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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Dem Westen helfen China zu verstehen

Von Michele Geraci

Michele Geraci war Unterstaatssekretär für wirtschaftliche Entwicklung in der italienischen Regierung. Er hielt im Rahmen der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 6. September den folgenden Vortrag.

Schön, Sie zu sehen; vielen Dank...

Der erste Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist ein kleines Update zur Situation zwischen Italien und China nach der Unterzeichnung des MoU [Memorandum of Understanding] im vergangenen Jahr. Ganz objektiv gesehen, müssen wir erkennen, daß angesichts all der Probleme für die Welt, von denen wir bis vor wenigen Minuten gehört haben, einschließlich der Pandemie und der Unmöglichkeit zu reisen, die Fortschritte relativ langsam waren. Auch die politische Situation ist aufgeladen; der Aufstieg Chinas wird, wie wir alle wissen, in Europa eher als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen. Das Gefühl, das ich in meinem Land habe, ist, daß die Regierung und die öffentliche Meinung sich ein bißchen mehr auf die konservative Seite der Gleichung verlagern. Deshalb konzentriert man sich mehr auf die Bedrohung, was Geschäfte verhindert; man zieht sich zurück, anstatt sich auf die Chancen zu freuen.

Ich denke, das ist kein guter Fortschritt, aber in gewisser Weise müssen wir das entschuldigen, weil es die Pandemie gibt. Wir schreiben das ganze Jahr ab, zum Beispiel den 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und China; oder das Jahr der Kultur und des Tourismus, das eigentlich 2020 sein sollte, das haben wir alle auf das nächste Jahr verschoben. Es gibt also wie immer eine Krise und eine Chance. Es hat sich wenig getan, aber dank der Abriegelung mit der Unmöglichkeit, etwas zu tun, haben wir gewissermaßen eine Ausrede und können sagen, wir haben keine Zeit verschwendet, wir hätten es unter den Umständen nicht besser machen können.

Die Herausforderung besteht nun darin, daß wir die Chance nicht vertun, wenn sich die Welt wieder in gewissem Maße öffnet.

Dies ist also das erste, was ich erwähnen möchte. Ich möchte aber Ihnen allen, dem Publikum und Helga mitgeben, daß jeder einen potentiellen Hebel für praktische Dinge hat, die getan werden müssen.

Der zweite Punkt betrifft den Umfang der Infrastruktur: Die Karte, die wir vorhin gesehen haben, mit den Brücken und Tunneln rund um die Welt, das ist meiner Ansicht nach tatsächlich eine Erweiterung dessen, was China in seiner eigenen Wirtschaft getan hat. Ich hatte das Glück, zehn Jahre lang in China zu leben, und ich habe den Wandel einer ganzen Gesellschaft miterlebt, der sich hauptsächlich auf mehrere Säulen stützt. Eine davon ist die Steuerung des Wechselkurses, des Handels und der Zinssätze – sagen wir also der finanzielle Teil, der von der Regierung verwaltet wird. Und die andere ist die große Investition in die Migration vom Land in die Stadt, die zur Entwicklung von Verkehr und Infrastruktur geführt hat. Eine der wichtigsten Säulen des erfolgreichen Entwicklungsmodells Chinas in den letzten 40 Jahren war also die Infrastruktur.

Ich bin ein großer Befürworter der Ausdehnung dieses Modells über die Grenzen hinaus, und damit natürlich auch von Gürtel und Straße, nach Zentralasien, in Südostasien, in Afrika. Und vielleicht können wir über den Sinn der Initiative, die China per se vorantreibt, hinausgehen und die Welt als einen Ort betrachten, der vernetzt werden muß.

Alles, was wir gesagt haben, deckt sich sehr gut mit der Initiative der einzelnen Mitgliedsstaaten; jeder möchte Infrastruktur aufbauen. Das stimmt sehr gut überein – und das ist ein wichtiger Punkt für die Europäische Union. Die Europäische Union fängt endlich an, etwas zu tun – nicht genug, aber immerhin über die praktische Hilfe hinaus, die die Europäische Union in Form von Rettungsfonds, der Ausgabe von Anleihen, leistet. Materiell gesehen ist der Geldbetrag völlig unbedeutend, aber das Narrativ innerhalb der Mitgliedstaaten scheint sich zu ändern, und ein Investitionsschub kommt in Gang. Sogar die öffentliche Meinung sieht, daß die mangelnde Qualität der lokalen Infrastruktur die Regierung zum Handeln zwingt. Wie wir wissen, gehen in unserer liberalen Demokratie die Regierungen nicht immer voran. Manchmal, leider sehr oft, gehen sie hinterher, weil sie natürlich Wahlziele verfolgen müssen. Das bringt die Rolle der Märkte und des Staates ein wenig in die Krise.

Wir diskutieren auch darüber, wo diese Linie sein sollte: Wie viel von diesen neuen Initiativen, wie viel von dieser Zusammenarbeit mit China und anderen Ländern für die Entwicklung Afrikas, für die Entwicklung Asiens soll es geben. Wer soll es tun? Wer sind die Akteure, die Beteiligten? Wo ist die Grenze zwischen der Regierung oder dem Staat und den Märkten?

Es hat den Anschein, daß wir China mit etwas Mißtrauen und gleichzeitig mit etwas Bewunderung betrachten, denn wir wissen, daß in China die Grenze zwischen Staat und Markt dorthin verschoben wird, wo der Staat eine größere Rolle spielt. Unabhängig von den Statistiken und der Privatisierung wissen wir, daß der Staat dort sehr präsent ist. Wir haben die Zahlen gesehen, die Ergebnisse, das BIP, die Armutsbekämpfung wurde bereits erwähnt. Wir betrachten die chinesische Produktion, den schnelleren Wettlauf zwischen China und den Vereinigten Staaten bei Halbleitern, was ein weiteres Thema ist. Wir schauen uns das an und sind besorgt, daß unser marktorientiertes Modell vielleicht neu angepaßt werden muß, natürlich im Rahmen einer liberalen Demokratie. In wirtschaftlicher Hinsicht müssen wir eine andere Mischung finden.

Ein möglicher Weg, den wir in Betracht ziehen, ist eine liberale Demokratie mit einer größeren staatlichen Intervention, aber von besserer Qualität, als wir sie mit den Holdinggesellschaften in ganz Europa in den 70er und 80er Jahren vor der Privatisierung hatten.

Mein letzter Punkt ist in gewisser Weise ein Appell an alle China-Experten. Ich sehe die gleiche Situation, die es 1947 während der großen Mission der Vereinigten Staaten in China gab. Ein Mitglied des US-Kontingents namens Barrett berichtete, daß es einen Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang und den Kommunisten gab, daß die Kommunisten irgendwie die Oberhand bekamen und wahrscheinlich gewinnen würden. Das könnte sogar eine Partei sein, mit der die Vereinigten Staaten über Unterstützung sprechen sollten, weil sie siegreich war. Vielleicht auch in Hinsicht auf die zukünftige Rolle der Kommunistischen Partei in China. Der Bericht ergriff also nicht klar Partei, sondern betrachtete die Kommunisten als einen potentiellen Partner. Das war natürlich erfolglos. Barrett wurde entlassen, er wurde degradiert und seine Beförderung verzögert.

Warum sage ich das? Weil genau das gleiche jetzt passiert. China-Experten werden fälschlicherweise für Leute gehalten, die Propaganda für China betreiben. Das ist genau das, was im Westen geschieht. Leute, die von Chinas Errungenschaften berichten, werden als Stimmen des chinesischen Propagandasystems mißverstanden, und sie werden entlassen. Das ist ein großes Problem, das wir haben. Denn wir wollen sicherstellen, daß die politischen Entscheidungsträger diesmal nicht den gleichen Fehler machen wie 1947, sondern daß sie zuhören. Denn Experten sind dazu da, zu sagen, was real passiert.

Wenn ich mit Mitgliedern der italienischen Regierung spreche, sagen mir meine derzeitigen Mitglieder der italienischen Regierung immer: Erinnern Sie sich daran, wie Herr Bill Gates in sein Büro stürmte und sagte: „Steve Jobs hat ein neues Windows-System geschaffen, das besser ist als unseres.“ Er tat das nicht bloß, um die Errungenschaften von Apple zu loben, sondern auch, um seine Belegschaft anzufeuern. Auf die Ebene der Staaten übertragen, geht es nun darum, wie die gesamte Bevölkerung auf diese Veränderung reagiert, sei es nun positiv oder negativ.

Mein zweiter Appell an die Menschen, die sich in diesen Bereichen der Infrastrukturentwicklung engagieren – Eisenbahn, China, Asien –, lautet also, daß wir solchen Stimmen Gehör verschaffen und sie nicht mißverstehen sollten. Wir informieren – in meinem Fall mein Volk, meine Regierung – über das, was geschieht. Und je mehr wir die Erfolge hervorheben, desto mehr sollten die Menschen zuhören.

Aus diesem Grund, und damit schließe ich meine Rede, sollte dieser Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und China sachlich betrachtet werden. Wir alle verstehen, warum das geschieht – es würde selbst dann geschehen, wenn China eine Demokratie wäre. Es ist ein Handelsmachtkampf, eine aufstrebende Wirtschaft, mit der man sich befassen muß. Vielleicht haben wir das in den letzten 20 Jahren, sagen wir, seit 2001, als die Chinesen der WTO beitraten, nicht kommen sehen. Aber Exportbeschränkungen, die die Lieferung von Komponenten nach China einschränken – Halbleitertechnologie und so weiter – bergen natürlich das Risiko, daß China seinen Weg der Entwicklung einheimischer Technologie beschleunigt. Und das würde China noch weniger abhängig von ausländischen Lieferungen machen. Das ist das Knifflige daran. Der Westen mag zwar kurzfristig einigen Gewinn erzielen, aber wenn wir dann den Warenbestand Chinas berücksichtigen, die Geschwindigkeit, mit der China seine Forschung und Entwicklung steigern kann, dann ist die Zeitspanne, in der China keine Lieferungen mehr erhält, vielleicht gar nicht so groß, wenn überhaupt. Und in einem Worst-Case-Szenario könnte sie für China kürzer sein, als wir erwartet haben.

Wir müssen also auch in dieser Hinsicht vorsichtig sein. Und wenn wir sagen, daß China diesen großen Fortschritt im Halbleitergeschäft macht, dann wollen wir China nicht einfach nur loben. Wir warnen nur davor, daß einige Taktiken möglicherweise nicht so effektiv sind.

Ich danke Ihnen vielmals.