Eine Menschheit: Eine Sicht aus Italien
Von Michele Geraci,
Ökonom, ehem. Staatssekretär im italienischen Entwicklungsministerium
Ich danke Ihnen vielmals. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Ich werde in
den nächsten 15 Minuten mehr oder weniger kurz über einige der heißen Themen
nachdenken. Ich möchte aus einigen meiner Erfahrungen schöpfen, die ich, wie
Sie gerade erwähnt haben, bis vor kurzem als Mitglied des italienischen
Kabinetts gemacht habe, und auch in meiner Eigenschaft als einer der
Hauptenthusiasten für den Beitritt Italiens zur Belt-&-Road-Initiative mit
China, nach meinen zehn Jahren in China.
Was ich in meinem Jahr in der italienischen Regierung erlebt habe, ist, daß
wir es mit einer ernsten Krise zu tun hatten. Es gibt ein großes Dilemma, das
den Fortschritt in unserer Gesellschaft aufhält, nämlich das Dilemma zwischen
den kompetenten und den repräsentativen Nestern unter den
Kabinettsmitgliedern. Bis heute ist die Annahme, daß Politiker, die
offensichtlich eine Zustimmung des Volkes erhielten, ihre Rolle als Politiker
einnehmen und auf der Grundlage der Analyse, dem Input der Menschen, die in
den Ministerien arbeiten, den Direktoren und so weiter, ihre Entscheidungen
treffen. Dieses Modell setzt nicht voraus, daß ein Politiker über besondere
Kenntnisse in einem bestimmten Fach verfügt.
In der Vergangenheit hatten wir mehr Stabilität in der Regierung, sodaß ein
Politiker tatsächlich einige Jahre in den Ministerien tätig war, wo er sich
nach und nach ein gewisses Fachwissen auf seinem Gebiet aneignen konnte. In
den letzten fünf Jahren haben wir jedoch erlebt, daß die Regierung jedes Jahr
oder alle anderthalb Jahre gewechselt hat. Nehmen Sie mein Beispiel – 15
Monate in der Regierung. Nun, dieser Zeitraum reicht offensichtlich nicht aus,
um es einem Politiker zu erlauben, sich einigermaßen Kompetenz und Fähigkeiten
anzueignen, wegen der häufigen Wechsel. Sie müssen sich also auf die
Direktoren, die Angestellten, die Beamten verlassen.
Diese stehen jedoch vor einem anderen, vor dem entgegengesetzten Problem:
Sie sind seit vielen Jahren da – zehn Jahre, 15 Jahre, keine Anreize mehr,
keine Beförderung, kein Bonus, keine Belohnung. Sie können nicht viel weiter
aufsteigen, sie können nicht absteigen, sie können nicht entlassen werden. Sie
haben also sehr wenig Anreiz für Effizienz und Produktivität. Aber auch das
hat in der Vergangenheit gut funktioniert, denn die Veränderungen der externen
Variablen waren nicht so häufig und so intensiv wie heute.
Wenn ich mir also anschaue, wie die Regierung vor 10, 15, 20 Jahren
arbeitete: Ein Politiker blieb lange dort, der Beamte wußte auch ohne allzu
viel Anreiz zumindest genug, er gab es an die Politiker weiter, diese hatten
Zeit, es zu lernen, und das System funktionierte ziemlich gut.
Aber die Geschwindigkeit, mit der sich heutzutage die externen Variablen
verändern, erlaubt es den Menschen nicht, innerhalb des Zeitrahmens ihrer
Routine schnell genug zu lernen. Und dies führt zu einem sehr ernsten Mangel
an Kompetenz sowohl bei den Politikern als auch bei den Beamten. Und natürlich
haben die Politiker in ihrem politischen Entscheidungsprozeß nichts, an das
sie sich halten können, sie haben keine Daten, keine Analysen, auf deren
Grundlage sie Entscheidungen treffen können, und deshalb sind wir in eine Welt
eingetreten, die ich als eine Welt der Randomisierung im politischen
Entscheidungsprozeß bezeichnen würde.
Die Frage, die wir uns gestellt haben, lautet also: Sollten die Politiker
Experten sein? Und wie ziehen wir die Grenze dazu, daß sie das Volk vertreten
sollten – egal welchen Hintergrund sie haben, sie mögen gut oder gar nicht
gebildet sein, aber solange sie gewählt werden, sollten sie Minister sein? Wie
kommen wir zu einer Lösung für dieses Dilemma, angesichts der Tatsache, daß
wir Experten brauchen, wir sie aber in der notwendigen Politiker- oder
Beamtenschicht nicht haben – und ich spreche hier ganz allgemein. Natürlich
gibt es auf beiden Ebenen auch sehr gute Leute, aber im allgemeinen ist dies
das Problem, das wir erleben.
Nun, wenn man nicht genug weiß, stützt man seine Entscheidung auf Gefühle,
auf alte Geschichten, die einem erzählt wurden und über die man gelesen hat,
als man noch Zeit hatte, es zu verarbeiten und darüber nachzudenken. Und so
neigt man dazu, nicht nur Entscheidungen, sondern auch Aussagen zu machen, die
nichts mit der Realität zu tun haben.
Das Verhältnis zu China
Und nun komme ich auf das Beispiel einer wachsenden Stimmung gegen China,
die wir sogar in der italienischen öffentlichen Debatte in Europa und in der
öffentlichen Debatte im Westen sehen. Dafür gibt es viele Gründe, auf die ich
nicht näher eingehen möchte, weil sie gut bekannt sind.
Der eine Grund, auf den ich Sie nur aufmerksam machen möchte, ist dieses
Mißverhältnis zwischen Wissen und Zeit zum Lernen, das es den Menschen nicht
erlaubt, genug zu erfahren. Und das war in gewisser Weise auch eines der
Hauptziele, warum ich so sehr darauf gedrängt habe, daß Italien dem MOU [der
Absichtserklärung] über Belt & Road beitritt. Denn ungeachtet des
wirtschaftlichen Nutzens durch die Beteiligung an diesem Infrastrukturprojekt
ist es uns zumindest gelungen, daß die italienische Öffentlichkeit über China
in einem Ausmaß diskutiert, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. In den
letzten zwölf Monaten haben die Medien und die Politiker China wieder in den
Mittelpunkt ihrer Diskussionen gerückt.
Nun, 90% von dem, was ich dabei höre, ist völlig falsch, aber man muß einen
Schritt nach dem anderen tun. Zumindest diskutieren wir über China, wir
diskutieren über Gürtel und Straße, wir diskutieren über die Auswirkungen
dieser globalen Veränderungen, über künstliche Intelligenz, über
technologische Entwicklung, über den Klimawandel. Glauben Sie mir, die
Menschen waren auch früher darüber empört, sogar auf Regierungsebene, aber man
ist damit nicht seiner wahren Natur gemäß umgegangen.
Diese Stimmung gegen China, die ich sehe, beunruhigt mich also einerseits,
weil ich sehe, wie sie zunimmt, und jeder schreibt darüber, was andere vorher
gesagt haben, ohne viel darüber nachzudenken. Auf der anderen Seite bin ich
optimistisch, denn weil es auf mangelndem Wissen beruht, hoffe ich, daß
mit zunehmendem Wissen, wenn die Menschen Zeit haben, zu lernen, zu studieren
und vielleicht an Veranstaltungen wie der heutigen teilzunehmen, sie veranlaßt
werden, ihre Kritik zurückzunehmen und sich wenigstens eine Meinung zu bilden,
die auf Fakten und Analysen beruht. Und genau das versuchten wir auf
westlicher, italienischer und EU-Ebene an den Diskussionstisch zu bringen:
Analyse, Fakten, Daten, nicht nur Konzepte, die auf alten Geschichten
basieren, die natürlich falsch sind.
Nun möchte ich das Beispiel des Virus bringen: Man hört vom „schwarzen
Schwan“. Ich vergleiche das eher mit dem „grauen Elefanten im Wohnzimmer“, wie
die Engländer sagen: ein riesiges Tier, unübersehbar, dennoch die Menschen
ignorieren es. Entweder tun sie so, als ob sie es nicht sähen, oder sie sind
unfähig, es zu erkennen, aber es ist ein Ereignis, das da war. Und genau das
ist in Italien wirklich passiert. Als wir gegen Ende Januar zum ersten Mal von
der Situation in Wuhan erfuhren, hatten wir in Italien noch jede Menge Zeit,
um zu planen – die Ausgangsbeschränkungen, die wirtschaftlichen Maßnahmen, die
finanziellen Maßnahmen, und wie wir über all das mit der Europäischen Union,
der EZB, der Europäischen Kommission diskutieren könnten. Aber heute, Ende
April, drei Monate später, diskutieren wir immer noch darüber, was zu tun ist,
welche Maßnahmen zu ergreifen sind, ob wir die App für die Ermittlung von
Kontaktpersonen verwenden sollen oder nicht – drei Monate später! Und während
das Ganze im November und Dezember vielleicht für China ein „schwarzer Schwan“
war, weil man dort mit so etwas vielleicht nicht gerechnet hat, war es für uns
in Europa ein „grauer Elefant“. Wir hatten sogar das Glück, in die Zukunft
sehen zu können, wir mußten uns nur anschauen, was in China oder in Korea
geschieht!
Aber das taten wir nicht. Der große graue Elefant sitzt da, doch die
Menschen wenden ihren Kopf ab und wollen ihn nicht sehen. Und warum? Wegen
dieser tief verwurzelten Vorstellung, die ich bei vielen meiner Kollegen
erlebe, die auf die Idee hinausläuft: „Was immer China tut, ist falsch. Es
gibt absolut nichts, was wir von China lernen könnten. Wenn wir Vergleiche
anstellen, sollten wir China erst gar nicht einbeziehen – geschweige denn
solche Fragen stellen.“
Und dies ist wirklich eines der schwerwiegendsten Probleme, mit denen wir
in unserer Gesellschaft konfrontiert sind. Denn das vermischt sich mit dem
psychologischen Problem, einzugestehen, daß das Problem, das wir hier in
unseren Ländern haben, hauptsächlich auf unsere eigenen Fehler zurückzuführen
ist. Stattdessen müssen wir wie beim Geschichtenerzählen externe Ursachen
finden, wir müssen ein Monster erschaffen, das nicht wir sind, sondern jemand
anderes, damit wir es bekämpfen können, wir können ihm die Schuld zuweisen,
wir können es bekämpfen, und dann können wir der Held sein, der das Problem
löst.
Natürlich ist so etwas nur Einbildung, und es löst die Situation nicht. Es
mag eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung schaffen, denn die Menschen
werden der Geschichte glauben. Eine große Mehrheit der Menschen wäre geneigt,
der Geschichte vom Monster und vom Helden Glauben zu schenken, und das
verstärkt den Konsens der Politiker, es verstärkt das Mißverständnis in der
Bevölkerung und nimmt unseren Ländern den letzten Rest der Möglichkeit,
tatsächlich auf die wahre Ursache des Problems zu reagieren. Es ist also fast
so, als würden wir in einem Roman leben, in dem die Illusionen platzen.
Kein Wettstreit der Modelle
Das ist es, was wir in diesen wenigen Monaten gesehen haben. Wenn ich noch
einmal unsere westlichen Werte mit den chinesischen Werten vergleiche, dann
ist das, was es uns wirklich – vielleicht manchmal objektiv – schwer macht, es
zu akzeptieren, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der bekanntlich das
Individuum an erster Stelle steht, wo der Traum ein individueller Traum ist.
Der „amerikanische Traum“ ist ein individueller Traum, es ist der Traum eines
Menschen. In China ist es ein kollektiver Traum, es ist der Traum der
Gesellschaft für das Land als Ganzes. Und ja, es gibt natürlich ein Element
des Individuums, und die Menschen machen sich das natürlich zunutze, aber der
allgemeine Trend, der große Unterschied, den ich festgestellt habe, ist der
zwischen dem kollektiven und dem individuellen Traum.
Es fällt uns also nicht nur schwer, zu akzeptieren, etwas von diesem Modell
zu lernen, das sich von unserem so sehr unterscheidet, wir fürchten, daß
dieses Modell uns, etwa in Europa, erobern könnte. Aber tatsächlich findet man
kaum Anzeichen dafür, daß China sein soziales, wirtschaftliches und
politisches Modell wirklich nach Europa exportieren will. Denn natürlich
wissen sie, daß das niemals funktionieren würde.
Aber es bringt uns in eine Krise, denn wir fragen uns jetzt, ob der
Freihandel funktioniert oder nicht. Funktioniert das Gelddrucken oder
funktioniert es nicht? Funktioniert die Europäische Union oder funktioniert
sie nicht? Bisher habe ich zum Beispiel gesehen, daß die Europäische Union gut
darin ist, Probleme zu lösen, die überhaupt erst durch die Existenz der
Europäischen Union entstanden sind. Es handelt sich also um eine Meta-Lösung
für ein Problem. Es gibt keinen offensichtlichen marginalen Nutzen, vielleicht
sogar einschließlich des Vorgehens von Mario Draghi während der Euro-Krise.
Ja, er hat die Krise gestoppt, aber es gab die Krise nur, weil wir eine
gemeinsame Währung hatten. Andere Länder mit eigenen Währungen brauchten keine
Lösung der Europäischen Union, sie haben sie mit ihren eigenen Mitteln gelöst,
und fast alle haben es relativ gut gemacht.
Was uns also wirklich in Europa am meisten „auf die Nerven geht“, wenn ich
so sagen darf, ist dieser weltanschauliche Konflikt um das „Modell“ –
„Demokratie“ oder nicht, Kollektiv contra Individuum. Daß wir vielleicht
anfangen zu begreifen, daß es dem durchschnittlichen Chinesen ziemlich egal
ist, was für ein Gesellschaftsmodell wir ihm verkaufen wollen. Ich habe
gesehen – natürlich mit ein paar Ausnahmen –, daß die Chinesen im allgemeinen
glücklich sind. Sie legen Wert auf andere Werte. Sie legen Wert auf andere
Dinge, nicht auf die Dinge, die wir tun.
Und das war und ist wirklich mein persönliches Bestreben, als ich in der
Regierung war und jetzt, da ich wieder in der akademischen Welt bin: zu
versuchen, unseren Leuten zu sagen, daß nicht jeder unsere Werte vollständig
teilt. Bestimmte Werte mögen universell sein, ja, aber sie dringen in
unterschiedlichem Maße durch verschiedene Schichten bis zum einzelnen
durch.
Ich schließe mit einer Wiederholung dessen, was Helga vorhin gesagt hat:
Wir brauchen wahrscheinlich eine Renaissance. Wir müssen 400, 500, 600 Jahre
zurückblicken, und von da aus kann unsere europäische Gesellschaft wirklich
wieder auferstehen. Das ist etwas, wofür ich mich seit einigen Jahren
einsetze, und ich freue mich sehr, es heute wieder zu hören. Das ist eine
kulturelle Herausforderung, aber es ist auch ein Kulturgut, das wir haben und
das wir nutzen müssen. Und es ist auch eine der möglichen Antworten auf die
Herausforderungen der künstlichen Intelligenz, die viele Arbeitsplätze in
vielen Bereichen vernichten könnte; aber vielleicht fällt es ihr schwer, diese
soft skills, die Künste und die Kreativität zu übernehmen.
Gürtel und Straße können hoffentlich dazu beitragen, zwei Welten einander
näher zu bringen und das gegenseitige Wissen und Verständnis zu mehren. Und
wenn das Wissen zunimmt, nimmt das subjektiv wahrgenommene Risiko ab; und dann
sind die Menschen, ähnlich wie bei der Geldanlage, eher bereit, Schritte zu
unternehmen, sich einander anzunähern und vielleicht mehr Geschäfte
miteinander zu machen, mehr Austausch zu betreiben, und sie würden mehr auf
die Chancen anstatt auf die Gefahren schauen.
Damit möchte ich es belassen und stehe bereit für Fragen und Antworten. Ich
danke Ihnen vielmals.
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