Vaterland, Nation und Staat
aus der Sicht fortschrittlicher Katholiken und Lyndon LaRouches
Von Nino Galloni
In meinem Vortrag möchte ich die Modernität des Beitrags von zwei wichtigen
Vertretern des italienischen fortschrittlichen Katholizismus besprechen und
hervorheben, Luigi Sturzo und Giuseppe Dossetti, sowie den Beitrag eines
christlichen Denkers – Lyndon LaRouche –, dessen Person und Brillanz wir heute
feiern.
Ich habe Lyndon selbst und viele seiner Mitarbeiter seit etwa 15 Jahren
immer wieder überall in Europa und auf der ganzen Welt getroffen; hingegen
habe ich Dossetti nur zweimal getroffen und Sturzo nie. Aber mein Vater – ein
Staatsmann, der in der Geschichte der italienischen Republik eine wichtige
Rolle spielte, ein Gelehrter auf dem Gebiet der Politik- und Agrarwissenschaft
von internationalem Rang sowie ein Bewunderer und Freund LaRouches – war ein
Anhänger und Schüler Dossettis, wenn auch mit einigen Kritikpunkten, die wenig
bekannt sind.
Nach der Ermordung des Vorsitzenden der DC (Christdemokraten) Aldo Moro
1978 spaltete sich die italienische Politik in zwei Blöcke: einen rechten, der
Sturzo nahestand, und einen linken, der auf Dossetti blickte, aber in
reduktionistischer Weise. Beide Fraktionen, die sich in den letzten 30 Jahren
in der Regierung abgewechselt haben, waren nicht in der Lage, die Bedürfnisse
des Landes zu verstehen, und haben für uns eine stetige Verschlechterung der
Lage herbeigeführt. Der Unterschied zwischen Sturzo und Dossetti wird sich in
den folgenden Ausführungen klar zeigen, aber auflösen läßt er sich nicht ohne
das, was ich die „LaRouche-Lösung“ nenne.
Die Unterschiede zwischen Sturzo und Dossetti
Ich werde der Reihe nach vorgehen, um klar verstanden zu werden, was nicht
ganz einfach, aber notwendig ist, um festzustellen, ob Katholiken ihre eigene
Sicht wirtschaftlicher Probleme voranbringen können, die gegen den freien
Markt ist (aber dabei Franziskus nicht mit dem Prinzen von Wales verwechselt)
und die christlich-sozial ist.
1. Als Benito Mussolini 1922 – dank der Unterstützung der
Krone (und nicht nur ihr) – die Macht übernahm, war Sturzo von Anfang an sehr
ablehnend, weil er in Benito Mussolinis „Radikalsozialismus“ den Versuch sah,
den Staat (der „Große Leviathan“) und die Staatsautorität über alles zu
stellen. Die Frage erübrigte sich bald, als der Faschismus durch die Ermordung
des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti seine Maske fallen ließ.
Luigi Sturzo, Mussolinis Feind Nummer Eins, mußte ins Ausland fliehen.
2. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde mit einer
Volksabstimmung die Republik als Staatsform beschlossen. Sturzo stand dem
Inhalt des Verfassungsentwurfs, der ein Jahr später verfaßt wurde, sehr
kritisch gegenüber, obwohl sich dessen Inhalte, die stark von Dossetti
beeinflußt wurden, nicht wesentlich unterschieden von den Inhalten der
Sizilianischen Statuten, die Sturzo begrüßt hatte.
Dossettis Arbeit zielte im Dialog mit den anderen politischen Kräften, die
eine wesentliche Rolle im antifaschistischen Kampf gespielt hatten, darauf ab,
daß die Zentralregierung in mehreren Bereichen (Soziales, Wirtschaft,
Antikriegspolitik, Bildung usw.) eine aktive Rolle spielen sollte. Von
besonderer Bedeutung ist Art. 3 der Verfassung: „Es ist Aufgabe der Republik,
die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch
eine tatsächliche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger
der vollen Entfaltung der menschlichen Person und der wirksamen Teilnahme
aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung
des Landes im Wege stehen.“
Sturzo dagegen sah darin in erster Linie ein Vorrecht von Privatpersonen
und Familien, erst an zweiter Stelle der lokalen Behörden und nur danach des
Staates, basierend auf dem oft in päpstlichen Enzykliken vertretenen
Subsidiaritätsprinzip. Dossetti und die Verfassung von 1948 stellten diesen
Ansatz auf den Kopf und erkannten, daß vorrangig die Regierung für die
Bedürfnisse der Menschen und der Gesellschaft zu sorgen habe.
3. Sturzo begründete den Widerstand gegen die Rolle der
Zentralregierung auch mit einer angeblichen Kontinuität mit dem Faschismus,
der nach der Krise von 1929 private Interessen durch den Staat gerettet und
große Teile der Wirtschaft verstaatlicht hatte. Aber staatliche Konzerne und
Einrichtungen wie IRI, Eni, Cassa per il Mezzogiorno, Svimez usw. konnten nun
im Rahmen eines Denkens eingesetzt werden, das in den dreißiger Jahren mit
Franklin Delano Roosevelt etabliert worden war und das den liberalen Ansatz
ablehnte, wonach der Markt alle Probleme in der Wirtschaft lösen könne.
Roosevelts Lehren wurden in der Nachkriegszeit angewandt, aber einige
Jahrzehnte später völlig vergessen – und in den 80er Jahren beschäftigte sich
die Marktpolitik mit Problemen, die dadurch verursacht wurden, daß das
Wachstum der internationalen Märkte das Wirtschaftswachstum erstickte!
4. Somit vertrat Sturzo nach Ende des Zweiten Weltkriegs
seine freimarktwirtschaftlichen und autonomen Positionen weiter und
kritisierte sogar – wie wir gesehen haben – die Verfassung von 1948, die die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte inspirierte, für die sich vor allem
Eleanor Roosevelt einsetzte.
5. Mit der Rückkehr der Freihandelspolitik in den Vereinigten
Staaten und Europa Ende der 70er Jahre – insbesondere auf dem G7-Gipfel in
Tokio 1979, wo die letzten Bollwerke des Bretton-Woods-Abkommens von 1944
fielen, das 35 Jahre lang eine außerordentliche wirtschaftliche und politische
Entwicklung ermöglicht hatte – wurde die Spaltung zwischen dem bereits
verstorbenen Sturzo und Dossetti (der jetzt nur noch ein Außenseiter war) noch
stärker. Die Linke setzte sich, inspiriert von Dossetti, für Sozialprogramme
ein, es gelang ihr jedoch nicht, die Mittel zur Finanzierung dieser Programme
zu errwirtschaften. Die Rechte mißbrauchte Sturzos liberalen und subsidiären
Ansatz, sie baute den Sozialstaat zugunsten der „Residualfürsorge“
(Armenhilfe) ab, verwarf nationale Industriestrategien, die Italien groß
gemacht hatten, und schaffte die nützliche Rolle des Staates in Wirtschaft,
Forschung und Infrastrukturaufbau ab.
6. Dossetti war jedoch dafür, im Namen einer ökumenischen
Perspektive den Nationalstaat zu überwinden – ein Vorschlag, der schließlich
Teil des Projekts zur Auflösung der Nationalstaaten wurde, das Großkonzerne
und Zentren der Finanzmacht vorantrieben.
7. So schien man in der italienischen Politik nach der
Ermordung Moros aufzuhören, Veränderungen zu verstehen und aktiv zu gestalten,
und beugte sich statt dessen der gescheiterten Freimarktpolitik. Und die
katholische Welt, die nicht mehr in der Lage war, sich als politische Kraft im
Einklang mit den italienischen, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern
weniger konservativen Traditionen auszudrücken, wurde immer gespaltener und
unwichtiger, weil sie sich zwischen Sturzos antistaatlichen und Dossettis
globalistischen Ansichten nicht entscheiden konnte. Einige Enzykliken und
einige Päpste verteidigten die Prinzipien der „kirchlichen Soziallehre“, aber
die marktwirtschaftlichen Ökonomen hatten in der katholischen Welt das
Sagen.
Vor diesem Hintergrund und im Rahmen meiner Beschäftigung mit allgemeinen
Strategien wurde ich mit Lyndon LaRouche bekannt gemacht. Es entwickelte sich
eine großartige Zusammenarbeit und Freundschaft, an der auch mein Vater und
meine ganze Familie teilnahmen.
Die „LaRouche-Lösung“
8. Kommen wir also zu der „LaRouche-Lösung“, die darin
besteht, wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven zu kombinieren, in denen der
Staat eine wichtige und angemessene Rolle spielt, ohne jedoch den aggressiven
und rassistischen Nationalismus zu provozieren, der angeblich Schuld an den
Weltkriegen war.
Tatsächlich geht Lyndon LaRouches Einstellung auf den Westfälischen Frieden
von 1648 zurück: Alle Staaten sind souverän – „superiorem non
reconoscentes“ (keine höhere Autorität wird anerkannt) – und, das ist das
wichtige, sie respektieren die Souveränität anderer. Mit anderen Worten,
sobald jeder Staat seine nationale Souveränität definiert hat, räumt er das
gleiche auch seinen Nachbarn ein: Er respektiert sie und hegt keine Absichten,
sie aufgrund eines Gefühls der Überlegenheit zu unterwerfen.
Kriege entstehen, wenn übersteigerte Wachstumserwartungen und eine Kultur
der Überlegenheit einer Nation gegenüber einer anderen zusammenkommen – wenn
die Wirtschaftspolitik nicht zielorientiert ist und die Politik allgemein von
einer gewissen Überlegenheit ausgeht, dann werden die Erwartungen auf den
Nachbarn abgeladen, auch auf militärische Weise.
Deshalb haben die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg einen
Fehler gemacht, als sie Deutschland die Schuldenzahlungen auferlegten und so
die Dynamik frustrierter Potentiale und Rachegefühle freisetzten, die den
Nazismus hervorbrachten (oder in Italien den sog. „verstümmelten Sieg“ – la
vittoria mutilata – der eine der Grundlagen des Faschismus war). Daß die
Vereinigten Staaten sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Deutschland,
Japan und Italien anders verhielten, war daher die Grundlage für die heutige
Pax Europea - aber in der Europäischen Union hat sich letztlich der
nördliche Rassismus gegenüber dem Süden durchgesetzt, was eine unzureichende
Entwicklung des südlichen Potentials sowie Ungleichgewichte innerhalb der EU
zur Folge hat.
LaRouches Verteidigung der Institution des Nationalstaates basiert nicht
auf ideologischen Prämissen, sondern auf der wissenschaftlichen Einschätzung,
daß der Nationalstaat die beste Organisationsform der menschlichen
Gesellschaft ist. Der Nationalstaat entsteht LaRouche zufolge nicht aus
ethnischen, geographischen oder politischen Faktoren, sondern aus einem
kulturellen Faktor. Wie er oft am Beispiel von Dante Alighieri bemerkte,
basiert ein Nationalstaat auf einer hochentwickelten Sprache, die in der Lage
ist, tiefe und leidenschaftliche Gedanken in Kunst und Wissenschaft zu
vermitteln. Ein solches unverzichtbares Instrument der sozialen Beziehungen
definiert eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Nation. Da die eigentliche Quelle
der Produktivität in der Wirtschaft die menschliche Kreativität ist – im Sinne
der Fähigkeit zur wissenschaftlichen Entdeckung und deren Umsetzung in Form
von Technologie –, ist die Förderung und Verteidigung der Kultur, wie sie in
einer hochentwickelten Sprache zum Ausdruck kommt, der Schlüssel zum
menschlichen Fortschritt. Regierung und politische Repräsentation außerhalb
oder gegen diese Sichtweise sind nicht vorstellbar.
Daher war LaRouche in der Wirtschaftswissenschaft bestrebt zu untersuchen,
wie die Produktivität, verstanden als die Fähigkeit zur wissenschaftlichen
Entdeckung und Entwicklung – und Nutzung – von Technik, am besten und am
stärksten in einer nationalen Gemeinschaft, wie sie durch eine hochentwickelte
Form der Sprache definiert ist, gefördert werden kann. Daher liegt sein
Schwerpunkt auf der Bildung auf der Grundlage klassischer Autoren und auf dem
Nacherleben wissenschaftlicher Erkenntnisse anhand von Originaltexten – zum
Beispiel Kepler.
Von diesem Standpunkt aus lehnte LaRouche reduktionistische Formen von
Wissenschaft und Wirtschaftslehre ab, er stellte die moderne statistische
Ökonomie bloß und prognostizierte einen langfristigen Zusammenbruch des
gegenwärtigen globalen Finanzsystems viele Jahre – sogar Jahrzehnte – im
voraus.
Ich habe Dante Alighieri bereits erwähnt, aber LaRouche kannte sich mit dem
Werk der größten Humanisten, Wissenschaftler und Künstler aller Nationen aus.
Was Italien betrifft, das er sehr gut kannte und oft besuchte, hatte er einen
einzigartigen Einblick in die Riesen der Renaissance wie Filippo Brunelleschi
und Leonardo da Vinci. In Bezug auf Brunelleschi betonte LaRouche immer dessen
revolutionäre Methode, die in der Architektur mit der Verwendung nichtlinearer
Geometrien wie der Kettenlinie (Katenoide), die auf dem Prinzip der kleinsten
Wirkung basiert, beim Bau der berühmten Kuppel von Santa Maria del Fiore in
Florenz eingeführt wurde.
Das Werk Brunelleschis in der Wissenschaft/Architektur und das Verdis in
der Kunst/Musik waren für LaRouche ein Referenzpunkt, um die moralische
Überlebensfähigkeit der italienischen Bevölkerung wiederherzustellen.
LaRouche entwarf mehrere konkrete wirtschaftliche Vorschläge für Italien,
beginnend mit „Eine gaullistische Lösung für Italiens monetäre Krise“ im Jahr
1976. Die Grundprinzipien dieses Vorschlags sind auch heute noch gültig, auch
wenn sich die Umstände verschlechtert haben.
Im Jahr 2001 wurde LaRouche bei einem seiner Besuche in Italien nach der
gerade eingeführten europäischen Einheitswährung gefragt. „Das ist wie eine
Prachtstraße, die mit den Leichen der Nationen auf dem Weg gepflastert ist“,
antwortete er seinen fassungslosen Gesprächspartnern. Angesichts des
Scheiterns der europäischen Währungsunion erweist sich seine Prognose leider
wieder einmal als richtig.
Die „LaRouche-Lösung“ ermöglicht es also, sich den Plänen globalistischer
multinationaler Konzerne und Finanzmächte zu widersetzen, ohne Nationalismen
und Konflikte zu forcieren; im Gegenteil, der gesunde Austausch zwischen
Souveränen, die sich gegenseitig respektieren, bildet die Grundlage für
internationale Abkommen in wichtigen Fragen wie Energie, internationale und
interkontinentale Infrastrukturen, wissenschaftliche und technische
Forschung.
Indem man die demokratische Stärke von Nationen mit patriotischen Gefühlen,
dem Respekt vor anderen Nationen und (gegenüber der Natur) verantwortlichem
Wachstum sowie dem Ausdruck des Potentials jedes Landes miteinander verbindet,
wird der Frieden nicht nur zu einem Ziel, sondern vor allem zu einem
Instrument der internationalen Beziehungen, das auf gegenseitigem Respekt und
angemessener Entwicklung für alle basiert.
Es ist das Win-Win-Modell, das sich gegen das veraltete „mors tua vita
mea“ (dein Tod ist mein Leben) durchzusetzen beginnt und die letzte
Periode von Lyndon LaRouches irdischem Leben erhellt hat.
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