Das höchste Ideal der Menschheit ist das Potential der Zukunft
Von Helga Zepp-LaRouche
Helga Zepp-LaRouche hielt am 15. Mai 2019 vor der Konferenz des
Dialogs der asiatischen Zivilisationen die folgende Rede. Wir folgen dabei dem
vorbereiteten Text, der für den Vortrag gekürzt werden mußte (die
Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.)
Es ist das Charakteristikum von Zeitenwenden, daß die meisten Zeitgenossen
keinen Begriff von dem haben, was gerade passiert. Nur diejenigen Visionäre,
die eine klare Idee vom positiven Potential der Zukunft haben, können an den
Verzweigungspunkten so in den Prozeß eingreifen, daß potentielle Katastrophen
abgewandt werden und statt dessen wirklich eine neue Epoche der Menschheit
eingeleitet wird.
Wir befinden uns in einem solchen Phasenwechsel: Die alte Weltordnung, wie
sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Zerfall der
Sowjetunion entwickelt hat, befindet sich in einem Prozeß der Auflösung, aber
wie die neue Ordnung aussehen wird, ist noch keineswegs entschieden. Wir
befinden uns sogar in einer Periode, in der das Völkerrecht außer Kraft
gesetzt scheint, weil es derzeit weder die UNO noch eine andere Institution zu
geben scheint, die dem Völkerrecht Geltung verschaffen kann.
Aber unleugbar ist das Pendel, das in den letzten Jahrhunderten die
westliche Zivilisation bevorzugte, auch wenn Asien für Jahrtausende einen
herausragenden, und für lange Zeit sogar führenden Platz in der
Universalgeschichte einnahm, längst dabei, zurückzuschlagen. Dafür sprechen
eindeutig die demographische Entwicklung Asiens, völlig neue strategische
Interventionen wie die BRI und klare Zielsetzungen, wie z.B. das Konzept „Made
in China 2025“ oder die Perspektive, die Präsident Xi Jinping für China bis
2050 gesetzt hat.
Daraus ergeben sich enorme Chancen für Asien, und vielleicht auch eine
völlig neue Form der Verantwortung, die die Inspiration beflügeln sollte,
Konzepte zu erarbeiten, wie die Menschheit als Ganze vorangebracht werden
kann. Präsident Xi Jinping hat offensichtlich genau diesen Ansatz im Blick,
wenn er von der Gemeinschaft einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit spricht.
Wir erleben soeben einen kostbaren Moment, denn noch niemals in der Geschichte
war die bewußte Gestaltung einer neuen Epoche mit der Idee der einen
Menschheit als höherer Idee so klar als Aufgabe definiert. Wenn wir eine
menschlichere Ordnung schaffen wollen, muß sie auf den besten Konzepten
aufbauen, die die verschiedenen Kulturen hervorgebracht haben, und diese
müssen gewissermaßen einen ontologischen Charakter haben, denn an ihnen darf
nichts zufälliges oder zeitgeistmäßiges sein, wenn sie das Dharma -
den moralischen Kodex – bestimmen sollen, dem die geistigen Führer und mit
ihnen die asiatischen Gesellschaften in diesem neuen Kapitel der
Universalgeschichte folgen.
Es ist auch offensichtlich, daß der Anstoß für die Definition dieses
„rechtschaffenen Weges“ aus den alten Traditionen Asiens kommen muß, wie z.B.
dem Konfuzianismus, Buddhismus oder Jainismus, die ganz eindeutig mit der
Verpflichtung zur lebenslangen Selbstkultivierung und moralischen Veredlung
des Menschen verbunden sind. Denn auch wenn der Westen in seinen klassischen
und Renaissance-Perioden des Humanismus den gleichen Anspruch hatte, so ist
diese Idee der ethischen Verbesserung des Menschen als Lebenszweck geradezu
das Gegenteil zum westlichen liberalen Modell, das jede Bevormundung durch
moralische Ansprüche oder die Höherwertigkeit einer Philosophie gegenüber
einer anderen emphatisch ablehnt.
Wie also müssen die Prinzipien beschaffen sein, die das neue Paradigma der
werdenden Gemeinschaft der Menschheit auf so sicheren Grund stellt, das sie
sowohl den Erfordernissen der modernen Naturwissenschaft als auch denen des
neuen Systems der internationalen Beziehungen gerecht werden?
Die Prinzipien der friedlichen Koexistenz
Diese Frage muß auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Ein guter
Anfangspunkt sind die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz,
Panchsheel, wie sie zum ersten Mal formell in dem Handels- und
Verkehrs-Abkommen zwischen der Tibet-Region Chinas und Indien vom 29. April
1954 niedergelegt worden sind. In der Präambel heißt es, daß die beiden
Regierungen sich auf die folgenden Prinzipien geeinigt haben:
1. Gegenseitiger Respekt für die territoriale Integrität und
Souveränität des Anderen,
2. Gegenseitiger Nichtangriff,
3. Gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des
Anderen,
4. Gleichheit und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen, und
5. Friedliche Koexistenz.
Die erste Konferenz der unabhängigen asiatischen und afrikanischen Staaten
in Bandung erweiterte unter der Führung des chinesischen Regierungschefs Zhou
Enlai und des indischen Ministerpräsidenten J. Nehru die fünf Prinzipien in
die zehn Prinzipien von Bandung. Die gleichen Prinzipien wurden als
völkerrechtliches Kernstück auf der Konferenz der Blockfreien-Bewegung 1961 in
Belgrad unterstrichen. China hat mit der BRI diese Konzeption der Beziehung
zwischen den Nationen zum ersten Mal als die Basis einer globalen Neuordnung
definiert, die für alle Nationen offen ist. Präsident Xi betonte in seiner
Eröffnungsrede auf dem ersten Belt & Road-Forum im Mai 2017:
„Wir sind bereit, Entwicklungsstrategien mit anderen Ländern zu teilen,
aber wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten anderer
Länder einzumischen, unser Gesellschaftssystem und Entwicklungsmodell zu
exportieren oder anderen unseren Willen aufzuzwingen.“
Diese Prinzipien der friedlichen Koexistenz haben ihre tiefen Wurzeln in
mehreren asiatischen Kulturen. Einige dieser Konzepte sind philosophischer
Natur, andere sind Teil theologischer Überlegungen. Es geht in diesem Beitrag
um die Identifikation der Ansätze, die die Menschheit vorangebracht haben und
die für die Völkerverständigung von morgen relevant sind. Das ist auch der
Ansatz, den Präsident Xi bei seinen Auslandsbesuchen wählt. So betonte er bei
seinem Besuch in Neu Delhi im Jahre 2014 in einer Rede vor der indischen
Elite:
„Schon in antiken Zeiten kam man in China zu der Einsicht, daß ein
kriegerischer Staat, so groß er auch sein mag, letztlich scheitern muß.
Frieden ist von überragender Bedeutung. Harmonie ohne Gleichförmigkeit und
universellen Frieden gilt es zu erringen. Die chinesischen Konzepte vom
„universellen Frieden“ und „universeller Liebe“ sind den indischen Konzepten
von ,Vasudhaiva Kutumbakum’ (die Welt als eine Familie) und
,Ahimsa’ (keine Verletzung zufügen) sehr ähnlich.“
Die Konzepte der Upanischaden
So finden sich in den antiken Schriften Indiens, den Vedischen Texten, den
Upanischaden, und der klassischen Sanskrit-Literatur viele bedeutende
Konzepte, die sowohl eine religiöse als auch eine praktische, politische
Bedeutung haben. So beinhaltet z.B. das von Xi erwähnte Prinzip des
Ahimsa, der Respekt für alle anderen Kreaturen, nicht nur den Verzicht
auf jedwede Gewalt, sondern auch, den anderen in keiner Weise zu verletzen,
weder verbal noch geistig. Es ist zudem eine Methode der Kriegsvermeidung und
Konfliktlösung selbst für komplexe Herausforderungen in der realen Welt.
In den Sammlungen der Rigveda, der ältesten vollständig
überlieferten Literatur überhaupt, welche jahrhundertelang mit Hilfe
ausgefeilter Mnemotechniken mündlich überliefert worden sind, finden sich
grundlegende Gedanken zur kosmischen Ordnung, die letztlich auch die
Richtschnur für das menschliche Handeln auf der Erde liefern. In den
Upanischaden finden sich fünf Prinzipien, die die gleiche
Grundausrichtung reflektieren.
Das grundlegendste Konzept ist das des allumfassenden Brahman:
„Ishawaram idam sarvam jagat kincha jagatvam jagat“ – „Alles,
was existiert, wo immer es existiert, ist von der gleichen göttlichen Kraft
durchdrungen.“ Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form bei Leibniz und
seiner Idee der Monade, daß nämlich in jeder Monade die ganze Gesetzmäßigkeit
des Universums steckt.
Das zweite Prinzip ist, daß das „Brahman“, das kreative Prinzip,
dessen Ausdruck die gesamte realisierte Welt ist, in jedem individuellen
Bewußtsein, im „Atman“ steckt. Atman ist die Reflexion dieses
allumfassenden Brahman; es ist das individuelle Bewußtsein, aber es ist
im Grunde nicht vom Brahman getrennt. „Ishwara sarvabhutanam
idise tishtati“ – „Der Herr wohnt im Herzen jedes Individuums.“ Die
Beziehung zwischen Atman und Brahman ist der Kern, um den sich
die ganze vedische Lehre dreht. In der cusanischen Philosophie entspricht dies
der Affinität des Makrokosmos und des Mikrokosmos, der es zu verdanken ist,
daß eine immaterielle Kraft – eine Idee, die von der kreativen Vernunft
erzeugt wird – eine Weiterentwicklung des physischen Universums bewirken
kann.
Ein drittes vedisches Prinzip ist, daß alle Menschen wegen ihrer
gemeinsamen Spiritualität Mitglieder einer Familie sind. Die
Upanischaden sprechen von der Menschheit als amritashya putra,
„Kinder der Unsterblichkeit“.
Das vierte Konzept der Upanischaden präsentiert die Idee der
Wesenseinheit aller Religionen, aller geistigen Wege: „Ekoham svat virpra
bahuda vadanti“ – „Die Wahrheit ist Eins, der Weise nennt sie mit vielen
Namen“. Diese Idee entspricht der „Sanatana Dharma“, der einen
Religion, die über allen Religionen steht, die übrigens auch Nikolaus von Kues
in seinem platonischen Dialog De Pace Fidei, den er unmittelbar nach
dem Fall Konstantinopels 1453 und den damit verbundenen blutigen
Auseinandersetzungen verfaßt hat, zum Ausdruck bringt: Die Repräsentanten der
verschiedenen Religionen und Nationen, die sich in diesem Dialog um Hilfe an
Gott wenden, weil sie sich alle in seinem Namen in Kriegen gegenseitig töten,
belehrt Gott, daß sie jenseits aller religiöser Traditionen und Lehren der
verschiedenen Propheten alle in ihrer jeweiligen Nation und Religion auch
Philosophen seien, und daher verstehen könnten, daß es über den Religionen den
einen Gott und über den verschiedenen Traditionen die eine Wahrheit gebe.
Übrigens hat auch der hinduistische Mönch Swami Vivekananda in seiner
berühmten Rede vor dem Weltparlament der Religionen in Chicago am 11.
September 1893 das gleiche Argument angeführt: die Anhänger der verschiedenen
Religionen stritten und bekämpften sich nur deswegen, weil ihre Sichtweise zu
eng sei und sie nicht begriffen, daß das höchste Wesen unendlich ist.
Ein fünftes vedisches Konzept ist das des Wohles aller Wesen:
„Bahujana shukhaya bahujana hitaya cha“ – die hinduistische
Philosophie sucht „das Wohl aller Menschen und aller Lebensformen auf diesem
Planeten“. Die Verwandtschaft zur konfuzianischen Idee der harmonischen
Entwicklung aller ist offensichtlich, so sagt Konfuzius explizit: „Der, wer
Erfolg haben will, sollte anderen zum Erfolg verhelfen.“ Das ist natürlich die
Grundidee der BRI und der Konzeption einer Win-Win-Kooperation zwischen den
verschiedenen Nationen.
Die konfuzianische Philosophie spricht auch aus dem Namen der neuen Ära,
die mit dem zukünftigen japanischen Kaiser Naruhito beginnen soll:
„Reiwa“, was wörtlich „Streben nach Harmonie“ bedeutet. Japanische
Kommentatoren betonen, daß dieser Begriff auf die berühmte klassische Gedicht-
Anthologie Manyoshu zurückgeht, aber wie der Gelehrte Wang Peng
hervorhob, wurde der Begriff des „ling-he“ von alten chinesischen
Kaisern als Name für ihr Regierungszeit benutzt, bedeutet in der chinesischen
Gegenwart jedoch auch beste Wünsche für Frieden und Harmonie.
Die Idee einer harmonischen Entwicklung aller als Basis für eine
Weltfriedensordnung ist also in mehreren asiatischen Kulturen angelegt, und
steht damit in direktem Gegensatz zu der Idee, daß das Verhältnis zwischen
Staaten eine Art Nullsummenspiel darstellt. Aber ihre Realisierung in der
Praxis erfordert offensichtlich eine neue Entwicklungsstufe in der Evolution
der Menschheit, das Zeitalter des geistigen Menschen, wie Sri Aurobindo es
ausgedrückt hat, oder die zunehmende Dominanz der Noosphäre über die
Biosphäre, in der Wladimir Wernadskij die gewissermaßen in der
Naturgesetzlichkeit des Universums angelegte Bahn gesehen hat.
Das Universum hat eine inhärente Gesetzmäßigkeit, die es zu höheren Stufen
der Entwicklung voranbringt, und Wernadskij sieht darin die kreative Vernunft
des Menschen als essentiellen Bestandteil dieses Universums, als eine
geologische Kraft, die seit der Existenz der Menschheit in der Evolution diese
Höherentwicklung qualitativ vorantreibt. Lyndon LaRouche hat für die
Wissenschaft der physikalischen Ökonomie mit seinem Begriff der relativen
potentiellen Bevölkerungsdichte, die absolute Effizienz dieser Kreativität des
Menschen, die ihn von allen bisher bekannten Lebewesen unterscheidet, den
Beweis dafür geliefert.
Nun ist diese anti-entropische Höherentwicklung weder linear, noch das
automatische Ergebnis objektiver Prozesse – etwa eines wie auch immer
gearteten historischen oder dialektischen Materialismus –, sondern neben dem
objektiven Effekt der Anwendung neu entdeckter universeller Prinzipien im
Produktionsprozeß kommt der subjektiven intellektuellen und moralischen
Höherentwicklung des Menschen ein maßgeblicher Anteil an diesem Prozeß zu.
Für die chinesische und andere asiatische Kulturen ist es mit Sicherheit
ein enormer Vorteil für die anfangs gestellte Aufgabe der bewußten Gestaltung
eines neuen Paradigmas der Menschheit, daß die Entwicklung des moralischen
Charakters in der Philosophie des Konfuzius das wichtigste Ziel der Bildung in
weiten Teilen Asiens war. Denn trotz des erheblichen Rummels um die
Digitalisierung der Wirtschaft und die Rolle der Künstlichen Intelligenz in
künftigen ökonomischen Plattformen wird es immer die Frage der moralischen
Qualität des Menschen bleiben, die darüber entscheidet, ob die neuen
Technologien zum Wohl der Menschheit oder zu bösen Zwecken eingesetzt
werden.
Die Bedeutung der ästhetischen Erziehung
Von erstrangiger strategischer Bedeutung ist deshalb der Brief, in dem Xi
Jinping vor einigen Monaten gegenüber acht Professoren der Zentralen Akademie
der Schönen Künste (CAFA) die außerordentliche Bedeutung der ästhetischen
Erziehung für die geistige Entwicklung der Jugend Chinas betonte. Die
ästhetische Erziehung spiele eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines
schönen Geistes, sie erfülle die Studenten mit Liebe und fördere das Schaffen
großer Kunstwerke.
In China gibt es dank des kontinuierlichen Einflusses des Konfuzianismus –
nur von den zehn Jahren der Kulturrevolution unterbrochen – eine Jahrtausende
andauernde Tradition, in der die Entwicklung eines moralischen Charakters das
höchste Ziel der Erziehung repräsentiert. Es gilt deshalb in China als
selbstverständlich, daß die Beachtung der öffentlichen Moral und Bekämpfung
schlechter Eigenschaften in der Bevölkerung die Voraussetzung für eine
hochentwickelte Gesellschaft darstellt. So forderte z.B. noch der Thronbericht
über die Erziehungsziele des akademischen Ministeriums der Qing-Regierung von
1906, vor allem die öffentliche Moral (gongde) und die konfuzianische
Tugendlehre als Lehrinhalt weiterzuvermitteln, damit sich „jeder um den
anderen sowie um sich selbst kümmert, und den Staat sowie die eigene Familie
liebt“.
Ein Schlüssel zum Verständnis der besonderen Bedeutung der ästhetischen
Erziehung im heutigen China aber liegt nicht nur in den Lehren des Konfuzius,
der der Beschäftigung mit Poesie und guter Musik eine ganz entscheidende Rolle
bei der Entwicklung des moralischen Charakters zugewiesen hatte, sondern der
Gelehrte, der das moderne Bildungssystem Chinas mehr beeinflußt hat als jeder
andere: der erste Erziehungsminister der provisorischen Republik China, Cai
Yuanpei. Er hatte dank außerordentlicher Intelligenz und Fleiß bereits mit 15
Jahren den akademischen Titel xiucai erworben, mit 24 Jahren den
höchsten Titel jingshi, und wurde 1894 zum bianxiu. Damit hatte
er bereits mit 26 Jahren die höchste Stufe der Akademikerkarriere der
Qing-Dynastie erreicht. Er verfügte über exzellente Kenntnisse der klassischen
Schriften und war für seinen schönen klassischen Stil berühmt.
Während dieser Zeit war Cai genauso wie die gesamte chinesische Elite
erschüttert darüber, daß China im Krieg gegen Japan eine Niederlage erlitt,
und überhaupt bei jeder Invasion seit den Opiumkriegen den kürzeren zog, hohe
Reparationszahlungen leisten und Rechte an die Invasoren abtreten mußte. Es
wurde unter Intellektuellen diskutiert, wie Japan, das jahrhundertelang als
rückständig galt, durch die Meiji-Restauration hatte so stark werden können,
und man suchte aus dieser Transformation Lehren zu ziehen.
Man machte auch die Korruption der Qing-Dynastie für diese als Schmach
empfundenen Niederlagen verantwortlich. Cai war überzeugt, daß der Staat nur
überleben würde, wenn sich im Bewußtsein der Bevölkerung etwas ändern würde,
und daß diese Verbesserung nur durch verbesserte Inhalte der Erziehung
erreicht werden könne. Cai begann sich zunächst mit dem japanischen und dann
mit europäischen Bildungssystemen auseinanderzusetzen. Schließlich reiste er
nach Frankreich und Deutschland, wo er von 1907 bis 1911 in Leipzig studierte,
wo er Zivilisations- und Kulturgeschichte des Abendlandes belegte, bevor er
1912 von Sun Yat-sen zum Erziehungsminister berufen wurde.
Cai unternahm tiefgehende Studien der ästhetischen Schriften von Alexander
Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant und Friedrich Schiller, ebenso wie des
Bildungskonzepts Wilhelm von Humboldts. Inspiriert durch die exzellenten
Studien zur Philosophiegeschichte von Wilhelm Windelband und das direkte
Studium von Kant, Schiller und von Humboldt erkannte er sehr schnell, daß
Schillers Konzeption der ästhetischen Erziehung sich nicht nur in völliger
Affinität mit der konfuzianischen Morallehre befand – sein Begriff der
„schönen Seele“ entsprach völlig der konfuzianischen Idee des „junzi“
–, sondern daß Schiller auch über diese Fragen mit größerer Klarheit und von
einem erhabeneren Standpunkt sprach als alle früheren oder zeitgenössischen
Philosophen. „Die umfassende Theorie Friedrich Schillers und die Idee der
ästhetischen Erziehung brachte allen große Klarheit“, schreibt Cai. „Seit
jener Zeit kann uns die europäische Idee der ästhetischen Erziehung vieles
liefern, auf das wir uns bei der Entwicklung unseres eigenen Verständnisses
dieses Gegenstands beziehen können.“
Cai Jianguo zitiert Cai Yuanpei weiter: „In Deutschland hat mich die
ästhetische Erziehung sehr beeindruckt. Ich möchte alle meine Kräfte dafür
einsetzen, um sie zu befördern.“ Cai schuf dafür den chinesischen Begriff
„meiju“, den es zuvor in dieser Sprache nicht gegeben hatte.
Schiller hatte die „Ästhetischen Briefe“ als Antwort auf das Scheitern der
Französischen Revolution verfaßt und darin die Auffassung vertreten, daß von
jetzt ab jede Verbesserung im Politischen nur aus der Veredlung des
Individuums kommen könne. Nur wenn der Mensch sich über das vergängliche Glück
der Sinnenwelt erhebt, und nicht nur für sich selbst, sondern für die
Gemeinschaft, nicht nur für die Gegenwart, sondern für die Zukunft, nicht für
den körperlichen Genuß, sondern für die geistige Kreativität einsetzen wolle,
könne der Staat prosperieren. In den „Briefen“ und weiteren bahnbrechenden
ästhetischen Schriften entwickelte Schiller, warum diese Veredlung des
Charakters durch die Versenkung in die große klassische Kunst erreicht werden
kann.
Cai Yuanpei erkannte die frappierende Übereinstimmung zwischen der Lehre
des Konfuzius und der Ästhetik Schillers. Das Versenken in Dichtung, Musik und
Malerei während der Mußestunden erweckt im Betrachter ein ästhetisches
Vergnügen, in dem weder ein Begehren, noch eine Ablehnung der sinnlichen Welt
liegt, sondern der Geschmack gebildet und die Emotionen veredelt werden. Das
ästhetische Empfinden umfaßt Schönheit und Erhabenheit, und schlägt so eine
Brücke von der sinnlichen Welt zur Vernunft. Jeder Mensch hat ein Gemüt, aber
nicht jeder ist befähigt, große und edle Taten hervorzubringen, deshalb muß
dieses Gemüt als Triebkraft stärker werden, indem man es veredelt.
1912 schrieb Cai die „Thesen zur neuen Erziehung“ und das „Lehrbuch über
die moralische und charakterliche Vervollkommnung für die weiterführende
Schule“, in dem er das menschliche Gewissen als den wesentlichen Ratgeber für
das Verhalten charakterisierte. In einem Aufsatz vom 10. Mai 1919 schrieb er:
„Ich glaube, daß die Wurzel der Probleme unseres Landes in der Kurzsichtigkeit
von so vielen Leuten liegt, die schnellen Erfolg oder schnelles Geld ohne
irgendeine höhere moralische Denkweise haben wollen. Die einzige Medizin ist
die ästhetische Erziehung.“
Natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß Cai als Präsident der
Universität Beijing diese Institution zu international anerkannten
wissenschaftlichen Erfolgen führte, und dabei viele Anregungen von Wilhelm von
Humboldt aufgriff, der in der Berliner Universität die Einheit von Forschung
und Lehre und die charakterliche Schönheit als Erziehungsziel etabliert hatte.
Aufgrund von Cais Ansehen wurde die Universität in Beijing bald zum
Anziehungspunkt für viele junge chinesische Wissenschaftler, die aus dem
Ausland zurückkamen, ebenso wie von ihm die Inspiration für viele weitere
Kunsthochschulen und Akademien ausging.
Die große Gemeinschaft der Welt
Von größter Bedeutung für das Verständnis der Politik Präsident Xi Jinpings
und seiner Idee der „Zukunftsgemeinschaft der Menschheit“ ist meiner
Auffassung nach auch die Konzeption Cai Yuanpeis, daß der Staat wie eine
größere Familie ist, weswegen das Interesse des Staates den Interessen der
Einzelfamilie vorgeordnet sein muß, denn das Gedeihen des Staates war für ihn
die Voraussetzung für das Glück der Bürger. Aber ebenso stand für ihn das
Interesse der Welt als der Heimat aller Lebewesen über dem Interesse des
einzelnen Staates. Cai schrieb: „Bevor die ,große Gemeinschaft’ der Welt
verwirklicht wird, kann das Interesse der Gesellschaft mit dem der Welt nicht
identisch sein.“ Er betonte auch, daß man bei der Erfüllung der Pflicht dem
Staat gegenüber darauf achten müsse, daß sie nicht zur Pflicht der Welt
gegenüber in Widerspruch stehe. Er erträumte eine „große Gemeinschaft“ der
gesamten Welt (datong shijie), die friedlich und harmonisch ohne
Klassenunterschiede und Staatsgrenzen, ohne Armee und Krieg, gestaltet wäre.
Alle Menschen würden einander in dieser Weltgemeinschaft verstehen und
einander helfen. Cai sah im „Dialog der Kulturen“ den Weg zu diesem Ziel: „Ich
habe häufig gedacht, daß eine Nation die Kultur anderer Völker unbedingt
aufnehmen muß. Dies ist so wie der Körper eines Menschen, der ohne Atmen der
Luft der Außenwelt, ohne Essen und Trinken nicht wachsen kann.“ Ja, er sah in
dieser Begegnung der Kulturen die absolute Voraussetzung der Höherentwicklung:
„Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der Geschichte, so sieht man, daß
die Auseinandersetzung unterschiedlicher Kulturen immer zur Entstehung einer
neuen führt.“
Die Verwirklichung dieser Vision durch die Dynamik und den „Geist der Neuen
Seidenstraße“ ist für die Zukunft absolut erkennbar. Die Prinzipien, die den
„rechtschaffenen Weg“ für das Neue Paradigma bestimmen müssen, sind keine
statischen Axiome, sondern sie bestehen aus den Chancen, die sich aus der
ästhetischen Erziehung eventuell aller Menschen ergeben. In einer Welt, in der
die Ökonomie nicht nach den Prinzipien der Profitmaximierung und
größtmöglichen Befriedigung der individuellen Gier funktioniert, sondern nach
der bestmöglichen Förderung der Kreativität der Menschen als dem Motor eines
sich anti-entropisch entwickelnden Universums – wenn also gewissermaßen die
„kosmische „Ordnung“ das politische, ökonomische und kulturelle Leben
inspiriert –, dann sind die Träume des Konfuzius, von Schiller, Cai Yuanpei,
Xi Jinping und Lyndon LaRouche die politischen Gesetzgeber der Menschheit. So
wie Tagore es in seinem berühmten Dialog mit Einstein ausdrückte: „Wenn unser
Universum in Harmonie mit den Menschen ist, empfinden wir das Ewige, das wir
als Wahrheit kennen, als Schönheit.“
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