihnen die Möglichkeit verschaffen, zum
gemeinsamen Nutzen aller, uneingeschränkt an den Vorteilen des
wissenschaftlich-technischen Fortschritts teilzuhaben.
Der Hauptaspekt dieses Neuen Bretton-Woods-Systems muß eine grundlegende
Änderung in den monetären, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen
zwischen den dominierenden Mächten und den sogenannten Entwicklungsländern
sein. Wenn die Ungerechtigkeiten, die als Folge des modernen Kolonialismus
weiterbestehen, nicht zunehmend beseitigt werden, dann kann es weder Frieden
geben, noch können Herausforderungen wie die Migrationskrise oder der
Terrorismus überwunden werden.
Das Grundkonzept eines solchen neuen Kredit- und Wirtschaftssystems
existiert im Prinzip bereits in Präsident Xi Jinpings Gürtel- und
Straßen-Strategie (Belt & Road Initiative, BRI). In den fünf Jahren ihrer
Existenz hat sie bereits unter den rund hundert teilnehmenden Nationen eine
beispiellose Dynamik von Hoffnung und Optimismus entfaltet, und angesichts der
gewaltigen Fortschritte, die sie in der kurzen Zeit bereits gemacht hat, ist
offensichtlich, daß Präsident Xi Jinpings Ziel, bis 2050 eine „schöne Welt“
für die ganze Menschheit zu schaffen, absolut erreichbar ist.
Das neue Geflecht der internationalen Beziehungen, das für das neue
Paradigma gebraucht wird, wird bereits aufgebaut. Die Integration der Belt
& Road-Initiative, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die
Eurasische Wirtschaftsunion und die Organisationen des Globalen Südens
schreiten mit Erfolg voran und schaffen bereits völlig neue strategische
Bündnisse zum gegenseitigen Vorteil aller Beteiligten. Der „Geist der Neuen
Seidenstraße“ hat bereits die meisten Länder Asiens und Lateinamerikas erfaßt,
er bietet zum erstenmal seit Jahrhunderten Hoffnung für Afrika, das Präsident
Xi als den Kontinent mit dem größten Entwicklungspotential bezeichnet und dem
Präsident Putin versprochen hat, ihn „durch das Bereitstellen von Kerntechnik
zu erleuchten“. Viele sprechen inzwischen von Afrika als dem „neuen China mit
afrikanischem Charakter“! Und trotz des Widerstrebens der Europäischen Union
und der gegenwärtigen Berliner Regierung wächst die Zahl der Länder in Europa,
die sich in die Neue Seidenstraße integrieren wollen, wie die 16+1-Länder,
Spanien, Portugal, die Schweiz, Holland und Belgien, und allen voran
Österreich und Italien.
Die größte und unvermeidbare Herausforderung wird jedoch sein, eine Lösung
zu finden, die die Vereinigten Staaten mit einschließt. Angesichts des
gegenwärtigen Ausmaßes der Militarisierung der USA, sowohl hinsichtlich der
Streitkräfte als auch der Bewaffnung der einheimischen Bevölkerung, wäre die
Chance, daß die Vereinigten Staaten zerfallen oder sich so friedlich aus einer
alternativen Weltordnung ausschließen lassen wie beim Ende der Sowjetunion,
mehr oder weniger null. Die von Präsident Putin am 1. März angekündigte
Militärpolitik bezüglich der russischen Rüstungsforschung und des
strategischen Bündnisses zwischen Rußland und China zeigt, daß Rußland und
China sich hierüber im klaren sind. Wenn man der Thukydides-Falle entkommen
will, dann muß also eine Lösung gefunden werden, welche die Vereinigten
Staaten auf einer höheren Ebene der Organisation der Weltordnung
einschließt.
Die gemeinsame politische Plattform, die angeboten wird, muß aus der Sicht
konzipiert werden, die Nikolaus von Kues als eine völlig neue Form des Denkens
definierte, nämlich seine berühmte Coincidentia Oppositorum – das Eine,
das einer höheren Ordnung der Realität angehört als das Viele. Das ist in
Präsident Xi Jinpings Konzept der „Zukunftsgemeinschaft der Menschheit“
bereits impliziert.
Anstatt an die Frage eines neuen Geflechts der Beziehungen zwischen den
Nationen der Welt vom Status quo aus heranzugehen, muß uns die Vision, wie die
Menschheit in 50 oder hundert Jahren erwachsen werden soll, eine Reihe
konkreter politischer Vorschläge für die Zusammenarbeit liefern. Bis dahin
wird der wissenschaftlichen Theorie Wladimir Wernadskijs zufolge die Noosphäre
ihre Herrschaft über die Biosphäre qualitativ ausgeweitet haben, und neue
Generationen von Wissenschaftlern und klassischen Künstlern werden ausgehend
von der Suche nach neuen Prinzipien der Natur und der Kunst miteinander
kommunizieren.
Wie der deutsche Raketenforscher und Weltraumvisionär Krafft Ehricke
ausgeführt hat, ist die Ausweitung der Infrastruktur zunächst in den erdnahen
Weltraum, als Voraussetzung für die interstellare Raumfahrt, der nächste
Schritt in der Evolution der menschlichen Gattung. Wie die Zusammenarbeit auf
der Internationalen Weltraumstation ISS und die bahnbrechenden Entdeckungen
des Weltraumteleskops Hubble zeigen, verändert die Betonung der
Menschheit als raumfahrende Spezies grundlegend die Identität aller
beteiligten Astronauten, Ingenieure und Wissenschaftler. Und die Vorstellung,
daß wir in einem erdgebundenen System leben, in dem entgegengesetzte
geopolitische Interessen um begrenzte Ressourcen streiten müssen, wird
abgelöst durch die Vorstellung, daß die Menschheit gerade erst begonnen hat,
ihre ersten Babyschritte in ein Universum hinein zu tun, in dem es
schätzungsweise zwei Billionen Galaxien gibt.
Das chinesische Weltraumprogramm wird schon bald eine weitere beispiellose
„Spielwende“ bringen, indem es die Welt in eine neue wissenschaftliche und
industrielle Revolution führt. Zu den laufenden Chang’e-Mondmissionen gehört
auch ein ehrgeiziges Programm, Helium-3 vom Mond zu holen, um es als
Treibstoff für die kontrollierte Kernfusion auf der Erde zu verwenden. Wenn
die Menschheit die Kernfusion beherrscht, dann werden wir auf absehbare
Zukunft Energie- und Rohstoffsicherheit für die gesamte Menschheit haben.
In die gleiche Richtung geht die Chandrayaan-2-Mission der Indischen
Weltraumforschungs-Organisation (ISRO), die auf der Mondoberfläche nach Spuren
von Wasser und Helium-3 suchen wird. Präsident Trump hat die bemannte
Raumfahrt, die Rückkehr zum Mond und Missionen zum Mars und „weiter entfernten
Welten“ wieder zur nationalen Mission erklärt. Von diesen und ähnlichen
Missionen anderer Weltraumnationen werden nicht nur die jeweiligen Länder,
sondern die gesamte Menschheit profitieren. Die Weltraumwissenschaft wird alle
Aspekte des Lebens auf der Erde verändern, wenn wir die Technik und die
Methoden, mit denen wir die „Wüsten“ auf der Erde bewohnbar machen – wie bei
der geplanten russischen Stadt Umka in der Arktis –, auch nutzen, um
Siedlungen auf dem Mond zu schaffen. Weltraumtechnologien werden den Zugang zu
moderner medizinischer Versorgung an allen Orten der Erde vollkommen
revolutionieren, die Landwirtschaft wird von vielen Aspekten der
Weltraumforschung profitieren. Die Kombination einer Fusionsökonomie und der
Industrialisierung des Mondes als nächste Schritte eines unbegrenzten
Prozesses der voranschreitenden menschlichen Beherrschung der Gesetze des
Universums wird eine völlig neue Wirtschaftsplattform schaffen, in dem Sinne,
wie Lyndon LaRouche es definiert hat.
Wenn die vielen notleidenden Menschen auf der Welt – ob sie nun als
Flüchtlinge vor den Folgen von Armut und Krieg fliehen oder ob sie mit ansehen
müssen, wie die Gesellschaft zerfällt, mit zunehmender Gewalt, Alkoholismus,
Drogenmißbrauch, Depressionen oder anderen Ausdrucksformen der Verzweiflung –,
wenn sie von dem unmittelbaren Potential für einen Durchbruch in eine neue Ära
der Menschheit erfahren, dann würde der Geist der Neuen Seidenstraße sie
erfassen und zu einem Leuchtturm der Hoffnung für alle werden.
Das ordnende Prinzip für die heutige, gespaltene Welt kann zur Grundlage
einer gemeinsamen Führung der Präsidenten von China, Rußland, Indien und der
Vereinigten Staaten werden.
|