Die Grundlagen der philosophischen Beziehungen zwischen Ost und West
Von Dr. Jin Zhongxia
Dr. Jin Zhongxia, Exekutivdirektor des Weltwährungsfonds für
China in Washington, hielt bei der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am
27. Juni den folgenden Vortrag. Die Zwischenüberschriften wurden von der
Redaktion hinzugefügt.
2020 ist ein Jahr mit ganz besonderen Herausforderungen: der Handelskrieg
gegen China, der Ausbruch und die Ausbreitung des Coronavirus, die Unruhen in
den USA, die Weltwirtschaftsrezession und eskalierende geopolitische
Spannungen – ich nenne nur einige der wichtigsten. Der IWF prognostiziert für
dieses Jahr ein globales Wachstum von minus 4,9 Prozent.
Einige meiner Bemerkungen und Kommentare in den folgenden Ausführungen sind
Überlegungen in der Forschung und haben einen akademischen Charakter; ich
spreche hier nur für mich selbst.
Den globalen Herausforderungen sollte auch global durch einen
multilateralen Ansatz begegnet werden. Einige Leute sprechen von einer
wirtschaftlichen Abkopplung, einem Kalten Krieg und sogar einem Kampf der
Kulturen. Und da ich aus China komme, frage ich mich: Gibt es einen
fundamentalen Konflikt zwischen den Zivilisationen im Osten und im Westen?
Parallelen zwischen China und dem Westen
Die chinesische Zivilisation ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, sie
unterscheidet sich aber nicht grundlegend von der westlichen Zivilisation. Im
6. Jahrhundert v. Chr. findet sich das chinesische Taiji- oder
Yin-Yang-Konzept, das ist die Koevolution zweier gegensätzlicher Kräfte. Ich
stellte überrascht fest, daß dies zur gleichen Zeit auch ein Kernbegriff der
physiologischen Theorie in der griechischen Medizin war. Ein weiteres
Beispiel: Ein Kernbegriff des Konfuzianismus ist der „Mittelweg-Ansatz“, der
auch der „Lehre vom [goldenen] Mittelweg“ entspricht, die von Hippokrates,
Platon und Aristoteles im antiken Griechenland ausgiebig erforscht wurde.
Im 16. Jahrhundert erkannte der brillante Jesuitenmissionar Matteo Ricci
bei Konfuzius und Menzius die auffälligen Parallelen zum christlichen Konzept
des Menschen nach dem Bilde Gottes und widmete sein Leben dem Aufbau einer
ökumenischen Allianz zwischen China und dem Westen.
Im Zuge der zunehmenden Handelsspannungen zwischen den Vereinigten Staaten
und China verteufeln einige Medien in den USA China als einen böswilligen
Handelspartner, der systematisch illegal subventioniert, betrügt und stiehlt.
Das erinnert mich an die überwältigende Stimmungsmache der Medien in
Nazi-Deutschland gegen jüdische Menschen vor dem Zweiten Weltkrieg. Die
Wahrheit ist, daß sich China nach mehr als 40 Jahren marktorientierter
Reformen und Öffnung bereits in eine Marktwirtschaft verwandelt hat, mit
einigen verbleibenden Merkmalen einer Übergangswirtschaft. Tatsächlich ist der
BIP-Anteil der staatlichen Mittel, die einige europäische Regierungen
einsetzen, aufgrund ihrer umfassenden Sozialleistungen größer als in China,
aber niemand in Europa beschwert sich, daß diese Sozialleistungen den Markt
verzerren.
Tatsächlich haben die Chinesen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis
eine tiefsitzende Tradition der Marktwirtschaft. Im 6. Jh. v. Chr. riet Laozi
[Laotse], ein berühmter Philosoph und Begründer des Taoismus, den Machthabern,
ohne Eingreifen zu regieren, was eine alte Version der „unsichtbaren Hand“
oder Laissez-Faire ist. Laozis Laissez-Faire-Philosophie hat sich von einer
Generation zur nächsten in den Köpfen der Chinesen eingewurzelt.
Ein anderer berühmter Ökonom und Philosoph, Guanzi, schlug im 7. Jh. v.
Chr. vor, daß die Regierung in den Jahren der wirtschaftlichen Depression die
Ausgaben erhöhen könnte, um scheinbar verschwenderische Projekte zur Schaffung
von Arbeitsplätzen umzusetzen. Das ist die alte chinesische Version der
keynesianischen Wirtschaft. Auch in finanzieller Hinsicht war China hoch
entwickelt, bereits im 11. Jahrhundert führte es die erste offizielle
Papierwährung der Welt ein.
Chinas heutige Rolle
Zur Frage der wirtschaftlichen und technologischen Entkopplung: Der
Versuch, einem bedeutenden Volk und einer bedeutenden Zivilisation den fairen
Wettbewerb mit anderen Ländern und den Zugang zu neuen wissenschaftlichen und
technologischen Erkenntnissen zu verwehren, ist moralisch falsch und wird
China helfen, weltweit Sympathien zu gewinnen.
Andererseits verfügt China über das größte Reservoir an ausgebildeten
Arbeitskräften, darunter Ingenieure, Rechtsanwälte, Finanzanalysten,
Buchhalter und Forscher, die das Land in die Lage versetzen werden,
innovativer, professioneller, praktischer und rationeller zu sein.
Im Vergleich zu anderen, länderübergreifenden Freihandelszonen ist China
schon allein der größte Einzelhandelsmarkt eines einzelnen Landes oder eine
riesige Freihandelszone mit einem landesweiten, hoch integrierten
Infrastrukturnetz, einer zentralisierten Steuer- und Währungspolitik und einem
breiten und liquiden Arbeits- und Kapitalmarkt geworden. Zudem haben die
Behörden beschlossen, ihren Markt noch weiter zu öffnen, den Schutz des
geistigen Eigentums erheblich zu verbessern und Strukturreformen
durchzuführen, einschließlich der Einführung der Wettbewerbsneutralität für
staatliche Unternehmen. Letztendlich ist es die Effektivität und Effizienz der
inländischen Ressourcenallokation Chinas, die über die internationale
Wettbewerbsfähigkeit des Landes entscheiden wird.
Ich bin kein Experte für Geopolitik. Aber ich habe gelernt, daß das
Szenario, das mit der Entkopplung und einem neuen Kalten Krieg verbunden ist,
auf einer alten Strategie des „Teile und herrsche“ oder des
„Offshore-Gleichgewichts“ beruht. Es ist aus der Perspektive der
Offshore-Akteure sehr klug und wird dem Offshore-Manipulator auf Kosten der
Onshore-Nachbarn zugute kommen. Ich frage mich jedoch, ob die ebenso klugen
Onshore-Spieler darauf hereinfallen werden und welchen Preis der
Offshore-Player zu zahlen bereit ist, um so viele andere Länder zu überzeugen,
sich in einen langen Konflikt mit ihrem wichtigsten Handelspartner zu
stürzen.
Objektiv betrachtet darf man den Konflikt Chinas mit Indien an der Grenze
nicht überbewerten. Es ist wichtig zu erkennen, daß die gegenwärtige Grenze
ein weitgehend stabiles Gleichgewicht darstellt. Das gemeinsame Interesse
dieser beiden alten Zivilisationen besteht darin, zusammenzuarbeiten und ihre
Wirtschaft zu entwickeln und eine gemeinsame historische Erneuerung zu
erreichen. Die beiden Länder sollten von ihrem gemeinsamen kulturellen Erbe
profitieren, das auf einem jahrhundertelangen friedlichen und
freundschaftlichen Kulturaustausch beruht, insbesondere auf dem Austausch in
Form des Buddhismus.
Der Geschichtsstreit zwischen China und Japan erscheint oft sehr
festgefahren, aber das Wesentliche ist, in die Zukunft zu schauen. China ist
zunehmend selbstbewußter geworden, und es ist sehr klar, daß Chinas
Wiederaufstieg keine Rache bedeutet. Wenn Chinesen die Geschichte des
chinesisch-japanischen Krieges lesen, empfinden sie großen Schmerz und Zorn.
Aber wenn die neuen Generationen Japan als Touristen besuchen, haben die
meisten von ihnen das Gefühl, daß sie Japan und die Japaner mögen. Japan ist
Chinas einziges Nachbarland, das viele chinesische Schriftzeichen in seiner
Schriftsprache bewahrt hat, und sie teilen auch die gleiche Tradition bei der
Verwendung von Eßstäbchen und dem Verzehr von Reis und Sojasauce, die das
typische Symbol der ostasiatischen Kultur ist.
Eine gesunde und stabile chinesisch-russische Beziehung kann viel
nachhaltiger sein, als es sich viele Menschen vorstellen. Dies ist weitgehend
auf die Weisheit der Staatsführer der beiden Länder im letzten Jahrhundert
zurückzuführen, ihre gemeinsame Grenze festzulegen. Mit gegenseitigem Respekt
und Unterstützung der Kerninteressen des jeweils anderen können sie viel
erreichen.
Der schwerste Verlust, den die Vereinigten Staaten durch eine Abkoppelung
und einen neuen Kalten Krieg erleiden werden, ist der, daß viele der 1,4
Milliarden Chinesen, die Amerika sonst sehr freundlich gesinnt sind, zu
Gegnern der Amerikaner werden könnten. Im Gegensatz dazu wird ein freundliches
und kooperatives China mit Sicherheit das größte Glück der Amerikaner in Asien
sein.
Konstruktiver Wettbewerb und Kooperation
Meiner Überzeugung nach wäre konstruktiver Wettbewerb und Kooperation
zwischen China, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern im Rahmen eines
regelbasierten multilateralen Systems die richtige Wahl. Glücklicherweise
funktioniert der Weltwährungsfonds (IWF) noch immer normal und spielt eine
konstruktive Führungsrolle, die auch von der Weltbank und anderen
multilateralen Entwicklungsbanken (MDBs) unterstützt wird.
Innerhalb weniger Monate hat der IWF mehr als 27 Ländern einen
Schuldenerlaß gewährt, der durch Beiträge einer Gruppe besser ausgestatteter
Mitglieder, darunter auch China, gefördert wird. Der Fonds hat seine
Kreditvergabe an Länder mit geringen Einkommen um mehr als 10 Mrd. SZR
(Sonderziehungsrechte) aufgestockt und durch RCF (Rapid Credit Facility,
Sofortfinanzierungsfazilität) und RFI (Rapid Financing Instrument,
Schnellfinanzierungsinstrument) Soforthilfen in Höhe von 47 Mrd. SZR für mehr
als 74 Länder genehmigt. Er hat eine neue kurzfristige Liquiditätslinie (SLL)
geschaffen, drängt auf die Genehmigung neuer Kreditlinien in Höhe von 365 Mrd.
SZR und bereitet eine neue Runde bilateraler Kreditvereinbarungen in Höhe von
138 Mrd. SZR vor. China beteiligt sich aktiv an allen diesen Bemühungen und
leistet seinen eigenen Beitrag.
Der Fonds und die Weltbank schlugen gemeinsam eine Initiative zur
Aussetzung der Schuldendienste (Debt Service Suspension Initiative, DSSI) vor,
und dies wurde von der G20 gebilligt. China hat ferner eine Verlängerung
dieser Initiative bis 2021 gefordert. Eine faire Verteilung der Belastungen
und volle Beteiligung aller Gläubiger ist entscheidend für eine erfolgreiche
Umsetzung dieser Initiative.
China unternimmt noch weitere Bemühungen außerhalb des multilateralen
Rahmens, darunter:
1. 2 Mrd.$ an Beihilfen für die am stärksten betroffenen Länder,
insbesondere Entwicklungsländer, um COVID-19 zu bekämpfen und die soziale und
wirtschaftliche Entwicklung wiederherzustellen;
2. Schaffung einer Kooperation zwischen chinesischen und afrikanischen
Krankenhäusern, was 30 Krankenhäuser in Afrika betrifft. China hat fünf
professionelle medizinische Notfallteams nach Afrika entsandt, zusätzlich zu
den 46 bereits bestehenden chinesischen medizinischen Teams in Afrika;
3. neben der Umsetzung der Schuldenmoratoriums-Initiative der G20 wird
China den am stärksten betroffenen Ländern neben anderen Betroffenen weitere
Hilfen gewähren;
4. China hat zugesagt, daß es, sobald es die Entwicklung und das Testen
seines eigenen Impfstoffs abgeschlossen hat, dieses Produkt den
Entwicklungsländern als ein globales öffentliches Gut zur Verfügung stellen
wird;
5. China wird einen umfassenden Lager- und Transportumschlagsplatz für
globale medizinische Hilfslieferungen unter der Leitung der Vereinten Nationen
einrichten.
Ein Verdienst der multilateralen Hilfe besteht darin, daß sie regelbasiert
ist, vom Vorstand genehmigt wird und die Empfängerländer der multilateralen
Institution gegenüberstehen, anstatt einem bestimmten Land oder einer
bestimmten Ländergruppe, weshalb sie die geopolitische Sensibilität wenn auch
nicht ganz beseitigen, so doch verringern kann. Obwohl es zu vielen
verschiedenen Fragen unterschiedliche Ansichten und sogar bilaterale
Spannungen zwischen einigen Mitgliedsländern gibt, konnten die wichtigsten
Mitglieder des Fonds eine gemeinsame Basis finden.
Die Bretton-Woods-Institutionen könnten meiner Meinung nach noch zwei
weitere Dinge tun:
Erstens eine allgemeine Zuteilung von SZR, die das Angebot an
internationalen Währungsreserven erhöht, die Belastung eines einzelnen Landes
durch Bereitstellen eines übermäßigen Anteils seiner Währungsreserven
verringert und einkommensschwachen Ländern die notwendigen Mittel zur
Linderung ihrer Schuldennot zur Verfügung stellt.
Zweitens sollten die multilateralen Banken ihre Kreditvergabe stark
ausweiten, nicht nur an Entwicklungsländer, sondern auch an Industrieländer,
auch einschließlich der Vereinigten Staaten. So wird das Niedrigzinsumfeld
voll ausgenutzt und die globale Konjunktur stark angeregt und das Wachstum in
den Empfängerländern angekurbelt.
Abschließend wünsche ich uns nach COVID-19 eine kooperativere und
friedlichere Welt. Ich danke Ihnen.
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