Vertrauensbildung ist notwendig für ein neues Abrüstungsabkommen
Von Andrej Kortunow
Andrej Kortunow ist Generaldirektor des russischen Rates für
Internationale Angelegenheiten (RIAC). Er hielt bei der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 5. September den folgenden Vortrag. Die
Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.
Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Zunächst möchte ich sagen, daß ich dem
Schiller-Institut sehr dankbar bin, daß ich die Möglichkeit habe, hier zu sein
und mitzuwirken. Ich bin sicher, daß es eine intellektuell sehr befriedigende
und sehr wichtige Diskussion ist. Natürlich ist das Thema hochaktuell, und die
Zusammensetzung der Redner ist sehr beeindruckend. Und ich möchte meinen
bescheidenen Beitrag zu der anschließenden Diskussion leisten.
Im Titel der Konferenz geht es um die P-5 – warum ein P-5-Gipfeltreffen
jetzt dringend notwendig ist. Lassen Sie mich alle daran erinnern, daß die P-5
vor 75 Jahren entstanden sind, in erster Linie, um die Weltordnung und die
globale Sicherheit aufrechtzuerhalten. Es geht nicht um Entwicklung, es geht
nicht so sehr um öffentliche Gesundheit, es geht nicht um Migrationen. Es geht
um die globale Sicherheit. Vor 75 Jahren gaben die Gründer der Vereinten
Nationen fünf Ländern besondere Rechte, nämlich ein Vetorecht im
Sicherheitsrat, aber auch besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung
der Weltordnung und die Wahrung des Friedens in der Welt.
Nun, wie würden wir die Leistung der P-5-Gruppe heute bewerten? Ich würde
sagen, daß sie meiner bescheidenen Meinung nach kein Fehlschlag ist. Weil es
der P-5-Gruppe gelungen ist, einen Atomkrieg zu vermeiden; die Menschheit ist
immer noch da. Aber es ist klar, es ist keine Note 1, es ist keine 2, und ich
würde sagen, es ist auch keine 3. Meiner Meinung nach ist es wahrscheinlich
eine 4 minus.
Wenn wir uns umschauen, werden wir zu dem Schluß kommen, daß die Welt
leider noch nicht sicherer ist. Es gibt viele Konflikte im Nahen Osten, in
Nordafrika, in Ostasien, in Lateinamerika. Leider können sich die P-5 nicht
darauf einigen, wie sie mit diesen Problemen umgehen wollen. Das Wettrüsten
geht weiter, mit zunehmender Beschleunigung. Wir sehen den internationalen
Terrorismus. Aber vor allem sehen wir einen sehr deutlichen Verfall des
Systems der internationalen Sicherheit und Rüstungskontrolle, das die
Vereinigten Staaten und die Sowjetunion und abschließend die Russische
Föderation mehr als ein halbes Jahrhundert lang genährt und gepflegt
haben.
Deshalb möchte ich mich in meinem Vortrag auf zwei Themen beschränken. Im
ersten geht es um die Probleme, auf die wir stoßen. Das ist definitiv die
schlechte Nachricht. Aber das zweite Thema befaßt sich auch damit, was unter
den gegenwärtigen Umständen getan werden kann und wie die P-5-Gruppe die
Situation verändern kann.
Zerstörung der Rüstungskontrolle
Lassen Sie mich also mit der ersten Erklärung beginnen. Ich denke, es ist
heute klar, daß der alte Rüstungskontrollmechanismus, der zwischen Moskau und
Washington bestand, fast verschwunden ist. Und wahrscheinlich ist der Schaden,
der diesem Regelwerk zugefügt wurde, schon jetzt nicht mehr zu reparieren. In
der Tat begann dieser ganze Zerfall des Rüstungskontrollregimes vor etwa 20
Jahren, als die Vereinigten Staaten beschlossen, sich aus dem ABM-Vertrag
zurückzuziehen. Dieser Schritt Washingtons wurde in Moskau mit viel Trauer und
Mißtrauen aufgenommen. Aber das System überlebte diesen Schritt, vor allem
deshalb, weil der allgemeine politische Hintergrund zwischen Moskau und
Washington zu diesem Zeitpunkt recht positiv war. Doch 17 Jahre später zogen
sich die Vereinigten Staaten aus einem anderen sehr wichtigen
Rüstungskontrollvertrag zurück, nämlich dem INF-Vertrag. Auch für diese
Entscheidung möchte ich nicht allein den Vereinigten Staaten die Schuld geben.
Ich denke, auch Rußland sollte einen Teil der Verantwortung übernehmen, denn
es hat nicht für die Erhaltung dieses Vertrags gekämpft, wie es wahrscheinlich
hätte kämpfen sollen. Es war sich nicht bewußt, wie heikel die angeblichen
Verletzungen des Vertrags für die Vereinigten Staaten waren.
Aber jetzt kommen wir zur dritten Stufe in dieser Abwärtsspirale der
Zerstörung der Rüstungskontrolle, und das ist natürlich die Zukunft des Neuen
START-Abkommens. Wir alle hoffen, daß das Neue START-Abkommen noch gerettet
werden kann; wir alle hoffen, daß noch Zeit bleibt, dieses Abkommen zu
verlängern. Wir wissen, daß es zu dieser Frage Konsultationen zwischen Rußland
und den Vereinigten Staaten gibt, aber natürlich werden die Chancen immer
geringer. Viele Experten, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in
Rußland, sind überzeugt, daß das Abkommen nicht gerettet werden kann; und
selbst wenn es gerettet ist, wird damit wahrscheinlich kein neues Kapitel in
den Beziehungen zwischen den beiden Ländern beginnen, sondern es wird
wahrscheinlich das alte Kapitel beenden.
Was wird geschehen?
Das ist also das Problem. Was wird geschehen, wenn das traditionelle
Rüstungskontrollmodell verschwindet?
Ich denke, das erste Opfer dieser unglücklichen Entwicklung werden die
Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation
sein, denn Rüstungskontrolle war früher der Eckpfeiler dieser bilateralen
Beziehungen. Genau das war es, was diese Beziehung so besonders und so wichtig
machte. Ohne diesen Eckpfeiler wird die Beziehung meines Erachtens in
vielerlei anderer Hinsicht auseinanderbrechen.
Aber definitiv werden die Vereinigten Staaten und Rußland nicht die
einzigen sein, die unter dem Niedergang der strategischen Rüstungskontrolle
leiden werden. Wir können die bilaterale Dimension der Rüstungskontrolle nicht
von dem multilateralen Schaden trennen. Man kann leicht eine negative
Kettenreaktion vorhersagen, die sehr schwerwiegende Auswirkungen auf die
internationale Stabilität insgesamt haben wird. In diesem Jahr soll die
Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags stattfinden. Sie wurde auf
2021 verschoben, aber selbst jetzt sind wir nicht sicher, ob diese Konferenz
erfolgreich sein wird. Ich denke, wir haben Gründe, dem Ergebnis dieser
Konferenz skeptisch gegenüberzustehen, und vielleicht wird es die letzte
Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags in der Geschichte
sein.
Leider sind wir weder in der nordkoreanischen Nuklearfrage noch bei den
Nuklearproblemen der Islamischen Republik Iran vorangekommen. Es besteht ein
Verbreitungspotential, und es wird immer schwieriger, diese beiden Länder
davon abzuhalten, einen weiteren Vorstoß hin zum Erwerb eines größeren
Atomwaffenarsenals zu unternehmen.
Wenn man sich ein multilaterales Abkommen wie zum Beispiel das umfassende
Atomteststopp-Abkommen ansieht, ist das natürlich auch in Frage gestellt.
Leider haben die Vereinigten Staaten diesen wichtigen Vertrag nie ratifiziert,
aber vorläufig halten sich die Vereinigten Staaten an die Bestimmungen dieses
Vertrags. Wird er für lange Zeit Bestand haben? Das weiß niemand.
Die Auswirkungen werden also gravierend sein, und ich denke, daß dies
definitiv etwas ist, über das wir uns alle Sorgen machen sollten, und wir
sollten versuchen, etwas dagegen zu unternehmen.
Nun, was können wir tun? Viele Leute argumentieren, wir sollten das alte
Modell der bilateralen Rüstungskontrolle zwischen den USA und Rußland durch
ein neues Modell ersetzen, ein multilaterales Rüstungskontrollabkommen, das
China und wahrscheinlich auch andere Atommächte einbeziehen sollte. Ich denke,
daß im allgemeinen nichts gegen diesen Ansatz einzuwenden ist, aber es wird
ein sehr schwieriger Übergang sein. Es wird sein, als würde man vom Autofahren
auf das Fliegen einer Boeing 747 umsteigen; ein sehr schwieriger und sehr
komplizierter Übergang. Vielleicht eine andere Gleichung der internationalen
Stabilität. Es wird viele Jahre dauern, auch wenn der politische Wille
vorhanden ist. Ich glaube daher nicht, daß wir das bilaterale Modell ohne
weiteres durch ein multilaterales Modell ersetzen können.
Darüber hinaus ist es derzeit sehr schwer vorstellbar, zu einem
rechtsverbindlichen Abkommen zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten zu
gelangen. Das Vertrauen ist nicht vorhanden, und ehrlich gesagt kann ich mir
kein Rüstungskontrollabkommen mit Herrn Putin vorstellen, das der US-Kongreß
zu ratifizieren bereit wäre. Vor allem, weil der Kongreß gespalten ist; die
Republikaner und Demokraten haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon,
wie die Vereinigten Staaten bei der Rüstungskontrolle vorgehen sollten.
Was ist zu tun?
Was sollten wir also tun? Lassen Sie mich nur ein paar Ideen nennen, die
meiner Meinung nach uns allen helfen können, den gegenwärtigen negativen Trend
in der internationalen Stabilität zu ändern, und etwas, dem die P-5-Fraktion
eine gewisse Aufmerksamkeit schenken sollte.
Zunächst einmal sollten wir meiner Meinung nach daran denken, daß Frieden
wichtiger ist als Abrüstung. Natürlich würden wir alle den Frieden in einer
nicht-nuklearen Welt vorziehen. Wir alle würden es vorziehen, auf Atomwaffen
zu verzichten. Aber zuallererst sollten wir einen Atomkrieg vermeiden. Und das
bedeutet, daß wir die Kommunikationslinien zwischen den Atommächten verbessern
sollten. Wir sollten Kontakte von Militär zu Militär fördern, die im Moment
ruhen. Wir sollten den Austausch zwischen Experten und Politikern fördern. Wir
sollten mehr rote Linien haben; wir sollten Informationen über nukleare
Haltung und nukleare Doktrinen und nukleare Einsätze austauschen. Wir sollten
die Kampfbereitschaft herabsetzen, um eine unbeabsichtigte Eskalation zu
vermeiden, um nukleare Konflikte zu vermeiden, die das Ergebnis menschlichen
Versagens oder einer technischen Fehleinschätzung oder einer
Fehlinterpretation der Absichten der Gegner sein könnten. Ich denke, das ist
etwas, was ich als weiche Rüstungskontrolle oder Rüstungsmanagement bezeichnen
würde. Es könnte eine Art Sicherheitsgarantie sein, daß wir das Risiko einer
unbeabsichtigten Eskalation und Konfrontation verringern.
Zweitens sollten wir bedenken, daß in dieser neuen Welt die Qualität
wichtiger wird als die Quantität. Bei einem neuen Wettrüsten wird es nicht um
die Anzahl der Sprengköpfe gehen oder um die Anzahl der Trägerraketen. Es wird
um technologische Durchbrüche gehen. Es wird um Weltraumwaffen gehen, um
Cyberraum und künstliche Intelligenz. Es wird um Sofortschlagkapazitäten
gehen. Es wird um autonome tödliche Systeme gehen. Wir müssen nicht nur die
Anzahl kontrollieren; wir müssen den technologischen Fortschritt im
militärischen Bereich kontrollieren. Niemand weiß wirklich, wie das zu tun
ist; niemand hat irgendeine ideale Lösung für das Problem. Aber das bedeutet
nicht, daß wir auf unseren Händen sitzen und darauf warten sollten, daß ein
anderer es für uns tut. In der Tat glaube ich, daß hier nicht nur Regierungen,
sondern auch Experten und der Privatsektor eine wichtige Rolle spielen
können.
Darüber hinaus ist es meiner Meinung nach wichtig, sich vor Augen zu
halten, daß die wirkliche Herausforderung in der Zukunft nicht so sehr von
staatlichen, sondern eher von nichtstaatlichen Akteuren kommen könnte. Man
kann den irakischen Staat abschrecken; man kann den Iran oder Nordkorea
abschrecken. Aber man kann eine terroristische Gruppe nicht abschrecken; man
kann nicht verantwortungslose nichtstaatliche Akteure abschrecken, die sich
für ihre Sache einsetzen wollen. Das bedeutet, daß wir bei der Verhinderung
von Nuklearterrorismus viel mehr zusammenarbeiten müssen, als wir es derzeit
tun. Dies ist eine zunehmende Gefahr, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht richtig
angegangen wird.
Hier möchte ich zum Schluß kommen. Lassen Sie mich sagen, daß meiner
bescheidenen Meinung nach die Regierungen so schlecht und so unverantwortlich
sein werden, wie es die Öffentlichkeit zuläßt. Rüstungskontrolle steht heute
nicht ganz oben auf der Tagesordnung der Staatsführer, und sie wird nicht auf
diese Tagesordnungen zurückkehren, wenn nicht ständig Druck von Gruppen der
Zivilgesellschaft, von engagierten Medien, von Denkfabriken und von führenden
Politikern ausgeübt wird. Es ist wichtig, die Rüstungskontrolle wieder ganz
oben auf die politische Tagesordnung zu setzen. Im Moment machen sich die
Menschen mehr Gedanken darüber, wie die Zahl der Plastiktüten begrenzt werden
kann, als darüber, wie die Zahl der Atomsprengköpfe begrenzt werden kann. Ich
möchte nicht herablassend klingen. Natürlich müssen wir die Verbreitung von
Plastiktüten begrenzen, aber wir sollten auch die nukleare Gefahr nicht
vergessen. Sie besteht nach wie vor, und die Situation wird immer schlimmer,
sie wird nicht besser. Ich danke Ihnen.
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