UN-Welternährungsprogramm warnt vor „Hungerpandemie“
In 36 Ländern der Welt droht als Folge der Covid-19-Pandemie und
der Heuschreckenplage eine Hungerkatastrophe.
In einer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen warnte der
Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, am 21. April,
daß 36 Länder vor einer Hungersnot stehen: „Millionen Zivilisten, die in von
Konflikten zerrütteten Nationen leben, darunter viele Frauen und Kinder, geraten
an den Rand des Hungertods, das Gespenst einer Hungersnot stellt eine sehr reale
und gefährliche Möglichkeit dar“, sagte Beasley laut TASS in seinem
Bericht an den UN-Sicherheitsrat in einer Online-Sitzung.
Er fuhr fort: „Verzeihen Sie mir, wenn ich so offen spreche, aber ich möchte
Ihnen sehr deutlich darlegen, womit die Welt in diesem Augenblick konfrontiert
ist. Zur gleichen Zeit, in der wir es mit einer COVID-19-Pandemie zu tun haben,
stehen wir auch am Rande einer Hungerpandemie.“
Er bezog sich auf den am 20. April erschienenen, 233 Seiten umfassenden
2020 Global Report on Food Crises1, dem zufolge jeden Tag 821
Millionen Menschen auf der Welt hungrig zu Bett gehen und für weitere 265
Millionen der Hunger kritische Ausmaße erreicht. „135 Millionen Menschen auf der
Erde marschieren auf den Abgrund des Hungertods zu. Doch nun zeigt die Analyse
des Welternährungsprogramms, daß aufgrund des Coronavirus bis Ende 2020
weitere 130 Millionen Menschen an den Rand des Verhungerns gedrängt
werden könnten. Das sind insgesamt 265 Millionen Menschen.“
Der WFP-Direktor betonte: „Die wirtschaftlichen und gesundheitlichen
Auswirkungen von COVID-19 sind für Gemeinden in Ländern in ganz Afrika und im
Nahen Osten äußerst besorgniserregend, da das Virus das Leben und die
Lebensgrundlagen von Menschen, die bereits durch Konflikte gefährdet sind,
weiter zu schädigen droht.“
Für das WFP habe besonders die Hilfe für Kinder Priorität. „1,6 Milliarden
Kinder und Jugendliche... gehen derzeit aufgrund von Schulschließungen nicht zur
Schule. Fast 370 Millionen Kinder verpassen nahrhafte Schulmahlzeiten – man kann
sich leicht vorstellen, daß die Immunität der Kinder sinkt, wenn sie nicht die
nötige Ernährung erhalten. Wo nahrhafte Schulmahlzeiten aufgrund von
Schulschließungen ausgesetzt wurden, arbeiten wir daran, sie wo immer möglich
durch Rationen zum Mitnehmen zu ersetzen.“ Aber es müsse mehr getan werden.
„Zuallererst brauchen wir Frieden. Wie der Generalsekretär kürzlich sehr
deutlich sagte, ist ein globaler Waffenstillstand unerläßlich.“
Noch gebe es keine Hungersnöte, sagte Beasley. „Aber ich muß Sie warnen, wenn
wir uns jetzt nicht vorbereiten und handeln..., dann könnten wir in wenigen
Monaten mit mehreren Hungersnöten biblischen Ausmaßes konfrontiert sein… Die
Maßnahmen, die wir ergreifen, werden über unseren Erfolg oder Mißerfolg beim
Aufbau nachhaltiger Ernährungssysteme als Grundlage für stabile und friedliche
Gesellschaften entscheiden. Die Wahrheit ist, daß die Zeit nicht auf unserer
Seite ist, also lassen Sie uns klug handeln – und lassen Sie uns schnell
handeln.“
Neuer Heuschreckenbefall könnte 400-mal größer sein als der vorherige
Nicht nur das Coronavirus bedroht die Ernährungslage, hinzu kommt auch die
Bedrohung der Nahrungsmittelversorgung durch Heuschreckenschwärme. Die
Heuschrecken schwärmen in Afrika und Teilen Asiens in einem Ausmaß, das noch
weitaus größer sein könnte, als bisher angenommen wurde. Wenn nicht sofort
international Maßnahmen ergriffen werden, werden Hunderte von Millionen von
Menschen nur sehr wenig oder nichts zu essen haben.
Die Wirtschaftspublikation Quartz veröffentlichte am 15. April einen
Artikel mit dem Titel „Zwei neue Generationen von Heuschrecken werden wieder auf
Ostafrika niedergehen – 400 Mal stärker“. Darin heißt es:
„Diese Wüstenheuschreckenplage erreichte im Juni letzten Jahres erstmals
Ostafrika, wo sie sich von Hunderttausenden Hektar Ernte- und Weideland
ernährten und eine Schneise der Zerstörung durch mindestens acht Länder (Kenia,
Uganda, Südsudan, Äthiopien, Somalia, Eritrea, Dschibuti und Sudan) schlugen.
Wissenschaftler sagen, daß diese verheerenden Insekten Ostafrika nie verlassen
haben: Günstige, feuchte Bedingungen aufgrund der überdurchschnittlichen
Regenfälle in dieser Jahreszeit bedeuten sogar, daß sie wahrscheinlich bis Juni
dieses Jahres zwei Generationen neuer Brut hervorbringen und ihre Population bis
zu 400 Mal vergrößern werden.“
Die Brutgebiete dieser Plage befinden sich im Norden Kenias, in Somalia und
im Südsudan. Wissenschaftler erklären, daß jede neue Heuschreckengeneration bis
zu 20 Mal zahlreicher sein kann als die vorherige, wenn die Bedingungen günstig
sind, wie etwa in der Regenzeit.
Die Bevölkerung der acht genannten afrikanischen Länder plus Tansania, wo
sich die Heuschrecken ausgebreitet haben, beträgt 323 Millionen Menschen. Die
FAO erklärt: „In einem Schwarm von 1 km2 Größe leben etwa 40
Millionen Heuschrecken, die an einem Tag die gleiche Menge an Nahrung aufnehmen
wie etwa 35.000 Menschen, wenn man davon ausgeht, daß eine Person laut
US-Landwirtschaftsministeriums durchschnittlich 2,3 kg Nahrung am Tag zu sich
nimmt. Ein Schwarm von der Größe von Niamey (Niger) oder Bamako (Mali) frißt an
einem Tag die gleiche Menge an Nahrung wie die halbe Bevölkerung des jeweiligen
Landes. Ein Schwarm von der Größe von Paris frißt an einem Tag die gleiche Menge
an Nahrung wie die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs ... ein Schwarm von der
Größe Roms frißt genausoviel wie alle Menschen in Kenia zu sich nehmen...“
Internetvideos zeigen den traurigen Anblick von Bauern, die mit Stöcken auf
Büsche schlagen, um Heuschrecken zu vertreiben, oder mit Töpfen und Pfannen
schlagen. Sollte die Menschheit im 21. Jahrhundert nicht in der Lage sein, es
mit elektromagnetischen Impulsgeräten und Insektiziden besser zu machen?
Notschlachtungen drohen
Die Lage wird verschärft durch die Folgen der Covid-19-Pandemie für die
Lebensmittelbranche, beispielsweise die fleischverarbeitende Industrie. Die
Gouverneurin des US-Staats Iowa, Kim Reynolds, warnte Mitte April, angesichts
der niedrigen Preise und des Ausfalls von Anlagen zur Schlachtung und
Verarbeitung der Schweine stünden die Schweinezüchter in ihrem Bundesstaat kurz
vor der „Euthanasie“ der Schweine. Auf Iowa entfallen bis zu 30% der
Schweinefleischerzeugung in den Vereinigten Staaten.
Über die gesamte Kette der Schweinefleischproduktion – von den
Abferkelställen über die Ferkelaufzucht und Schweinehaltung bis hin zum
Marktgewicht – haben die Landwirte einen massiven Überschuß an Tieren, mit denen
sie nicht wissen, wohin. Nicht selten hat jetzt beispielsweise ein Landwirt 2000
Schweine in einem Betrieb, der nur für 1000 Tiere gedacht ist und von denen er
keines verkaufen kann.
Diese Situation ist auf die Ausbreitung von Covid-19 im US-Farmgürtel
zurückzuführen, was die Arbeitskräfte in den Fleischverpackungsbetrieben, die
für ihre schlechten Bedingungen berüchtigt sind, schwer getroffen hat. In den
letzten Jahrzehnten wurde der gesamte Fleischsektor abgebaut bis auf einige
wenige Mega-Verarbeitungsbetriebe, die sich im Besitz eines Kartells von 6-7
Unternehmen befinden.
Am 22. April wurde der Schweineschlachtbetrieb der Firma Tyson in
Waterloo/Iowa geschlossen. Mit 2800 Arbeitern ist er der größte aller
Tyson-Betriebe, das Unternehmen gehört zu den fünf größten fleischverarbeitenden
Unternehmen in Amerika. Erst am 20. April war ein großer Rindfleischbetrieb in
Iowa wiedereröffnet worden, nachdem er zwei Wochen lang geschlossen worden war.
Im National-Beef-Betrieb in Tama/Iowa haben 177 von 500 Arbeitern Covid-19.
Andere Bundesstaaten sind in ähnlicher Weise betroffen. In
Worthington/Minnesota wurde am 20. April der Schweineschlachtbetrieb von JBS
(größtes fleischverarbeitendes Unternehmen der Welt, Zentrale in Brasilien) auf
unbestimmte Zeit stillgelegt, nachdem in der Belegschaft Covid-19-Fälle
festgestellt worden waren. Gewöhnlich schlachten dort 2000 Arbeiter täglich
20.000 Schweine. In Indiana schloß Tyson kürzlich aus Gründen der Virushygiene
sein Schlachthaus in Logansport mit 2000 Beschäftigten. (Der Betrieb mußte
bereits im März kurzzeitig stillgelegt werden, weil es einen Schabenbefall gab.)
In Kansas ließ Gouverneurin Laura Kelly Beamte persönliche Schutzausrüstung
in Landkreise im Südwesten bringen, wo sich riesige Rinderschlachtbetriebe
(Cargill, National Beef/Marfrig und andere) befinden, um Betriebsschließungen
und den Rückstau der Viehzuchtkette zu verhindern. Ungefähr 25% des
US-Rindfleischs wird in Kansas verarbeitet, die Tiere werden von Viehzüchtern
aus den benachbarten Staaten Oklahoma, Colorado, Texas und Nebraska geliefert.
In South Dakota behauptet Gouverneurin Kristi Noem noch, sie könne die Situation
in den Griff bekommen. Andere Gouverneure bemühen sich um Hilfsmaßnahmen.
Viele Viehzuchtbetriebe sehen jetzt nur noch den Ausweg von Massentötungen,
und Milchbauern schütten Milch weg. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man
Tiere einschläfert, Milch wegschüttet oder Ernten unterpflügt, wenn die
Regierung einen Ausweg für eine Erholung in Aussicht stellt, oder ob man es nur
aus Verzweiflung tut. Als in den 1930er Jahren Preise und Angebot aus dem
Gleichgewicht gerieten, wurden Baumwolle vernichtet und Ferkel getötet, aber
Präsident Franklin Roosevelt und Landwirtschaftsminister Henry Wallace steuerten
einen sichtbaren Kurs der Hoffnung und für Preisparität. Heute ist dringend ein
neues Paradigma erforderlich, um mit Notmaßnahmen einzugreifen und ein völlig
neues Wirtschaftssystem zu schaffen.
Anmerkung
1. https://www.wfp.org/publications/2020-global-report-food-crises
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