Südamerika auf der neuen multipolaren Straße
Von Walter Formento
Walter Formento ist Generaldirektor des Zentrums für politische
und wirtschaftliche Forschung (CIEPE-1995-2020), Mitglied des Internationalen
Krisenobservatoriums (OIC) und des Internationalen Netzwerks des
Lateinamerikanischen Rates für Sozialwissenschaften (CLACSO). Für die
Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 27. Juni 2020 übermittelte er den
folgenden Beitrag.
Guten Tag, mein Name ist Walter Formento. Ich bin Direktor des Zentrums für
Politik- und Wirtschaftsforschung (CIEPE) und auch Mitglied des
lateinamerikanischen sozialwissenschaftlichen Netzwerks, das auf allen fünf
Kontinenten tätig ist.
Es bedeutet uns sehr viel, an dieser Konferenz teilzunehmen, und wir
hoffen, daß wir zu dem Dialog, der hier beginnt, beitragen können.
Im Hinblick auf die Entwicklung und die Beiträge der Neuen Seidenstraße und
der Weltlandbrücke, die uns alle verbindet, glauben wir, daß Südamerika – von
Mexiko bis Argentinien und Brasilien, über Kolumbien und Venezuela, Peru,
Bolivien und Paraguay – in seiner hispanoamerikanischen und südamerikanischen
Geschichte über echte, konkrete Fähigkeiten zum Aufbau von Souveränität,
strategischen Industrien, Wissenschaft und Technologie verfügt - sowohl zum
Beitragen als auch zum selber Aufnehmen. Dies stammt von jeder dieser Nationen
einzeln, aber auch von einer organisierten plurinationalen südamerikanischen
Gemeinschaft, die sich auf ihre gemeinsamen hispanoamerikanischen Ursprünge
stützt, noch konkreter auf den Zeitraum 2001-2015 auf der Grundlage der UNASUR
(Union Südamerikanischer Nationen) und der CELAC (Gemeinschaft
Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten).
Betrachten wir dies zunächst von Argentinien aus: Diese südamerikanische
Nation entwickelt ihre strategischen Industrien seit ihrem Kampf gegen die
britischen Invasionen von 1805-1807. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte
sich dieser Prozeß mit dem Aufbau seiner Erdölindustrie und
Wasserkraftprojekte fort, immer in Wechselwirkung mit dem internationalen
Kontext und mit Rückmeldungen daraus.
Nach der Großen Depression, verursacht durch die Systemkrise von 1929-1944,
vertiefte Argentinien zusammen mit Chile und Brasilien – der ABC-Allianz – den
Prozeß der souveränen Entwicklung, indem es den Schienen-, See- und
Flußtransport sowie die Automobil- und Flugzeugindustrie stärkte, die dann zur
Grundlage für die Entwicklung ihrer Luft- und Raumfahrtindustrie und ihrer
U-Boot-Industrie wurden. Auch wenn diese Industrien internationale Beziehungen
unterhielten, arbeiteten sie stets miteinander zusammen, was ihre eigene
gemeinsame wissenschaftliche und technologische Entwicklung ermöglichte. Dies
war einmal mehr eine Funktion des internationalen Kontextes, der für
Südamerika und insbesondere für Argentinien, Brasilien und Chile günstig
war.
Im Falle Argentiniens führte dieser positive Prozeß ab 1946 dazu, daß
zwischen 1963 und 1991 ein staatlich geführter, öffentlich-privater
industrieller, technologischer und wissenschaftlicher Verbund geschaffen
wurde, in dem auf unserem Binnenmarkt 80 Prozent der für die nationale
Entwicklung erforderlichen Güter und Dienstleistungen und Teile produziert
wurden. Damit festigte sich auch eine Realität, in der 90 Prozent der
Arbeitskräfte feste Anstellungen hatten, mit einer starken universitären,
technisch-professionellen Komponente, und auch die Arbeitslosen staatlich
anerkannt wurden. Von einem Wertestandpunkt aus gesehen war dies eine
integrierte und engagierte soziale Realität.
Aus diesem Grund weiß Südamerika (oder Hispanoamerika) aufgrund seiner
eigenen Erfahrungen um die wichtige Bedeutung der Entwicklung eines nationalen
strategisch-industriellen-technologischen Komplexes, aber auch einer
südamerikanischen Staatengemeinschaft.
Der Krieg und die Niederlage, die die anglo-holländische Oligarchie mit
Sitz in London und New York Argentinien und Südamerika aufzwang – und das mit
aller Macht, beginnend mit dem Staatsstreich 1976 in Argentinien, gefolgt von
der Zeit des Malwinen-Krieges und danach 1982-1991 –, setzten diesem
vorteilhaften Kreislauf ein Ende und leiteten einen Zyklus des Verfalls ein,
was der globale finanzielle Neoliberalismus verstärkte.
Wenn wir heute über die Neue Seidenstraße und das neue multipolare
Finanzsystem und in diesem Zusammenhang über die Weltlandbrücke und die
Stärkung der produktiven Fähigkeiten des Menschen und der Natur nachdenken,
einschließlich des Dialogs der Zivilisationen, dann sehen wir dies als
vielversprechend und hoffnungsvoll an. Wir sind aufgerufen, uns zu engagieren,
um zu diesen Initiativen zur Förderung der Luft- und Raumfahrt, des Verkehrs
und der neuen Energietechnologien beizutragen und sie weiterzugeben.
In gewisser Weise sind wir bereits Teil davon. Da ist der [biozeanische,
d.i. transkontinentale] Schienentransportkorridor von Brasilien über Bolivien
bis nach Peru. Wir sind auch an der Modernisierung einer Eisenbahnlinie
beteiligt, die sich von Buenos Aires (mit seinen Fabriken und Werkstätten für
die Wartung von Anlagen und Eisenbahnwaggons) über die Provinz Santa Fe bis
nach Córdoba, Chaco, Salta und Jujuy im Norden erstreckt und sich dann an die
Hauptstrecke anschließt. In einer gemeinsamen Anstrengung, bei der Rußland
zusammen mit Argentinien Komponenten und neue Technologien liefert, bauen wir
ein modernes neues Eisenbahnnetz auf, das dieses Gebiet noch weiter entwickeln
kann. Wir entwickeln auch Kernreaktoren mit chinesischer und argentinischer
Technologie sowie neue Wasserkraftprojekte im südlichen Patagonien, in der
Nähe der Antarktis und der Inseln des Südatlantiks mit ihrer natürlichen
interozeanischen Route, die die drei großen Ozeane verbindet – den Indischen,
den Pazifischen und den Atlantischen Ozean.
Nach 2008-2010, bis ins Jahr 2014 hinein, lähmte eine Finanzkrise, die sich
um spekulativen Profit drehte, erneut die Welt. Doch heute gibt es eine andere
Welt, die multipolare Welt der Weltlandbrücke, die Welt der Neuen
Seidenstraße, die sich für Wechselbeziehungen mit allen Kontinenten und mit
allen Nationen für eine friedliche, harmonische Entwicklung einsetzt, die in
eine neue Realität für alle Menschen – und für die Natur – integriert ist. Wir
sind ein engagierter Teil dieses Prozesses; wir sehen uns – im Denken, in der
Praxis und im Handeln – dazu verpflichtet, und das durch unsere gesamte
Geschichte hindurch.
Dies ist unser erster Beitrag zu den Konferenzen, die Sie bereits
abgehalten haben, und er verbindet uns mit den fünf Kontinenten und mit den
Akteuren, die eine große historische Macht darstellen in diesem neuen Einsatz
für Menschlichkeit und Natur im Sinne einer sozialen und integralen
Inklusion.
Ich sende Ihnen eine herzliche „Abrazo“ (Umarmung) und hoffe, bei der
Beantwortung Ihrer Fragen noch mehr beitragen zu können. Ich danke Ihnen.
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